Karl von Holtei
Ein Mord in Riga / 1. Kapitel
Karl von Holtei

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Fünfzehntes Kapitel

Der Polizeimeister kam zum täglichen Rapport beim Generalgouverneur. Der große Audienzsaal im Schlosse, durch welchen man geht, um nach dem eigentlichen Empfangszimmer des in den Ostseeprovinzen Gewaltigen zu gelangen, enthielt verschiedene Gruppen von Harrenden; meistenteils lettische Landleute, aus der Nähe und Ferne, die irgendein Gesuch, eine Bitte anzubringen hofften.

Nur eine bejahrte Frau, welcher man auf den ersten Blick ansah, daß sie nicht aus diesen Provinzen stammte, daß sie eine eigentliche Russin sei, stand allein, gebeugt, kummervoll, ermüdet von langer Wanderung; in ihrer Hand hielt sie ein kleines Briefchen.

Der gutmütige Polizeimeister wollte eben auf sie zuschreiten, um sie zu befragen, worin ihr Anliegen bestehe, als ein jüngerer Adjutant Seiner Exzellenz aus den innern Gemächern hervorkam, augenscheinlich beauftragt, die Anwesenden zu überschauen und dem vielbeschäftigten Generalgouverneur unnütze Gespräche zu ersparen.

Kaum bemerkte dieser in dem weiten Raume den Polizeimeister, als er sich ihm eilig näherte: »Nun, Freund, wie steht's? Noch nicht auf den Mammon gestoßen?«

»Nein, Herr von Kotzebue«, erwiderte jener; »Iwan hat wohl einige Andeutungen gegeben, an welcher Stelle der Raub verscharrt sei. Wir haben den bezeichneten Platz auch gefunden; ich selbst war dabei zugegen, als alles umwühlt wurde. Aber nichts zu finden. Entweder andere, unberechtigte Finder sind uns zuvorgekommen. Und dies Unglück ist am Ende nicht so groß, denn Erben sind nicht da, und ob die Krone etliche zwanzigtausend Rubel mehr hat, darauf kommt nichts an. Oder, wovon mein Pristaff allerdings nichts hören will: Iwan hat einen Helfer bei der Tat gehabt. Oder endlich, der Schurke meint, über kurz oder lang aus Sibirien zurückzukommen, und hat uns nicht die ganze Wahrheit gesagt. Gleichviel! Die Hauptsache ist, daß seine Exzellenz dem Obergerichte Eile anempfehle und die Sache bald zum Spruche bringe. Wir sind der öffentlichen Meinung die Exekution schuldig. Aber was will diese Frau? Sie ist mir schon bei meinem Eintritt auffällig gewesen.«

In dem Betragen der Fremden war eine lebhafte Veränderung vorgegangen, seitdem der Name Iwan zu ihren Ohren gedrungen. Sie wiederholte denselben einige Male und setzte hinzu: »Mein Sohn, mein armer Sohn!«

Der Polizeimeister und der Adjutant winkten sie heran und hießen sie sprechen.

Sie kam aus der Gegend von Narva. Leibeigene des Herrn Kruschoff, hatte sie durch diesen ihren freundlichen Gebieter Nachricht erhalten von den amtlichen Anfragen, die wegen ihres einzigen Sohnes Iwan ergingen. Iwan sollte ein Mörder sein? Das konnte sie nicht glauben. Hier herrschte ein grausamer Irrtum. Aber die Mutter würde den Sohn retten, wenn sie ihn nur erreichen könne. Kruschoff hatte ihr gestattet, die Reise zu machen. Sie war matt und schwach den langen Weg gegangen, Bettlerin, Pilgerin! Da war sie nun. Den Generalgouverneur wollte sie sehen! Dem wollte sie's vortragen, daß ihr Sohn unschuldig sei.

»Der wird mir's glauben«, sagte sie, »seine Mutter hat mir's auch geglaubt.« Dabei hielt sie den Herren das Briefchen hin.

Der Adjutant wollte es ergreifen.

Rasch zog sie es wieder zurück. »In seine eigenen Hände muß ich es legen; es ist von seiner Mutter geschrieben.«

»Lebt des Generalgouverneurs Mutter noch?« fragte der Polizeimeister.

»Hochbejahrt«, antwortete der Adjutant, »wohnt die edle Dame in Reval.«

»Ja, in Reval«, rief Iwans Mutter; »über Reval bin ich gegangen; zu ihren Füßen hab ich gelegen; dies hat sie geschrieben für ihren Sohn; er wird mich meinen Sohn sehen lassen!«

»Frau«, erwiderte der Adjutant, »der Generalgouverneur kann dich jetzt in diesem Augenblicke nicht vorlassen. Er ist dringend mit dem Zivilgouverneur beschäftigt, und sogar dieser Herr, siehst du, unser Polizeimeister, der im Dienste hier ist, muß warten. Alle die übrigen wird er vielleicht erst morgen sprechen können. Was willst du die Zeit versäumen, deinen Sohn zu sehen? Gib mir den Brief einstweilen, ich trage ihn hinein, gebe ihn in Seiner Exzellenz Hand und bringe dir wahrscheinlich die Erlaubnis mit heraus, daß du deinen Iwan besuchen darfst.«

Der Polizeimeister bestätigte diese Zusagen, und die arme Mutter entschloß sich. Der Adjutant ging Augenblicks, das gegebene Versprechen zu erfüllen.

»Wenn du die Erlaubnis empfängst, Mütterchen, deinen Sohn unter vier Augen zu sprechen«, fuhr der Polizeimeister fort, »so rede ihm nur ja recht ins Gewissen und mache, daß er uns aufrichtig sage, was mit dem geraubten Gelde geschah. Seine Geständnisse waren bis jetzt noch unvollkommen!«

»Oh, mir soll er die Wahrheit sagen«, rief das Weib; »mir gewiß, darauf verlaßt Euch, Herr!«

»Und du wirst sie mir dann nicht vorenthalten, hoff ich?«

»So wahr ein Gott lebt und wir durch seinen Sohn Erlösung hoffen; was mein Sohn mir eingesteht, das gesteht ich Euch! Wenn er den Mord begangen, wird er mir es entdecken, und er wird mir auch nicht verschweigen, wo der Raub verborgen liegt. Aber findet ihn die Mutter schuldlos, dann, ihr Herren, müßt ihr auch der Mutter glauben und ihn freilassen! Versprichst du mir das mit deinem Eide?«

»Wo denkst du hin, Weib?« sagte der Polizeimeister verlegen; »davon ist nicht mehr die Rede. Er hat ja den Mord schon bekannt!«

»Wem, Herr? Denen, die ihn prügelten, die ihn quälten? Das ist nicht gültig vor Gott. Der Mutter muß er's bekennen, wenn sie ihn liebkoset; der Mutter, die ihn unterm Herzen trug. Eh er das nicht getan, halt ich ihn für keinen Mörder.«

»Er wird es tun, Frau. Liebkose ihn immer, desto leichter geht ihm das Herz auf. Aber sieh, da kommt der Hauptmann zurück.«

Der Adjutant brachte, wie er's vorhergesagt, die Bewilligung des Generalgouverneurs, daß Iwans Mutter eine Stunde im Kerker allein mit ihm zubringen dürfe, und ersuchte den Polizeimeister, dafür Sorge zu tragen, daß dieser Vergünstigung nichts in den Weg gestellt werde. Die erbetene Audienz wurde auf morgen vertagt, und alle Anwesenden mußten den großen Saal verlassen.

Der Generalgouverneur Baron von P. hatte sich soeben mit seiner noch immer schönen holdseligen Gemahlin und den liebenswürdigen Töchtern zur Mittagstafel gesetzt, die heute im eigentlichsten Sinne Familientisch war. Kein Gast, nicht einmal einer von den Adjutanten war zugegen. Der Brief seiner uralten Mutter, den ihm Iwans Mutter aus Reval mitgebracht, lag noch neben dem Gedecke der Dame vom Hause, die ihn kurz, ehe sie zum Speisen gingen, durchgelesen. Natürlich galt ihr Gespräch der würdigen Greisin, ihrer menschenfreundlichen Gesinnung, ihrer geistigen Klarheit, ihrer festen Handschrift und vorzüglich dem Glücke, daß ein Mann mit grauem Haar und weißem Bart noch die Begünstigung genieße, eine hochverehrte Mutter am Leben und bei dauernder Gesundheit zu wissen. »So sehr ich mich über jeden ihrer Briefe freue«, sagte der Baron, »diesmal würde ich es ihr Dank wissen, wenn sie nicht geschrieben hätte. Ich muß nun das bedauernswürdig Weib morgen empfangen, die verzweifelnde Mutter, und was soll ich tun, sie zu trösten? Ich kann des Mörders Schicksal nicht mildern, und könnte ich's, doch wär es wider mein Gewissen. Für solchen Frevel, der kein Motiv hat als niedrige Habsucht, tierische Grausamkeit, was bleibt da übrig? Und wohin käm es zuletzt auf Erden, wollte man hier dem Rechte nicht seinen Lauf lassen? Gleichwohl wird sie weinen und bitten... Mutter bleibt Mutter... es ist traurig, das zu hören, und die meinige hätte mir den Jammer wohl ersparen können.«

»Was gibt's?« fragte plötzlich die Baronin den Tafeldecker, den sie mit den Lakaien und diese wieder durch die offene Tür mit einer der im großen Saale wachthabenden und eingetretenen Ordonnanzen flüstern sah.

Keiner wollte mit der Sprache herausrücken.

»Nun, werdet ihr antworten?« drohte der Herr.

Jetzt drückten sich die Livreediener beiseite und ließen den Unteroffizier vortreten.

»Sprich«, sagte der General.

»Habe zu melden, daß ein Weib draußen steht und will sich nicht abweisen lassen. Kommt aus dem Gefängnisse und meint, es ist notwendig. Habe gesagt, Erlaucht sitzen bei Tafel, essen und dürfen nicht gestört werden, außer bei Feuerschaden. Das Weib will nicht Vernunft annehmen. ›Ich habe seit drei Tagen nichts gegessen‹, schreit sie; ›mag er essen, aber anhören muß er mich! Das ist seine Pflicht!‹«

»Die Frau hat recht; und wenn es um Mitternacht wäre. Dafür bezahlt mich der KaiserDiese Worte hat der Verfasser buchstäblich aus dem Munde des damaligen Generalgouverneurs der Ostseeprovinzen vernommen. . Laß sie kommen, hier herein, marsch!«

Ohne Verlegenheit, festen Trittes, mit hochaufgerichtetem Haupte, ja stolz und ihrer Sache gewiß gehorchte die Leibeigene aus der Umgegend von Narva dem ihr überbrachten Befehle. Sie beugte sich wohl vor den am Tische Sitzenden, jedem der Reihe nach das Kleid zu küssen; als aber diese Förmlichkeit abgetan, erhob sie sich wieder, stellte sich vor den Machthaber und begann: »Herr, ich bin Iwans Mutter. Deine Mutter hat dir meinetwegen geschrieben, du hast ihr Brieflein empfangen, dort seh ich es liegen. Nun höre mich an. Mein Sohn ist unschuldig. Er hat die Tat nicht begangen! Gib ihn los, daß ich ihn mit mir nehme, in unser Dorf. Ich habe nichts als ihn. Mein Mann, Iwans Vater, ist im Gefängnis gestorben, wo sie die Irrgläubigen eingesperrt hielten; Gott erbarme sich seiner Seele. Ich bin rechtgläubig. Mein Sohn ist es auch. Gib ihn mir heraus, Herr, auf daß Gottes Wille geschehe; denn er ist unschuldig. Ich weiß es.«

Darauf war der General nicht gefaßt. Flehende Bitten hatte er erwartet, nicht diese entschiedene Zuversicht. »Weib«, rief er aus, »du redest irre; dein Sohn hat sein Verbrechen freiwillig eingestanden.«

»Freiwillig? Herr, du redest irre; du weißt nicht, was du sprichst. Du sitzest da und löschest deinen Durst mit kühlem Weine. Wüßtest du, wie dem Gefangenen ist, der verschmachten will, den sie wochen- und wochenlang ausgefragt haben, gescholten, geschlagen, gemartert, den sie verdursten lassen, daß er schwach wird und matt und die Besinnung verliert. Und nun kommen sie und zeigen ihm frisches Wasser; bekennen soll er, sonst darf er nicht trinken. Da sagt er: ›Ich will alles bekennen, was ihr verlangt, nur gebt her.‹ Und wenn er getrunken, ruft der Pope: ›Es war geweihtes Osterwasser! Bekenne, sonst mußt du sterben.‹ Da denkt der Elende in seinem schwachen Kopfe: ›Nein, sterben will ich nicht, ich bin noch so jung. Lieber bekenn ich und lasse mich knuten und nach Sibirien bringen; behalt ich doch vielleicht mein Leben.‹ Weiter ist's nichts, Herr. Iwan ist unschuldig wie du, wie deine Frau, wie deine Mädchen hier, die weißen Rosen. Unschuldig ist er, denn er hat mir es zugeschworen; weiß nichts von dem Morde; ist nur entflohen aus Furcht. Ich glaub ihm Herr! Und du mußt mir glauben und ihn freigeben.«

»O du Ärmste!« seufzte die Baronin. Ihre Töchter weinten.

»Nicht wahr, ihr Engel, er muß ihn loslassen? Helft mir bitten!«

»Frau«, sprach der General, »mach uns das Geschrei nicht. Es gibt keine Hilfe. Sein Geständnis liegt vor, schwarz auf weiß; alle Anzeichen und Verdachtsgründe lasten auf ihm, auf ihm allein; auf keinem andern lebendigen Menschen. Verurteilt wird er, darauf bereite dich. Begnadigen darf ich nicht; ich bin nicht der Kaiser.«

»Gut, so geschehe, wie du sagt, Mann mit dem silbergrauen Barte. Aber deiner alten Mutter werd ich's klagen, daß du mich fortgewiesen hast. Ja, deiner Mutter will ich's klagen, daß ihr Sohn meinen Sohn wird stäupen lassen bis auf den Tod, daß er ihm wird lassen sein zartes weißes Fleisch in langen blutigen Streifen vom Rücken hauen! Meinem Iwan! Meinem schuldlosen Jungen! Meinem einzigen Sohne!«

Es wurde den Dienern ein Wink gegeben. Sie führten das weinende Weib hinaus.


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