Karl von Holtei
Ein Mord in Riga / 1. Kapitel
Karl von Holtei

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Viertes Kapitel

Lieschen, die dicke Köchin, hatte richtig vorhergesagt: der erste Sonntag nach ihrer Heimkehr versammelte bei Singwald eine große Anzahl Tischgäste; größer noch, als die Frau vom Hause erwarten konnte, weil plötzlich eingetretenes Regenwetter mehrere Herren ihr zuführte, die an einem schönen Tage gewiß ins Grüne geritten wären. Aber da bemerkte man keine Unruhe, keine Verlegenheit, kein eiliges Hin- und Herschießen der Leute und überhaupt nichts dergleichen, was andern Ortes bei ähnlichen Fällen herkömmlich ist. Mit den Augen zu winken begnügte sich Madame Singwald, und es lag so viel bestimmte Klarheit in diesen Winken, daß auch Simeon nicht einen Augenblick über die Bedeutung jedes einzelnen im Zweifel blieb. Nur als der zwanzigste Mitesser angelangt war und er dem lenksamen großen Speisetische eine abermalige Ausdehnung zumutete, dachte er bei sich: ein bißchen viel zu servieren wird's doch geben für einen einzigen, und ein Hilfsdiener wäre eine schöne Sache. Kaum aber hatte er's ausgedacht, als ein schwarzgekleideter, sehr anständiger Mensch erschien, sich ihm als Lohnbedienter aus der »Muße« zu erkennen gab, sogleich Hand anlegen half und sich in allem zu Hause zeigte. Wer hatte ihn gerufen? Wahrscheinlich auch nur ein verständlicher Augenwink der umsichtigen Hausfrau.

Die Mahlzeit ging ordentlich, ohne Versehen von Simeons Seite, ihren gehörigen rigaischen Gang, vom »Schälchen mit Imbiß« vor der Suppe bis zu den Torten, zu welchen eine Auswahl süßer Kompotte und eingelegter Früchte gegeben wird. Da außer der Dame vom Hause keine andere anwesend war, so hatte diese den Ehrenplatz. Sonst ist es in den Ostseeprovinzen (in Riga entschieden) gebräuchlich, daß die Herren eine Seite, die Damen die entgegengesetzte der Tafel einnehmen und daß sie, anstatt wie in Deutschland »bunte Reihen« zu bilden, sich in zwei Linien gesondert gegenübersitzen. Dem Fremden erscheint das im Anfang unpassend und ebenso kleinstädtisch-zimperlich als ungewöhnlich. Bei näherer Beobachtung zeigen sich große Vorteile für die Geselligkeit. Während bei uns Nachbar und Nachbarin für die Dauer einer langen Mittagstafel galeerensklavenmäßig aneinandergeschmiedet sind und ihre angenehme Konversation sie entweder dem Allgemeinen entzieht oder ihr Nichtzusammenpassen ihnen einen langweiligen Tag bereitet, sind hier beide Reihen gezwungen, hinüber und herüber laut zu verkehren, wodurch ein eigenes Leben entsteht und isolierte Plaudereien verhindert, ja unmöglich werden.

Am Singwaldschen Sonntagstisch fand heute, wie immer, der fröhlichste Austausch von Gedanken, Ansichten, Meinungen und Erfahrungen statt. Nicht allein merkantilisches Übergewicht wollte sich geltend machen. Auch Wissenschaft, Literatur, Kunst und Leben wurden ihrer Rechte teilhaftig. Gelehrte, Ärzte, Prediger, Beamte vertraten die Welt der Ideen; umsichtige, vielerfahrene, weitgereiste Kaufherren zeigten sich ebenso empfänglich für die musikalischen Eröffnungen des Musikdirektors Heinrich Dorn als einige Stabsoffiziere, unter ihnen ein Sohn Kotzebues, mit Freuden vernahmen, daß Ratsherr Brederlo ein neues, kostbares Original für seine Gemäldesammlung erworben habe. Der Advokat Dr. Bienemann versicherte mit Stentorstimme, man habe voll entbehrender Betrübnis dieses Gastliche Haus vier Monate hindurch geschlossen erblickt, und ein von ihm vorgeschlagener Toast auf glückliche Wiedereröffnung wurde mit Jubel aufgenommen.

Wäre auch nicht der liebenswürdige Engländer Master Hay zugegen gewesen, die Gesellschaft würde dennoch, als das Dessert abgeräumt war und Madame Singwald sich zurückgezogen hatte, bei einem Glase Portweins sitzen geblieben sein. Diesen Brauch hat Rigas Kolonie von ihren britischen Mitbrüdern sich gern einimpfen lassen; in dieser Beziehung, auch im gegenseitigem Zutrinken, ist Riga Klein-London – nur, vermuten wir, trinkt man bessere Weine als in Groß-London, und der »Claret« ist nicht so heftig mit Sprit versetzt als dort. Was den Portwein betrifft, dessen man in Riga froh wird, so erhebt sich die Vortrefflichkeit desselben über jede Beschreibung. Bei einem solchen saßen nun vierundzwanzig wohlgesinnte Männer verschiedenen Alters, Berufes und Standes, einig in geistig-geselliger Bildung, in edler Gesinnung, in aufrichtiger Anhänglichkeit an das Riesenreich, dem ihre Heimat einverleibt ist, in Anerkennung der irdischen Vorteile, die ihrem Verkehr daraus erwachsen, seelenvergnügt beisammen. Solche Stimmung begünstigt natürlich auch den Scherz, und manche Neckerei traf diesen und jenen, ohne zu verwunden, wenn sie auch ein wenig die Haut ritzte. Da ging es denn auch gegen den harmlosen Hausherrn, der seinen alten, pedantischen, vieljährigen Johann nur deshalb auf die Badereise mitgenommen habe, um ihn draußen zu begraben und an seine Stelle einen flotten, geschniegelten und geleckten Modediener mitzubringen, der sich in diesem ehrwürdigen, reichsstädtischen Hauswesen ausnehme, wie wenn er nicht hinein gehörte.

»Gut, daß meine Frau nicht mehr zugegen ist«, sagte Singwald, »für die wäre das neuer Stoff. Sie ist eine entschiedene Gegnerin meines armen Simeon; die Feindschaft wider ihn erstreckt sich sogar bis auf ihre Zofe, die sich trotz vorgerückter Jahre noch immer Dorchen schelten läßt und vielleicht minder absprechend wäre, wenn er ihr nicht Lieschen vorzöge. Meine Frau geht so weit, zu behaupten, er heiße eigentlich Simon – so steht es im Passe – und nenne sich nur deshalb Simeon, weil in unserem Kalender der Name Simeon fünfmal vorkomme, Simon jedoch nur zwei Namenstage feiern könne.«

Diese Ansicht fand rauschenden Beifall, aber auch vielen Widerspruch. Die Fröhlichkeit steigerte sich, als der in Frage Stehende, der samt dem Lohndiener längst das Speisezimmer verlassen hatte, herbeigerufen wurde, in eigener Person einen Kalender herbeizuholen, aus welchem sich denn ergab, daß Simon wirklich nur auf 10. April und 1. September falle, Simeon jedoch am 3. Februar, 17. März, 27. April, 24. Mai und 21. Juli mit großen Lettern verzeichnet stehe.

»Werden Sie das Fest fünfmal im Jahre begehen oder siebenmal?« fragte Konsul S. in der ihm eigentümlich scharfen Weise.

»Neckt mich, wie ihr wollt«, erwiderte Singwald, nachdem Simon oder Simeon sich wieder entfernt hatte, »solang ich lebe, bin ich noch nicht so gut bedient gewesen, und ich fühle mich dem General Polliwoy, der mir den Burschen in Teplitz rekommandierte, zu wahrem Danke verpflichtet. Er ist eigentlich ein geborener Moskauer, von deutschen Eltern. Nach dem Brande haben sich die Seinigen mit ihm und andern Kindern nach Petersburg gezogen, und da ist er denn durch viele Hände gegangen und von klein auf gleichsam zum Diener herangebildet worden.«

»Eine gute Schule«, sagte der Konsul, »aber doch gefährlich. Es mag ein gewandter Kerl sein, das zeigt sich, doch vertrauen könnt ich ihm nicht; Es liegt etwas Schlimmes in seinen Zügen.«

»Sie sind immer zu streng, Freund S.«, erwiderte Singwald. »In dem ehrlichen Simeon steckt kein Falsch. Ein bißchen luftig ist er noch, er ist eben noch jung. In unserer Jugend waren wir wohl auch nicht sehr gesetzt, mein gütiger Konsul. Oder waren Sie?«

Es wollten sich gerade einige Stimmen erheben, um für den Gefragten, und zwar im ganz entgegengesetzten Sinne, zu antworten, als Simeon hereinplatzte und lebhaft ausrief: »Der Herr Professor!«

»Schon? Das ist ja herrlich«, entgegnete Singwald; »nur herein und tausendmal willkommen! Meine Herren, Professor Müller, der als Lehrer der Naturwissenschaften an unsere Hochschule nach ›Dörpt‹ berufen ist, dessen Bekanntschaft wir in Dresden machten, der uns versprach, auf der Durchreise einige Wochen bei uns zuzubringen, und der nun sein Versprechen auf eine so liebenswürdige Weise erfüllt, daß er mir Gelegenheit gönnt, ihn meinen besten Freunden in pleno vorzustellen.«

»Simeon, sage meiner Frau, welche Freude unserm Hause widerfuhr, und wenn es ihr gefällig ist, kommen wir, den Tee bei ihr zu trinken.«


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