Karl von Holtei
Ein Mord in Riga / 1. Kapitel
Karl von Holtei

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Sechstes Kapitel

Mit diesem letzten heftigen Ungewitter hatte der Sommer Abschied genommen. Einen Herbst, nach unseren deutschen Begriffen, mit seinen goldenen Tagen und schwebenden »Altweibersommern« und bunten Blättern und schwellenden Früchten kennt man dort kaum. Als Professor Müller nach »Dörpt« abreiste, raschelte schon dürres Laub über die Landstraße, und der Winter stand vor den Toren. Doch lange blieb er nicht draußen, er stellte sich beizeiten ein. Und Rigas Hausfrauen empfingen den alten wohlbekannten Gast gut gerüstet, ausgestattet mit allem, was ihn zähmt, unschädlich macht; ja, was ihm Reize abgewinnt, die er eben nur im Norden entfaltet, wo man, auf sein längeres Verweilen eingerichtet, ihm entgegenruft: »Komme nur! Schüttle nur deine Schneemassen über uns! Je mehr, desto besser! Baue nur deine Eisblöcke auf; je fester, desto schöner: sie werden uns ebensoviel Brücken. Schnaube nur, drohe nur, wir sind auch da, und wir wollen schon miteinander fertig werden!«

Dies dachte auch Madame Singwald. Ihre reichen Vorräte waren in bester Ordnung, die großen Keller voll des schönsten, gesundesten Buchenholzes, die kleinen Keller bargen köstliche Weine, des Herrn Oberältesten Geschäfte gingen gut, Friede im Lande, Friede im Hause, Freundschaft und angenehmer Umgang die Fülle – und sogar an Simeon hatte sie sich nach und nach gewöhnt, war ihm wenigstens nicht mehr feindselig gesinnt, lobte seine Aufmerksamkeit für Singwald und ermahnte Dorchen, auch von ihrer Abneigung wider den jungen Menschen zu lassen. Sie hatte nichts dagegen, daß seine Muhme, wenn sie von Bolderaa nach der Stadt kam, ihn bisweilen besuchte, und erlaubte gerne, daß Lieschen die Ermüdete mit mancherlei Überfluß der stets gefüllten Küche beschenkte. Dorchen behauptete zwar, die bolderaasche Muhme habe auch ein sehr verkniffenes Gesicht und es wäre ihr ebensowenig zu trauen wie dem Simeon; doch Lieschen wurde dadurch nicht angefochten, sondern murmelte nur: »Waih, allen beiden kann er nicht Schönheiten sagen. Eine von uns zweien muß zu kurz kommen, und ich bin doch die Jüngere.«

Ihr gutes und mitleidiges Herz begnügte sich jedoch nicht mit dem Schutze, den sie dem Simeon und dessen Muhme angedeihen ließ. Sie dehnte ihre Teilnahme auch auf den hübschen, langen Iwan aus, den Gärtnerburschen, der immer noch kein Unterkommen gefunden und dem es jetzt beim Herannahen des Winters doppelt erbärmlich ging. Der arme Junge wäre so gern in einem Stalle bei Pferden beschäftigt gewesen. Er konnte gar nicht genugsam schildern, wie sehr ihm diese Tiere ans Herz gewachsen waren und daß er gern leben wolle wie ein Hund, wenn er nur mit Pferden leben könne. Das vertraute sie dem alten Isaak, vielleicht in der Hoffnung, dieser werde einen Gehilfen wünschen und sich beim Herrn die Vergünstigung erbitten, Iwan dazu zu machen. Doch davon wollte Isaak nichts hören. Ihn kränkte der Argwohn, als sei er schon zu alt, um seinen Beruf allein zu erfüllen. Gleichwohl gefiel auch ihm der schlanke Iwan, und als dieser ihm gar des unglücklichen Vaters Leidensgeschichte erzählt und ihm die heimlich gehegte Hoffnung anvertraut hatte: der Geschäftsführer seines Gebieters in Narwa werde vielleicht im Wahne, der Sohn sei mit dem Vater fortgeschleppt, ganz vergessen, fernere Ansprüche geltend zu machen, wodurch dann die Leibeigenschaft, die in Livland ohnedies nicht herrsche, nach und nach erlöschen könne... da setzte sich Isaak in den Kopf, den armen Iwan unterzubringen. Wenn der eingeborene Russe einmal einen Vorsatz gefaßt hat, so wendet er auch gewiß alle ihm eigentümliche Schlauheit, verbunden mit aller Ausdauer nordischer Zähigkeit, an die Durchführung desselben. Isaak wäre Iwans leiblicher Vater gewesen und hätte nicht unermüdlicher sein können, für diesen Zweck zu forschen, sich zu bemühen. Es währte denn auch nicht lange, da trat er pfiffig lächelnd in die Küche, wo gerade Simeon seine Muhme durch Lieschen bewirten ließ und Iwan der Abgänge des Mahles froh wurde, um letzterem anzuzeigen, daß er ihn beim Teehändler Muschkin untergebracht habe als Diener, Kutscher, Ladenbursche, Hausknecht, Koch, alles auf einmal.

Zum Überlegen war keine Zeit, denn Muschkin hatte seinen versoffenen Schlingel von Aufwärter fortgejagt, er brauchte sogleich den Ersatzmann. Lieschen gab ihren Segen, Simeon wünschte Glück, Iwan küßte voll Dankbarkeit Isaaks Ärmel, und fort ging es, als ob er flöge.

Simeons Muhme ließ sich die Verhältnisse bei Muschkin ausführlich schildern, bezeigte der Erwähnung seines Reichtums große Aufmerksamkeit und begleitete die Beschreibung des vereinsamten Daseins, welches dieser alte Sonderling führte, mit so nachdenklichem Kopfnicken, daß Lieschen auf die Idee geriet, jene beabsichtigte einen Versuch, ihn zu einer Heirat zu bereden, die allerdings für eine kümmerlich lebende Witwe gar nicht übel gewesen wäre. Dieser Gedanke erregte Simeons höchste Bewunderung. Aber seine Verwandte wollte nicht darauf eingehen; erstens sei sie doch schon zu alt zum Heiraten, wenn auch sonst noch »ziemlich fix«; und zweitens wäre die Religion ein Hindernis, da sie um keinen Preis zur griechischen Kirche übertreten werde.

Der letztere Grund schien Lieschen vollkommen triftig. Simeon zuckte dazu verächtlich mit Achseln, doch wohlverstanden hinter ihrem Rücken.


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