Karl von Holtei
Ein Mord in Riga / 1. Kapitel
Karl von Holtei

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Elftes Kapitel

Es mag gegen Ende des Monats Februar, folglich bei uns zulande schon März gewesen sein, wo blaue Veilchen blühten, was sie jenseits des Njemen und der Düna freilich bleibenließen, als eines Morgens die Mitbewohnerinnen des alten finsteren Gebäudes, worin Muschkin hauste, sehr erstaunten, des Mannes Pferd fortdauernd ängstlich wiehern zu hören, ohne doch den wohlbekannten Ruf. »Iwan, ich bin lebendig!« zu vernehmen. Auch Iwan, der heitere Sänger, der jeden Tag mit seiner sanften Stimme zu begrüßen pflegte, ließ sich heute nicht bewundern.

»Sie werden sich gestern abends alle beide einen tüchtigen Rausch angetrunken haben, und deshalb können sie noch nicht auf ihren Beinen stehen; Herr wie Knecht!« Dies war die Erklärung, welche den meisten Beifall fand und wobei sich das weibliche Beobachtungskorps fürs erste beruhigte. Als jedoch um acht Uhr von einer zum Bäcker entsendeten Magd die unerhörte Kunde mitgebracht wurde: Herrn Muschkins Ladentür sei noch nicht geöffnet und ein Mensch, der Kaviar kaufen wolle, um ihn mit einer Gelegenheit, die sogleich aufbreche, aufs Land zu senden, poche sich die Fingerknöchel wund, aber vergebens...! da stieg mit dem nebelgrauen, kalten Morgenhauch eine Art schauerlicher Ahnung in den Kaffeeschwestern empor, und sie beschlossen, sich fragend und forschend an Iwan zu wenden. Ihrer zwei gingen, nach ängstlichem Zögern, endlich zum Stalle hinab: ihre Neugier zeigte sich stärker als das Grausen vor irgendeiner unheimlichen Entdeckung.

Die Stalltüre war fest verschlossen. Sie rüttelten daran, sie riefen Iwans Namen, sie pochten erst mit den zusammengeballten Händen, dann mit großen Holzstücken heftig dagegen... es ward ihnen keine Antwort zuteil als das klagende Wiehern des Pferdes, welches fast wie eines Menschen Jammer klang. Jetzt wendeten sie sich dem kleinen vergitterten Fenster zu, wodurch Muschkins Schlafgemach sein weniges Licht empfing. Da entdeckten sie sogleich, wie das Eisengitter nur angelehnt auf der Mauer stand, wie alle dicken Stäbe von den Backsteinen abgelöst und morsch durchgefressen waren. In den dahinter befindlichen Fensterflügeln waren die Glasscheiben ausgebrochen. Drin im Zimmer herrschte Finsternis, des Tages Schein genügte noch nicht, sie zu erhellen und klare Ansicht zu gewähren. Nur die feurigen Augen des großen Katers funkelten, zwei kleinen brennenden Kugeln gleich, aus einem ganz dunkeln Winkel.

»Hier ist Mord und Totschlag geschehen! Ein Raubmord ist vorgefallen!« schrien beide Weiber zugleich, und augenblicklich entflohen sie mit allen Zeichen des Entsetzens, um sich zum Pristaff des Quartiers zu begeben und Anzeige zu machen.

Der uns bereits bekannte Polizeibeamte Schloß fand sich ohne Aufschub an Ort und Stelle ein. Unterwegs schon hatte er sich genaueren Bericht über Muschkins Häuslichkeit, dessen Lebensweise und Umgebungen abstatten lassen, folglich trat er hinlänglich vorbereitet auf den Schauplatz der Tat und übersah mit praktischer Zuversicht den Zusammenhang.

Des Fenstergitters zwei Finger starke Eisenstäbe waren nicht allein durchgefeilt, sondern offenbar von einer scharf ätzenden Flüssigkeit zernagt, die, zu wiederholten Malen aufgestrichen, wochenlang gewirkt haben mußte. Er nahm die schwere Masse von der Fensterbrüstung herab und schwang sich rüstig hinein. Seine Soldaten und die zitternden Weiber drängten sich nah heran, um zu erfahren, wie es da drinnen aussähe. Noch konnten sie nicht viel erblicken. Das erste aber, was sie hörten, war ein lauter Schrei des Pristaff, dem der Kater auf den Leib sprang, wo sich das Tier so fest in seine Uniform einkrallte und biß, daß es nicht abzuschütteln war. Schloß ließ es ruhig hängen, behielt kaltes Blut genug, sein Feuerzeug aus der Tasche zu nehmen, Licht zu machen und das Wachskerzchen in seiner kleinen Laterne anzuzünden. Nun gewannen die Zuschauer am Fenster freie Übersicht. Da lag der reiche Teehändler, im Blute schwimmend, mit zerschlagenem Hirnschädel, von unzähligen Wunden im Gesichte und an der Brust entstellt, auf dem Lager, ohne Zeichen des Lebens. »Waih«, jammerten die Weiber, »da konnte er freilich nicht in den Stall rufen: ›Iwan, ich bin lebendig!‹«

Nun erst, als diese traurige Überzeugung gewonnen war, dachte der von seinem Amtseifer Beseelte daran, sich des wütenden Katers wieder zu entledigen. Die Polizeisoldaten wollten das Tier mit ihren Säbeln herunterhauen. Doch das gab Schloß nicht zu. »Erstens«, sagte er, »wär es eine Grausamkeit, die es für seine treue Anhänglichkeit an den Ermordeten nicht verdient; und zweitens kann es uns vielleicht zur Entdeckung helfen. Wer weiß! Erst will ich's im guten mit ihm versuchen.« Darauf streichelte er liebkosend des Katers schönes Fell und wendete sich mit ihm zu der Leiche, über welche er sich hinbeugte. Da ließ jener plötzlich den festgehaltenen Rock los, fiel, wie eine reife Frucht vom Baume, herab auf das Bett und erhob nun ein so herzzereißendes Gemaunze, daß alle Umstehenden davon erschüttert wurden.

Die nähere Beobachtung ergab, daß jenes kleine Beil, womit die tödlichen Schläge geführt worden, noch dicht neben des Ermordeten Bette auf dem Boden lag. Es war von Blutflecken voll, und die Weiber nahmen keinen Anstand, es für jenes zu erklären, womit Iwan sein Holz im Wagenschuppen zu spalten pflegte. Im Laden sowohl als auch im Schlafzimmer schien alles in der gewöhnlichen Ordnung: kein Schrank erbrochen, keine Schublade geöffnet, kein Schloß verletzt. Die eiserne Geldkasse jedoch, die, wie man wußte, neben Muschkins Lager ihren Platz hatte und die seine Papiere und sein bares Geld bergen sollte, war nirgend zu finden. Auch der Schlüssel, von dem die Sage ging, daß er stets unter seinem Kopfkissen übernachten müsse, fehlte.

Der Pristaff stellte Wache vor das Fenster und die Tür und schärfte die strengste Aufsicht ein, daß niemand eingelassen, nichts berührt oder aus gegenwärtiger Lage verändert werde.

Dann schritt er zur Besichtigung des Stalles, dessen Türe er aufbrechen ließ, und des daranstoßenden, von Iwan innegehabten Kämmerchens. Hier zeigte sich große Unordnung, wie durch plötzliche Flucht veranlaßt. Einige am Boden liegende Stücke Wäsche waren entschieden aus einem rasch zusammengewickelten Bündel entfallen und deuteten auf ängstliche Eile. Bei genauer Durchsuchung ergab sich noch ein schlimmerer Umstand, der fast zum Beweise wider den Entwichenen wurde: es fand sich nämlich auf dem Grunde des Kastens, der Iwans Effekten enthalten hatte, ein kleines Fläschchen mit luftdicht schließendem gläsernem Stöpsel, welches zweifelsohne eine Flüssigkeit bewahrte, jener gleich, die angewendet worden war, des Gitters Eisenstäbe am Fenster zu zerstören.

Wer der Täter sei, darüber konnte nun wohl kein Zweifel mehr obwalten.

Zunächst kam es darauf an, in Erfahrung zu bringen, wo Iwan den vergangenen Abend sich aufgehalten, mit wem er verkehrt, was er getrieben habe. Wann, zu welcher Stunde er den Mord möglicherweise verübt; wohin er sich auf seiner Flucht zunächst gewendet haben könne.

Daß er fast allabendlich seinen alten Gönner Isaak aufsuchte und sich zu diesem ins Singwaldsche Haus begab, sobald Muschkin Feierabend gemacht, das war für die weiblichen Insassen kein Geheimnis, und sie säumten nicht, den gefürchteten Pristaff bestens davon zu unterrichten.

Dieser, nachdem er erst seine Verhaltensbefehle noch erneuernd deutlich gemacht, eilte zu seinem Chef, gebührenden Rapport des entsetzlichen Vorfalls zu leisten, und als ihm durch den Polizeimeister, der ihn jedes andern Dienstes fürs erste entband, die dringendsten Maßregeln zur Ergreifung des Mörders zur Pflicht gemacht waren, verfügte er sich ins Haus des Oberältesten, welches wohl, seitdem es diesen Besitzer hatte, zum ersten Male durch einen Kriminalbeamten in Funktion betreten wurde. Auch machte sein Erscheinen ungeheures Aufsehen: Isaak, der gerade sein Frühstück in der Küche nahm; der Hausknecht, der die Treppe fegte; Lieschen, die »fette Schmante« zum Kaffee für die Herrschaft sott; Dorchen, die Säbel über die Stufen rasseln hörte – alle liefen zusammen und starrten ihren unerwarteten Morgengast an. Nur Simeon blieb vollkommen ruhig; sein Gesicht sagte in heiteren Zügen: »Als die Zollbeamten eindrangen, verlor ich die Fassung, denn ich merkte gleich, wem es galt! Vor der Polizei fürcht ich mich nicht; da hab ich, Gott sei Dank, ein gutes Gewissen; mit der gerat ich in keine Mißhelligkeiten.« Pristaff Schloß musterte die vor ihm Stehenden mit Kennermiene, ob eine oder der andere ihm etwa »schon einmal durch die Hände gegangen sei«. Erst als er darüber im reinen war und sie sämtlich intakt gefunden hatte, sprach er seinen Wunsch aus, zu Herrn Oberältesten geführt zu werden, dem er alsbald die Forderung stellte, gesamtes Hauspersonal um sich zu vereinigen. Als die Versammlung vollzählig war, legte Schloß den Betroffenen ernstliche und eindringliche Fragen vor, über ihren Umgang mit Iwan, über seine persönlichen Eigenschaften, über ihre Meinung von ihm, hauptsächlich über den Verlauf des gestrigen Abends. Außer den einzelnen Umständen, die dem Leser schon bekannt sind, wußten die Befragten nichts Neues zu sagen. Der gestrige Abend war vergangen wie gewöhnlich; nur daß Isaak und Simeon versicherten, länger als üblich bei ihrem Glase Punsch gesessen zu haben; und der Hausknecht bestätigte, erst nach elf Uhr durch Isaak geweckt worden zu sein, damit er dem forteilenden Iwan das Haustor öffne. Daß dieser gestern mehr als je von seines Herrn Gold im eisernen Kasten geredet und besonderer Lebhaftigkeit von dem Plane, sich in Narva freizukaufen, gefabelt habe, meinte Isaak, trotz aller Vorliebe für jenen, dem Pristaff nicht verhehlen zu dürfen; und setzte noch ferner hinzu, er sei sehr ungeduldig gewesen, fortzukommen, habe über innere Angst und Unruhe geklagt und Simeon habe ihn schier mit Gewalt zurückhalten müssen, daß er den vorrätigen Punsch vollends austrinken helfe.

Simeon konnte das nicht leugnen, wiederholte jedoch mehrmals, daß nach seiner Ansicht Iwan durchaus nicht der Mensch sei, etwas Ungebührliches zu begehen; daß er sich vielmehr stets wie ein gutmütiger, treuherziger, sanfter Bursche gezeigt habe. Ein Zeugnis, welches von allen bekräftigst, von Madame Singwald unterstützt wurde.

»Gleichwohl«, sagte der Pristaff achselzuckend, »ist er es und kein anderer welcher den armen Muschkin auf die grausamste, niederträchtigste Art ums Leben gebracht. Alle Anzeichen stimmen überein, er ist der Räuber, der Mörder!«

»Der Mörder!« Dies Wort fuhr wie ein Blitz unter die Versammelten, bis zu denen die Kunde der Schreckenstat natürlich noch nicht gedrungen war und die begreiflicherweise nur an einen Diebstahl gedacht hatten; sie brachen in laute Wehklagen aus. Lieschen, Dorchen, sogar Madame Singwald schluchzten heftig. Isaak raufte sich den Bart. Simeon rang die Hände und klagte sich an, daß vielleicht sein Punsch dazu beigetragen, den Unseligen zu verwirren und seiner Sinne zu berauben.

Der Pristaff tröstete ihn: »Darüber machen Sie sich keine Vorwürfe, mein Lieber. Nicht im Rausche ist das Verbrechen geschehen. Im Gegenteil, längst vorbereitet und schlau genug berechnet war es. Auch ohne Ihren Punsch würde es verübt worden sein, darüber bin ich im klaren. Ihre Aussagen mögen fürs erste genügen, bis sich später Veranlassung findet, dieselben vor Gericht zu wiederholen. Jetzt wollen wir an Werk gehen – und somit, Herr Oberältester, empfehl ich mich.«

 

Das erste, was Pristaff Schloß, durch die Vernehmung der Singwaldschen Dienstleute aufmerksam gemacht, veranlaßte, war ein amtlicher Bericht nach Iwans Heimat; denn daß der Mörder in jener Stupidität, welche mit pfiffigen Ränken der Bosheit nicht selten vereinbar ist, sich dahin wenden dürfte, ließ sich fast vermuten. Aber wenn er sich wirklich auf dem Wege zu seiner Mutter befand, konnte der Vorsprung, den er bis jetzt gewann, noch nicht bedeutend sein. Der erfahrene Beamte entwarf sich folgendes Bild: »Nach elf Uhr erst hat Iwan das Singwaldsche Haus verlassen, eine Stunde wenigstens ist verstrichen, bis er das Fenstergitter gänzlich aus den Fugen brach und, mit der Feile nachhelfend, ablösete. Dann ist er eingedrungen, hat den Mord verübt, die eiserne Geldkiste durchs Fenster geschoben, diese Last wahrscheinlich auf einen Schubkarren geladen, mit Stroh, Heu oder Decken verhüllt... und wenn er dies alles auch bis zwei Uhr zustande gebracht hätte... wo denk ich hin? Vor sechs Uhr konnte er ja die Festung unmöglich verlassen! Dann wird er jedenfalls hinausgezogen sein in den Wald; wird dort die Kasse, wozu er den Schlüssel unter Muschkins Kopfkissen fortnahm, eröffnet; wird so viel Gold, als er genügend meinte, in sein Wäschebündel versteckt; wird den Überrest und die Papiere in der Kasse gelassen und diese in den Erdboden verscharrt haben – um vielleicht später, wenn der Blutgeruch verflogen, das Andenken des Mordes vergessen ist, wieder danach zu suchen. Folglich, wenn ich mich rasch zu Pferde setze – jetzt ist's noch nicht Mittag –, bei Gott, ich kann ihn noch einholen. Vielleicht steht das Glück mir bei. Vorwärts, auf die Straße nach St. Petersburg!«


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