Arthur Holitscher
Der Narrenbaedeker
Arthur Holitscher

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Epilog:
Der vierte August neunzehnhundertvierundzwanzig

Erinnere dich: dieser Tag, zehn Jahre sind's her, Trafalgar Square um Mitternacht, die Menschenmassen, die mit wehenden englischen, französischen, belgischen, ja bereits mit amerikanischen und italienischen Fahnen zur Nelson-Säule herbeiströmten, in singendem Zuge: 194

»Rule Britannia, Britannia rule the waves,
Britons never never never will be slaves!
«

Erinnere dich: zehn Jahre sind's her, und du standest an jenem Tag nicht einsam auf Trafalgar Square.

Heute, 4. VIII. 1924 – es ist der erste Montag im August und deshalb Nationalfeiertag, »bankholiday« (herrliche Ideenassoziation: heiliger Banktag!), bankholiday, wie gesagt, und nichts weiter; am Morgen dieses Tages gehe ich nach Trafalgar Square, der, von den Wembley-Völkerscharen aus dem Britischen Weltreich nach allen Richtungen durchflutet, offensichtlich ohne besondere Vorkehrungen zur festlichen Begehung des Gedenktags, neblig und kalt um die Nelsonsäule daliegt. Landseers Löwen halten ihre Rachen gähnend offen, auf den Bassinrändern sitzen Boyscouts, rotbemützte Schuljungen, ein Führer erklärt Cooks Kautschukhälsen die Sehenswürdigkeiten, oben und unten, rechts und links und in der 195 Runde. Es ist alles, wie an jedem Tag dieses Sommers, und ist doch der 4. VIII. 1924, zehn Jahre auf den Tag nach jenem 4. VIII. 1914, an dem England in den Krieg zog!

Ich frage den einzigen Schutzmann, dem ich auf dem weiten Platze begegne: ob hier heute ein kommemoratives Meeting stattfinden wird? Der filzbehelmte Blaue sieht mich erstaunt an: nicht daß er wüßte!

»Thank you.«

Ich könnte nun nach rechts abbiegen und in meinen prächtigen kleinen Club gehen, in diesen nach der großen russischen Revolution benannten »1917 Club«, aber ich biege doch nach links ab, Whitehall zu, dem Menschenstrom folgend, der vom Strand gegen das Parlament zu sich ergießt.

Um das mit frischen Blumen hoch bestapelte Cenotaph kreisen Menschen, sie lesen die Zettel, Gedichte, Mitteilungen an Johnny-Boy, dear uncle Harry, Bob, Bill, Paddy und Jim. An der Ecke von Downing Street begegne 196 ich dem Führer der russischen Delegation, Christian Rakowsky; freundliche Worte, Händeschütteln. In Downing Street, dieser Sackgasse der Weltgeschichte, staut sich ein See von Menschen. Vorsichtig und langsam bahnt sich ein Auto seinen Weg, heraus, nach Whitehall: Snowden, der Finanzminister, bleich und krank, mit eingesunkenen Lippen, klug flackernden Augen; die Menge erkennt ihn, weiß: eine lebende Kraft, Pulsschlag im Herzen des Weltreichs. . . .

Rasch entschlossen besteige ich den vom Himmel gesandten Omnibus 49, der mich so oft aus der Stadt hinaus in die Gärten, auf die Hügel, in die Wälder des lieblichen Surrey geführt hat.

 

In und um den Kristallpalast in Sydenham, dieses riesige Glashaus, das dem auf London Zufliegenden von weitem schon als erster Gruß der Stadt in die Augen sticht, feiert heute der Londoner das Fest seines Bankfreitags. Dies geht auf folgende Art und Weise zu: rechts 197 ist ein Boxkampf, links wird Motorrad-Polo gefahren, im Nordtranssept Mendelssohn-Konzert, im Südtranssept Jazztanz. Die Kunststätten der ganzen Erde sind in getreuen Gipsabgüssen in den Hallen des monströsen Gebäudes aufgestellt: die Alhambra, Michelangelos David, das Portal des Doms von Amiens, die Sphinx von Gizeh und die Memnonsäule verschwinden fast unter der ungeheuren Wölbung aus Glas. Von Genuß zu Genuß, durch reichliche Speiseräume, Teestationen und Bars aufgehalten, taumelt die Menge durcheinander, ohne Unterlaß. In den Abendstunden aber strömen von den Hügeln, Wiesen, Gärten ringsum, aus den Transsepten des Glashauses die Hunderttausend ins Zentrum zusammen, wo die große Orgel steht und ein aus vielen Militärbanden zusammengesetztes Orchester nacheinander die Tell-Ouvertüre, Tschaikowskys »1812«, in dem die Zarenhymne die Marseillaise kontrapunktisch unterkriegt, und zuguterletzt ein Kriegspotpourri aufführt. Dieses 198 Potpourri, das, mit der Reveille anfangend, über Trommelwirbel und Trompeten-Signale aller Waffengattungen zu Schlachtenlärm, Getümmel und Geschützdonner sich entwickelnd, schließlich aufs »Niederländische Dankgebet« herausläuft (dem aber in England der Text: »Seht, es naht der Eroberer und Held!« unterlegt ist), – dieser Kuddelmuddel-Topf aus verfaulten Musikbrocken ist das einzige, was heute an jenen Tag vor zehn Jahren erinnert.

Während die Hunderttausend vom ungeheuren Lärm der Instrumente schon ganz betäubt dasitzen, marschieren durch Hallen und Transsepte, von Osten und Westen, von Norden und Süden kommend, in Abständen, unerwartet und schreckenerregend, Scheibengeklirr und Gehirnerschütterung verursachend, die Kapellen der Grenadier-Guards, der Scots-Guards, der Coldstream-Guards, zuletzt der Cameron-Hochländer mit Pauken, Hörnern, Dudelsäcken, Pikkoloflöten und Trillerpfeifen zur Verstärkung herbei, von der 199 Menge bejubelt, die alle diese Signale, Hymnen, Kriegsgeräusche und Marschlieder, das ganze Bumbum der großen Zeit entzückt wiedererkennt. Zum Schluß stehen wir alle entblößten Hauptes unter dem Glasgewölbe da, die Pauken rasseln, die Dudelsäcke schrillen, die Pikkoloflöten trillern, die Orgel dröhnt, die Hunderttausend singen aus tiefster Brust:

»Rule Britannia, Britannia rule the waves,
Britons never never never will be slaves!
«

Nacht des 4. August, am Fuße der Nelsonsäule. – Vom Kristallpalast, aus Wembley, aus allen Vororten, von der Küste her sind die Londoner in ihre Stadt zurück, in das Zentrum ihrer Stadt gekommen. Auf dem Riesenplatz fröhliches Treiben. Boyscouts, Schuljungen, die erwachsenen Bürger und Bürgerinnen des Weltreichs sehen dem Leuchtband des »Daily Expreß« zu, auf dem in glitzernden Lettern die neuesten 200 Nachrichten des Tages sich abrollen. »Lest morgen früh den Beginn einer Artikelreihe von General Seeley: Bereitet Deutschland einen Revanchekrieg vor?«

Die Menge buchstabiert im Chor, laut, die vorüberziehenden leuchtenden Worte. Rhythmisches Gemurmel verbreitet sich über Trafalgar Square: »Is Germany preparing a War of Revenge?«

Die Londoner, Kanadier, Australier, die Pfadfinder, die Schuljungen, sie stoßen die Silben wie eine Litanei, im Chor, rhythmisch hervor. Es ist die Nacht des 4. August, am Fuß der Nelsonsäule. . . .

 

Nein, eigenmächtig werden sie – in Europa – keinen Krieg beginnen. Aber, ob sie wollen oder nicht, in jedem Krieg, der in Europa ausbricht, werden sie mitfechten, und der Entschluß, mit dabei zu sein, wird ihnen leichter fallen als 1914. Mit Friedenmachen werden sie nicht beginnen, das Weltreich, die 201 ungeheure Kolonialmacht nicht von sich werfen. Überholte Kriegsgeräte abrüsten – ja. Aber die Herstellung von Kriegsluftschiffen, Gasen werden sie nicht einschränken.

 

Langsam durch die Menge gehend blicke ich in die Gesichter der Menschen. Es sind lebende, fühlende, denkende Menschen. Menschen eines Landes, eines Volkes, einer Völkergemeinschaft, deren Platz an der Spitze der europäischen Zivilisation ist. Mit all ihren Fehlern, Beschränktheiten, Vorurteilen, Schrullen, mit allem, was edel und fair play ist an ihrer nationalen Eigenart, sind diese Briten, diese Mitmenschen Kinder meiner Epoche, die ich zu Ende gehen, in den letzten Abgrund laufen sehe.

Hier stehe ich, im Mittelpunkt dieser großen Stadt, die ich morgen verlassen werde. Wie unwirklich, wie unexistent erscheint sie! Als weideten schon Schafe hier, wo jetzt noch, wie ein Spuk, die Nelsonsäule steht. . . .

202 Vielleicht ist es so. Vielleicht ist die Große Stadt nur mehr ein Spuk. Und ein Narr, der ihr Leben zu beschreiben, die Kontur eines schweren Traumes nachzuziehen sucht, während die Augen sich schon öffnen, der Alp zerrinnt.

 


 


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