Arthur Holitscher
Der Narrenbaedeker
Arthur Holitscher

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Rodeo, Tattoo, Jamboree

Das interessante Programm des heutigen Scheinwerfer-Tattoos in Aldershot enthält unter anderem die folgenden Punkte: Angriff unserer Abwehrkanonen auf ein 180 feindliches Flugzeug-Geschwader (Luftzweikampf zwischen feindlichen und unseren eigenen neuesten Kriegs-Aeroplanen; Tanks und schwere Artillerie zwingt schließlich die feindliche Streitmacht zum Rückzug.

Eine Militärkapelle von nahezu 1000 Musikern wird während der Kriegshandlungen Musikstücke ausführen, und die Kavallerie-Pferde werden zu den Tönen der Musik, vor beleuchtete Kanonen gespannt, Walzer tanzen.

Daily Mail« vom 18. Juni 1924)

 

Diskussion im Unterhaus, anläßlich des Luftfahrzeugs-Tattoos.

Sir H. Brittain (Unionist, Acton): »Sind Verfügungen getroffen, daß die Besucher von Übersee, die sich gegenwärtig in England aufhalten, dem Tattoo beiwohnen können?«

Mr. Leach (Sekretär im Kriegsministerium): »Es ist für Erleichterungen des Besuchs gesorgt.«

Mr. P. Harris (Arbeiterpartei, Bethnal Green, S. W.): »Was ist die wirkliche Absicht, die mit diesem Tattoo verfolgt wird? Unterhaltung oder Geldeinnahme, strategische oder Manöverzwecke?«

(Zwischenruf von der Ministerbank:) »Krieg!«

Mr. Leach: »All dies zusammen.«

(Gelächter)

Rodeo: Drei Dutzend ausgewählter Cowboys und Cowgirls aus Kanada 181 reiten im Wembley-Stadium wild sich bäumende und schüttelnde Bronchos zu, springen von ihren Pferden davonrennenden Stieren auf den Rücken, zwischen die Hörner, um die Tiere zu Fall zu bringen, fangen mit dem Lasso Reiter, Rosse und Stiere ein. Es ist ein wunderbares Schauspiel von Kraft, Mut und Geschicklichkeit. Einmal bricht einem gelassoten Stier das Vorderbein. Der Tierschutzverein und das Gewissen Englands geraten in erregte Wallung: gegen die Cowboys und die Unternehmer der wochenlang von Millionen besuchten Schaustellung wird ein Prozeß wegen Tierquälerei und Grausamkeit angestrengt. Einem Stier wurde beim Einfangen mit dem Lasso das Vorderbein gebrochen!

Tattoo: Gleich zwei zur gleichen Zeit. In Aldershot eines bei Nacht, in Hendon eines bei Tag. Englische und französische Aeroplane führen, in Staffeln, Geschwadern und einzeln, allerlei Manöver, Wettflüge, waghalsige Purzelbäume, »aerobatics«, unter mäßiger 182 Teilnahme der großen Zuschauermenge aus. Diese gerät erst in brausende Begeisterung, als eine Luftfahrzeug-Formation unter beträchtlichem Geknall mit Bomben und Lufttorpedos das aus Brettern und Leinwand gebaute Modell eines Kriegsschiffes (rote Flagge, slavischer Name) in die Luft sprengt. Die öffentliche Meinung Englands bleibt, nicht wie bei jenem Rodeo, stumm.

Jamboree: Zwölftausend Pfadfinderjungen sind, aus allen Teilen des britischen Weltreichs, im Stadium zusammengeströmt. Während des Krieges Geborene gibt es unter ihnen, aber der älteste noch ist ein Kind des XX. Jahrhunderts. Ihre militärischen Exerzitien, Aufzüge, Übungen, Gefechte werden durch das Absingen der Nationalhymne eingeleitet.

»God save our gracious King . . .« – die Zwölftausend knien mit gesenkten, entblößten Köpfen auf dem Rasen. Bei den Worten:

»Send him victorious . . .«

183 springen die Zwölftausend mit einem Satz in die Höhe und schleudern unter wildem Geheul ihre Wildwesthüte in die Luft.

Flottenparade: Ende Juli, genau zehn Jahre nach Beginn des furchtbarsten aller Kriege, findet in Spithead vor der Insel Wight eine Flottenparade der englischen Seestreitkräfte statt, der der König, die Arbeiterregierung, Würdenträger der Ententemächte und Notabilitäten von Übersee beiwohnen. 196 Kriegsschiffe sind versammelt, davon 78 größter Typen mit voller Ausrüstung und Bemannung; einige unter ihnen haben an den Kämpfen in Jütland, bei Helgoland, an der Doggerbank teilgenommen. – Zur selben Zeit tagen in London die Kommissionen für das Dawes-Abkommen der Alliierten mit Deutschland, und auch die Unterhändler für den englisch-russischen Handelsvertrag sitzen beisammen.

 

Tattoo, Jamboree, Flottenparade – was bedeutet dies alles? Heerschau 184 des kommenden, furchtbarsten aller Kriege.

»Unterhaltung, Geldeinnahme, Strategie, Manöver«, dazu: alles überwuchernder Sport, dessen Grenze nach dem Krieg Gedankenträgheit verwischt und vertuscht hat; imperialistische Selbstherrlichkeit, Verteidigung von Gold, Kohle, Öl, Weizen, Vieh, Kopra, Holz – »all dies zusammen«.

Was ist es mit dem Engländer?!

Gegenüber von Downing Street, auf der anderen Seite der Straße, ist ein Rekrutierungsbureau. Wieder kleben die alten Plakate der Armee und Flotte an den Mauern: »Was ist dir lieber? ein elender Clerk sein, mit Arbeit überbürdet, schlecht bezahlt, ewig in England bleiben oder: schöne Uniform, leichter Dienst, ausgezeichnete Löhnung, die weite Welt sehn (Abbildungen der Pyramiden, einer indischen Götterpagode, der kanadischen Rockies), deine Pflicht gegen deinen König und dein Land erfüllen?«

Tattoo, Jamboree, Flottenrevue, 185 Gasbomben, Tanks, Pest und Apokalypse! Weniger als der Franzose, weniger als welches kriegführende Volk immer dieses verdammten Erdballs scheint der Engländer aus dem Kriege gelernt zu haben. Immer noch hat er nicht ganz begriffen, was »Krieg« ist, trotz Cenotaph, Nurse Cavell, dem Grab in Westminster und der übrigen Million toter Engländer.

 

Ein Gang durch Charlotte Street

Dieser kleine, ziemlich elende Winkel, den Tottenham Court Road und Oxford Street bilden, dieses Gewinkel von schmalen, armseligen Gassen und Gäßchen ist das Herz und Hirn der Weltrevolution.

Charlotte Street, Rathbone Place, die kleine Windmühlengasse, Stevens Mews – in dieser Armengegend lebten sie, hier, im versteckten Saal eines Hinterhauses von Windmill Street sprachen und lehrten sie: Krapotkin, Stepniak, Lenin, Malatesta, Ferrer, 186 Hamon, Rocker, Tucker, Libertad. Hier ist die Geburtsstätte der Richtung, die Bolschewismus genannt worden ist – und hier war es auch, wo sie ihren Namen erhielt. Hier wurden nachts, bis in die Morgenstunden, hinter verhängten Fenstern die Theorien der Befreiung durchdacht, durchlitten, zum Teil in die Praxis umgesetzt; hier brennt heute aufs neue das heilige Feuer, denn England ist seit kurzer Zeit wieder der Zufluchtsort politischer Rebellen geworden.

Als ginge ich durch meinen Heimatsort, so gehe ich durch diese armseligen Gassen. Lieber menge ich mich unter die Passanten dieses verworrenen Winkels als unter die Menge, die heute durch Downing Street flutet. Dort gibt's was zu sehn! Die Deutschen sind eingetroffen, nun soll Deutschland durch das Dawes-Abkommen an das amerikanische Großkapital verschachert werden. Zur gleichen Zeit tagt, hundert Schritte weit vom Cenotaph, die anglo-russische Kommission, um den Handelsvertrag 187 nach Punkten festzusetzen. Scheu und fast gegen meinen Willen werfe ich, wenn mein Weg mich an Downing Street vorbeiführt, einen Blick dort hinein; hier aber, in diesem Winkel, fühle ich mich zu Hause, hier könnte ich einst, hier, das fühle ich, werde ich vielleicht einst landen, wenn's an der Zeit sein wird.

 

Welcher Genuß war's doch, ehemals, von Paris nach London zu reisen: das Antipodentum der beiden benachbarten Völker zu beobachten! Heute sehe ich in dieser Spannung nur noch die Gefahr, den Funken, die unüberwindlichen Hindernisse des Friedens; Nationalismus der Länder; die Menschheit in Nationen zersplittert; durch in Grenzen eingefaßte kapitalistische Interessen, durch Berufsschichtungen, Organisationseinheiten, jede mit ihrem spezifischen Egoismus; die Internationale vielleicht nur eine verhängnisvolle Illusion! Ungeheure Ratlosigkeit aller Führer der Menschen! Die Erkenntnis: 188 daß die Weltgeschichte ihren Gang geht und Katastrophen, immer schwerere, unermeßliche, nicht vermieden werden können, weil die Grundgesetze der Völkerbiologie noch unerforscht sind.

Hat der Krieg, der erste in der Reihe der weltzerstörenden, vieles an der Gesinnung der Menschheit geändert? Hier und dort vielleicht dies und das an der Taktik, der Organisation. Daß die Arbeiterregierung Englands, die jetzt, in all diesen Konferenzen, die Vermittlerrolle zwischen dem triumphierenden Großkapital und den verelendeten, leidenden Volksmassen spielt, mala fide handeln sollte, dieser Gedanke wird wohl keinem vernünftig und gerecht Denkenden kommen. (Woher aber dann die furchtbaren Lohnkämpfe, der Ausstand von 600 000 Bauarbeitern, der Grubenstreik in Wales, Arbeitslosigkeit und Aussperrung, die das Land wie Erdbeben erschüttern?) Nicht an der Gesinnung der Macdonald-Regierung liegt es, daß die Rolle, die 189 sie jetzt drüben in Downing Street zu spielen genötigt ist, den Gläubigen enttäuscht. Nicht an ihrer Gesinnung liegt es, sondern an ihrem Tempo, mangelnden Speed, dem Schneckengang des evolutionistischen Sozialismus.

Die anderen: die Großindustrie, die Hochfinanz, Grubenbesitzer Englands, Comité des Forges Frankreichs, die City, die Bankiers in Wall Street – sie haben das Tempo, das die Entwicklung, das heißt die Entwicklung ihrer Geschäfte vorwärts stößt, frenetisch. Diese feindlichen Mächte sich gefügig zu machen: den Menschenfreunden um Macdonald, die ihren Ursprung von Fabius dem Abwartenden herleiten, wird es nicht gelingen. Immer deutlicher wird es offenbar: der Nationalitätenhader darf nicht verstummen; er muß künstlich geschürt werden, damit die Massen nicht erkennen, wie sie ausschließlich für die Interessen des Geldsacks, des zynischen Götzen bluten. Das Großkapital der Welt geeint gegen die Arbeiterschaft der Welt – das 190 Großkapital seiner Ziele fest und sicher bewußt, bedient von den skrupellosesten, gewalttätigsten Helfershelfern – die Arbeiter aber in ihren Instinkten schwankend, beirrt durch die Kleinbürgerlichkeit ihrer Führer oder durch die Kompromisse, die ihre eigene Regierung, zwischen den Bankier und den Paria gestellt, schließen muß!

Wie auf einer Generalstabskarte erblickt man aus diesem Winkel der Welt die Marschroute, den Weg vorgezeichnet und abgesteckt: von Wall Street ausgehend, über Cardiff und Sheffield, über die City, über das Comité des Forges nach den Skodawerken der Tschechoslowakei, dem Wiener Arsenal, über die deutsche Reaktion und den ungarischen Faschismus, über die Munitionsdepots von Jugoslavien, Rumänien, Polen, der Randstaaten, zielt das Großkapital nach dem Herzen des Weltproletariats: Moskau! Die Vernichtung des Gedankens Moskau, der Weltbefreiung durch Moskau, der Kampf Wall Street's gegen den Kreml191 das ist der Sinn dieser Epoche, ihr Schlachtruf, bei dem wir Menschen der großen Städte Europas zugrunde gehen, vergiftet durch Gase unter unbeschreiblichen Qualen sterben werden, vielleicht schon in naher Zukunft.

 

Der Kreml aber kann nicht getroffen werden. Der Gedanke Moskau kann nicht mehr untergehen.

Er ist nicht lokalisiert, läßt sich nicht mehr lokalisieren. Er ist über die Welt gestreut, diffus, nistet, hier und dort, lockerer oder tiefer, in Millionen Herzen und Gehirnen.

Aber auch Rußland wird nicht besiegt werden, wenn der Feind seinen Kampf auch mit den furchtbarsten Waffen, die die Geschichte kennt, vorbereitet und zu führen entschlossen ist. Rußland wird bestehen, wenn das übrige Europa an der tödlichen Absurdität seines Staats- und Wirtschaftssystems untergegangen sein wird, an dem Schneckentempo des evolutionären Sozialismus. Rußland, das an ungehobenen Schätzen 192 reiche, kann die Katastrophe Europas überstehen, denn Rußland hält an der Idee der Befreiung fest, trotz Millionen Menschenopfer, die auf dem Wege fallen.

Die Idee Moskau wird leben, bis sie die Idee der Menschheitszukunft und allgemein geworden ist. Denn sie bedeutet die Erkenntnis: daß die einzige Rettung der Menschheit in der vernunftgemäßen, gerechten Verteilung des Gesamtbestandes der Erde an Rohstoffen, Naturkräften, Menschen über den Erdball beschlossen liegt.

Der erste der Weltkriege hat den Bolschewismus gezeugt. Der wievielte – der letzte wird die Weltrevolution gebären.

Einst feiert Charlotte Street (wie jener weiße Kathedralenberg der Märtyrer drüben in der anderen großen Stadt!) seine Auferstehung, wenn die dichten Gaswolken sich endlich verziehen, die aus seinem dumpfen Gemäuer Ungeziefer, Ratten, Kellerasseln, italienische Gastwirte, deutsche Barbiere, schweizer 193 Kellner, französische Zeitungsverkäufer, ungarische, spanische, italienische, polnische, amerikanische Flüchtlinge, Emigranten aus allen bedrückten Ländern der Welt, Sklaven, Narren und Heilige bis auf den letzten Rest und Stumpf vertilgt haben!

Unter den ersten Stätten menschlicher Behausungen, die nach dem Untergang des Zeitalters zum Leben wieder erwachen, wird dieser Winkel von Tottenham Court Road und Oxford Street genannt sein, Herz und Hirn des Gedankens der ewigen Revolution.

 


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