Arthur Holitscher
Der Narrenbaedeker
Arthur Holitscher

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Licht, Ton, Bewegung dieses Zeitalters

Mechanisch, mit metallischem Geklapper schiebt sich diese Zeit in ihr Grab. Tanzt sie, so tut sie's zu einer Musik, wie wenn ein Kran einen Stapel Wellblech von einem Lager aufs andere hinüber wirft. Der Rhythmus ihrer Lustigkeit ist knarrender, stampfender, kubistischer, mit Hupen, farbig rieselnden Lichtreklamen, Gliederverrenken, Geschlechtsteil an Geschlechtsteil aufeinanderreibender, Bauch an Bauch 23 voreinander pressender, geiler Totentanz. Die Nüstern dieser Zeit stehen weit gespannt offen, als röchen sie aus dem Houbigant, dem Schweiß, dem sauren Aufstoßen in den Bars schon den fatalen prickelnden Odeur der sich rasch ausbreitenden absynthfarbigen Wolke heraus!

 

Stillsitzend vor dem Café

London lernst du am besten vom Omnibusdach herab, Paris aber am Tischchen eines Boulevardcafés sitzend kennen. Setze dich und sperre Augen und Ohren auf, falls du solche in deinem Kopf hast.

Einen Schritt weit vor dir zieht die Menge bunt und quellend vorüber, drüben aber, hinter ihr, auf der anderen Seite der Straße erhebt sich ein Zaun vor einem Baugerüst, und auf diesem Zaun kleben Plakate. Optische Täuschung: zuweilen erscheint der Zaun mit den Plakaten ganz deutlich – die vorüberziehende Menge scheint transparent geworden, weht wie Luft daher – dann wieder ist es die Menge, 24 jeder einzelne in der Menge, der, wie mit der Zeitlupe in einem zu langsamen Film aufgenommen, mit allen Einzelheiten peinlich sichtbar dahergeschlichen kommt, während der Zaun mit den Plakaten zauberhaft schnell von dannen schießt, Wandeldekoration, Schattenflächen, Schattenbuchstaben, ins 25 Ungewisse forthuschend hinter der allzu phlegmatisch sich vorwärtsbewegenden Menschheit.

 

Der Zaun, die Plakate: Wahlaufrufe, Danksagungen, Manifeste.

Der elfte Mai mit dem Sieg des Linken Kartells ist eben vorüber. Friedlich kleben alle Parteien nebeneinander; von rechts nach links zu lesen: Léon Daudets Partei, Herriots Partei, Cachins Partei. Quer darüber eine riesige frische Affiche: Dank der republikanischen Union, Spitzenkandidat Fabry, an ihre Wähler; Dank und Gelöbnis.

(Wo aber blieben die Durchgefallenen? Sind sie etwa ihren Wählern keinen Dank schuldig? Stumm. Dürfen sich bei dem französischen Wahlsystem bedanken, das seine Tücken hat.) Allgemeine Verblüffung: dieser Linksruck bei den Wahlen Frankreichs, Englands; sicherlich vom Impuls des proletarischen Sieges Sowjetrußlands hervorgerufen, wie eine Wellenbewegung von Ost nach West über die Menschheit 26 der Erde, die Völker der Kulturstaaten Europas – vorerst nur das Staunen, die Überraschung: sollte das Weltgewissen erwacht sein?

Die Zeit, sich zu erweisen, ist noch nicht gekommen. Skepsis links, Zuversicht in der Mitte, lauernde Erwartung rechts.

 

Das Volk!

Die Völker verstehen sich immer noch nicht. Ententen, Allianzen sind grell an die Oberfläche gepinselte Fetischbilder von gemeinsamen Interessen der Oberen. Darunter: ein Volk fremd dem andern. Nicht feind, nur fremd. Es ist lediglich Schuld der Oberen. Wo zwischen diesen und dem niederen Volk keine Isolierschicht besteht, dringt das Symbol der Gemeinschaft, die Zeichnung des Fetischs tiefer ins Fleisch. (Der Muschik in Marxstadt, in Samara, in Iwanowo-Wosnessensk weiß mehr vom Ruhr-Arbeiter als der Durchschnittsengländer in Dover vom Durchschnittsfranzosen in Calais. Ja sogar 27 mehr als der Teetrinker im kosmopolitischen Pazifistensalon von seinem Nachbarn, der ihm den Zucker herüberreicht. Vielleicht wird sich das bald ändern.)

Immerhin hat der Franzose das Nachbarvolk zu spüren bekommen. Eine Stunde weit von der Gare de l'Est finden sich Spuren der Bekanntschaft.

Wir haben den Krieg geführt. Wir! sagt der Franzose. Und wir haben ihn gewonnen. Der Englishman? Der Amerikaner? Haha!! –

Kein Haß gegen den Deutschen. Eher ein wenig Mitleid, mit Ironie gefärbt, weil dem Nachbar ja doch alles nicht genützt hat.

In den sehr lehrreichen Pariser Vorstadtvarietés spielt der Deutsche auf der Bühne eine komische Rolle, der Engländer aber ist (wie vor dem Kriege!) Zielscheibe aggressiver Bosheiten. Die Niederlage (des anderen) scheint etwas Kläglich-Lächerliches an sich zu haben. Der Bloc National z. B. muß tüchtig herhalten. Clemenceaus mächtiger 28 Protégé Georges Mandel heißt seit seinem Durchfall in der Gironde plötzlich Jerobeam Rothschild. So irgendwie verhält es sich mit dem »Boche« (um den man sich, mitsamt seinen inneren und äußeren Schmerzen, Nöten und Kalamitäten, seit er keine Wehrmacht besitzt, weniger kümmert, als der in der Psychose seines Zustandes befangene Deutsche das annimmt).

 

Paris ist die Stadt, in der im allgemeinen das Gegenteil geschieht. Der trockene Amerikaner schwitzt Alkohol aus allen Poren; dem steifen Engländer sind alle Scharniere geölt; der Deutsche verbrüdert sich; der Franzose ist ernst, arbeitsam, dezent und läßt dem Fremden seinen bunten Wahn, daß diese Stadt noch immer das »gai Paris« von 1900 ist!

Das alte Quartier Latin! Wo sind die p'tites femmes, die Verkäufer von allerhand Kinkerlitzchen vor den Café-Terrassen, die Monomes, die »Conspuez«-Schreier? Ja, sogar die Apéritifs auf 29 den Tischchen sind rarer geworden. Der Konsum der Pernods, Dubonnets, Byrrhs ist gesunken, Sport hat den Alkohol verjagt, das Geld sitzt nicht locker, das Leben ist teurer geworden, der Student studiert. In Diskutierklubs der Intellektuellen, der Sozialisten, Anarchisten, der aufgerüttelten Bourgeoisie hat die Rhetorik zu Gunsten der Sachkenntnis, der Sachlichkeit an Wirkung etwas eingebüßt.

(Notiz: In einem dieser Klubs hörte ich aus dem Munde eines alten Kämpfers für den Weltfrieden folgende Äußerung: »Die Deutschen, wie haben sie's gut! Während unsere armen Jungen in den Kasernen ihre Dienstzeit abbüßen, sitzt der vom Militärzwang befreite deutsche Jüngling in den Laboratorien seiner Hochschulen, bildet sich in den Wissenschaften aus, um uns im nächsten Weltkrieg um so vernichtender zu schlagen! Nieder mit der Wehrpflicht!«)

Zwischen den Menschen, die an mir vorüberziehen, und den plakatbeklebten 30 Zäunen, die stillestehen, schießt der betäubende Verkehr der Taxis, der Lastfuhrwerke, der Autobusse ratternd und stampfend dahin. Altes Quartier Latin – da bist du ja auch wieder, lieber Omnibus der Jugendzeit: Batignolles–Clichy–Odéon, oder, wie wir dich liebevoll nannten: Batigny–Clichon–Odéolles!

Neben mir sprechen zwei junge Menschen über die Vorteile des Listenwahlsystems zum deutschen Reichstag gegen das absurde Kompensationssystem zum Palais Bourbon. Die Wirklichkeit!

Was will der langsame Trott der politischen Evolution, wie soll er Schritt halten mit dem vorwärts stürzenden Drängen der ratternden Wissenschaft, der Maschine, des von den Interessen der Oberen getriebenen Apparats? Die Evolution!!

 

Unter den Rädern

Zuweilen, in der Menge – ein bekanntes Gesicht! Von damals – von 1895, von 1900, von 1910 – ein bekanntes Gesicht, wenn auch gealtert, wenn auch 31 verwittert; ein Quartiergesicht, ein Gesicht vom Boulevard St. Michel – wie sollte ich mich ihrer nicht erinnern, dieser vagen, verschwimmenden Larven meiner Jugendzeit!

Bettler! Ihr Langsamen, Demütigen! Stoiker, Weise, mit euren runzligen, grauen, wirrbärtigen Gesichtern, Diogenese, denen die Mitwelt Tonne und Laterne genommen und nur einen alten Stock gelassen hat, mit dem ihr unter den Tischen nach Tabakstummeln stochert!

Zigarren sind rar geworden, nicht wahr, Freund? und auch die Zigarettenstümpfchen fast bis ans Ende geraucht. Hier, unter meinem Tisch, liegt eine, sie ist noch leidlich ganz. Geh nicht vorüber, Freund, Schicksalsgenosse – hebe sie auf, sie ist ja noch fast ganz, das Papier nur wenig beschmutzt.

Einst waren wir jung, nicht? hier in diesem selben Quartier. Den Krieg haben wir überstanden! Langsam kriechen wir über diese Erde – aber oben! oben! Die anderen, die Jungen, die 32 Frischen, die Starken, sie liegen unten! unten liegen sie still!

Immer leben wir noch, wollen leben, trotz allem, trotz Enttäuschungen, Not, Armut, Krankheit, die Frau zur Dirne geworden, der Freund zum Verräter, und trotzdem, trotz allem, immer noch leben wollen, leben!

Was ist das nun, Genosse, Freund aus der Jugendzeit, noch mehr des Alters – diese Gier der Seele? die noch zunimmt mit den Jahren?

Alles sehen, erleben, fühlen, mitfühlen wollen; alles aufnehmen, aufheben, in den Mund stecken wollen; leben, leben! Also dies ist Altwerden? Dies?

Das Leben kann mit dem Tod nicht aufhören. Krieg, Mord, Not, Verzweiflung tötet diese ungestüme, diese ungeheure Kraft in uns nicht ab. Das ist ein Ergebnis.

 

Verändertes Leben, veränderte Zeit; Gefährten, Freunde, ihr Säumenden, von Tisch zu Tisch mit gesenktem Blick Schleichenden – immerhin in 33 dieser Stadt, in der jede Straße zu einem Stern führt!

 

Herrenmoden

Man trägt in diesem Jahr keine Prothesen mehr, sondern leere Ärmel, mit Nadeln dort aufgesteckt, wo einst die Schulter gesessen hat.

Krücken sind unter den Achseln gepolstert und münden auf dem Pflaster in Gummi.

Fehlen beide Arme, so hält man bei patriotischen Anlässen, Parade, Präsidentenwahl, Olympischen Spielen, die Fähnchen mit den Farben der Nation zwischen den Zähnen. Fehlt der Unterkiefer, zwischen Nase und Oberlippe. –

 

Femmes

Diese Regierung gibt euch das Wahlrecht! Geduld! Bald sitzt ihr im Palais Bourbon!

Darnach müßte sich der Aspekt der französischen Frau in der Gesellschaft, die auf Männerrecht, Männervorrecht beruht, wesentlich geändert haben.

34 Im Krieg waren sie nicht aktiv, haben alle Leidenschaften in sich hineingefressen, Wut, Blutrausch, Angst, Hoffnung. Bei der einen hat es sich auf die Nieren gelagert, mächtiger Aufschwung des Kirchenglaubens, bei der anderen aber schlägt's an die Oberfläche, in wahnwitziger Bemalung, die an Südsee-Idole, aus ägyptischen Gräbern auferstandene Pharaonenkebse oder an primitiv angestrichene Jahrmarkts-Holzpuppen erinnert.

Kirschrotes rundes Leckmäulchen im ockergelb geschminkten Angesicht. Talergroße kreisrunde Zinnoberflecken auf den Bäckchen. Bunte enge Hemden den schmalen Körper entlang. Eckige, große, laszive Hände, nackt und schamlos mit dem priapförmigen Schirmgriff spielend.

In den Theatern, die auf Fremdenbesuch eingerichtet sind – zwei Drittel führen das appetitreizende »Nu« im Schild –, zieht die weibliche Komparserie splitternackt, mattbemalt und gepudert wie Gummipuppen unwirklich auf; auf 35 der Straße, in den Salons, den Logen, überall, wo die Eleganz zu Hause ist, der Reichtum sich vergnügt, das Behagen sich überkugelt, starre Götzenbilder, Menetekel, Kultdämonen des Verfalls, der bevorstehenden Auflösung.

Wie soll die Frau das Wahlrecht 36 erhalten, wo sie, als Geschlechtstier halb verachtet, sich zur anderen Hälfte in den Händen des Klerus befindet?

 

Jardin du Luxembourg

Vom pazifistischen Professor kommend, ins Luxembourg.

An den Mauern riesige Plakate, seit den Wahlen neu. Rechts ein deutsches Riesenbaby, an seiner Pfote lutschend, links der kümmerliche französische Säugling, ängstlich nach dem großen Napfkuchen hinter sich schielend – darunter Zahlen.

1922 wurden geboren: 760 000 französ. Kinder

1922 wurden geboren: 1 450 000 deutsche Kinder.

Aufruf: Mehr Kinder. An die gegenwärtigen Wähler, die künftigen Wählerinnen, dieser Notschrei. (Wird man ihnen das Wahlrecht geben, diesen Geschlechtstieren, Luxusweibchen, Frühmesseläuferinnen, Gebärmaschinen?)

Der Ton des Aufrufs klingt jedenfalls kläglicher, als des alten Tigers 37 Clemenceau Schlachtgeheul: zwanzig Millionen Deutsche zu viel!

 

Der pazifistische Professor sagt: das Volk, das große Reservoir, aus dem die französischen Genies herkommen – das französische Proletariat muß aufgefüllt werden! Er beginnt, herzuzählen: Pasteur – aber schon bei Renan stockt er. Der stammt nicht aus dem Proletariat! Das große Reservoir!

 

Ihr lieblichen Blumenbeete, Baumwege, Alleen des Luxembourg, wieder unter euch! Sieh da – eine neue Stele, ein Denkmal, das ich noch nicht kenne: Madame de Ségur, née Rostopchine – oh, Bibliothèque Rose, ihr seligen Bücher der Kindheit!

Es war gut und schön, »c'était bien français!«, der Dichterin der Bibliothèque Rose ein Denkmal zu setzen, hier im Park, der bis zum Abend von Kinderlärm, Spiel und Jauchzen widerhallt!

Heute besonders ist er voll von Nounous mit ihren Pfleglingen, Bonnen 38 und Müttern mit zarten, hold daherzwitschernden Engelchen.

Da: ein Rundtanz, Reigen, beaufsichtigt von zwei Frauen in Nonnentracht. Kleine Wesen in dunklen Kapuzenkittelchen, einer Art Uniform, tanzen Ringelreih.

Ich erkundige mich: es sind Waisenkinder, Kriegswaisen.

Sie halten sich bei den Händchen, drehn sich rasch im Kreise, lachen und singen:

»Malbrouck s'en va-t-en guerre,
Mironton, Mironton, Mirontaine . .«

und dann:

»Ne sait, qu'en reviendra . .«

Das große Reservoir! Der große Napfkuchen!

 


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