Arthur Holitscher
Der Narrenbaedeker
Arthur Holitscher

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Schatten

I.

Sie stammt aus der Zeit zwischen zwei Kriegen, aus den friedlichen, genußsüchtig heiteren, nur ein wenig panamistisch und dreyfusistisch angekränkelten Jahren 1892–98 der dritten Republik.

39 Man hat sie ausgegraben. –

Allabendlich singt sie in den Elysäischen Gefilden, in den »Ambassadeurs« ihr altes Repertoire. Sie ist recht dick geworden, hat aber ihre roten Haare, ihr grünes Kleid, ihre langen schwarzen Handschuhe beibehalten. Sie schiebt, während sie die Pointe herausarbeitet, ihr Kinn zur spitzen Nase hinauf, wie Toulouse-Lautrec, der Zwerg, sie für ewige Zeiten gemalt, radiert, gekritzelt hat. Sie ist noch immer die Einzige, die Diva, die von keiner Erreichte, sie steht da, singt:

»Un fiacre roulait, trottinant,
Cahin, cahant, hédia hoplà!
«

sie singt des weiteren »la glue«:

». . . t'as tu fait mal, mon enfant??«

sie singt mit ihrem tonlosen, fistelnden Näseln, daß dir alle Jahre deines Lebens aufsteigen, seit du sie zum erstenmal gehört, erlebt hast: Yvette Guilbert!

 

Einst, so erzählt sie, hat der Konkurrent von nebenan in den Champs, die »Horloge«, um zehn Uhr dreißig, wenn 40 sie ihre Couplets zu singen anfing, acht Trompeter und eine bellende Hundemeute losgelassen – die »Ambassadeurs« sind ja unter freiem Himmel, von der Straße nur durch eine Leinwand getrennt –, es hat ihrem Ruhm keinen Abbruch getan.

Jetzt ist er, durch die Autohupen der Zeit, leicht entmaterialisiert. Die »Ambass« nicht gerade überfüllt. Draußen rast auch zu dieser nächtlichen Stunde der Verkehr in seinen geräuschvollen Bahnen dahin. Yvette steht da, braucht Geld, schiebt das Kinn in die Höhe, näselt, aber sie ist, immer, immer noch, wie damals in den »Elysées Montmarte« – die Einzige, Niewiederkehrende, Genius und Geißel der Bourgeoisie – Yvette! –

 

II.

Nicht weit vom Palais Bourbon, an der Kreuzung des Boulevard St. Germain, steht auf niederem Sockel, fast auf dem Straßenniveau, knapp lebensgroß und aus Erz gegossen, einer, der so 41 gut wie tot ist – obzwar es kaum ein Menschenalter her ist, daß man ihn zu Grabe trug; obzwar er ein braver, demokratischer Verkünder der kleinbürgerlichen Anständigkeit war – dieses Ideals, das hierzulande der nationale Standard ist, an dem hundert Schritte weiter die Männer des siegreichen Linksblocks im Palais Bourbon gemessen werden und das die Tugend der III. Republik bestimmt.

»Il était un petit épicier de Montrouge . . .« Er war ein braver Bürger und Mensch; die Vorzugsschüler der Lyzeen erhielten nach der Prüfung seine Werke in Saffianband eingehändigt; er half Verlaine, daß er am Leben bleibe; er tat Gutes; junge Dichter kamen mit ihren Versen zu ihm, alte, schiffbrüchige, mit ihrem Hute voran . . .

François Coppée. Wer denkt noch an ihn? Ja – wie schreibt er sich – mit é, mit ée? Man wird auf dem Sockel nachsehen müssen . . .

Und war doch, kaum ist's ein Menschenalter her, der geliebteste, der 42 Sänger des kleinen Mannes, des Volkes, der Bescheidenen, Bedrückten, der »Humbles« . . .

 

III.

Schmale, schiefe Säule, ungeschickt verfertigt und aufgestellt in der Ecke beim Odéontor des Luxembourg. Verwitterter Bronzekopf oben aufgestülpt oder angeschraubt . . . ich liebe sie sehr, beide, Kopf und Säule, denn sie tragen die Jahreszahl 1895, und ich war bei ihrer Enthüllung dabei.

Murger! wie bist du verwittert, alter Bettler!

Der Baum über dir ist ja mächtig in die Breite gewachsen, höre mal! Ein Ast über deinem kahlen Schädel, der auch dann unsterblich wäre, hätte er nicht die »Vie de Bohème«, sondern nur den Wahlspruch ausgeheckt:

»Il y a des années, ou l'on n'est pas en train!« – ein Ast beschattet und verdeckt dich ganz. Vögel zwitschern auf ihm, und die Tränen, hell auf deinem verwitterten Gesicht, fließen nicht aus 43 deinen Augen, sondern beginnen schon höher, von deinem liederlichen Scheitel herunter zu rinnen.

 

IV.

Rue des Beaux Arts, Hôtel d'Alsace.

In seinen guten Tagen, in der Tite Street, in Chelsea, da wollte er sein Leben auf solche Weise in die Höhe leben, daß es seines blauen chinesischen Porzellans würdig werde. Dann fiel er tief, purzelte durch die irdische Hölle in das Profunde hinab, in dem er seiner Ballade begegnete, C.3.3. wurde unter den anderen Verdammten.

Jetzt hat ein amerikanischer Snob seine beiden Schmerzensstuben, Sterbekammern, mit billigen »ägyptischen« Wandteppichen, wie sie die Straßenverkäufer vor den Kaffeehausterrassen Alexandriens für ein paar Piaster den Fremden aufschwatzen, behängt und tapeziert. Gewiß sitzt er, mit grünen Tränken reichlich vollgesogen, in dem inneren, engen Kabinett, durch dessen Fenster der bei lebendigem Leib Verfaulende 44 einst auf dieselben Bäume im engen Hof hinterm Haus hinausblickte, und verfertigt billige, schlechte Verse, die sich zu denen des ehemaligen Bewohners verhalten wie diese ägyptischen Teppiche überm Bett zu den Figuren von Sakkara. Gewiß auch gibt er ästhetischen Misses an Empfangsnachmittagen Tee und Toast und parfümierte Zigaretten, während er langsam und genießerisch seine Gedichte auf der Zunge zergehen läßt . . .

Was zum Teufel stochere ich in all diesen vermoderten Winkeln herum? Bin doch noch ziemlich lebendig! Ja, und damit ich's nicht vergesse –

 

V.

auch die Morgue ist nicht mehr da; die permanente Ausstellung der graugrünlichen Makkabäer hinter dicken angelaufenen Spiegelscheiben, sie ist zu.

Vor Jahren begegneten wir uns zuweilen in dem sinistren Häuschen hinter Notre Dame, Alfred Jarry, der Dichter des »Ubu Roy«, und ich.

45 Jarry wohnte damals in einem verfallenen Haus der St. Louis-Insel, er kam jeden Morgen herüber, um vor den Wasserleichen sein Frühstücksbrötchen zu verzehren. Er behauptete, es fördere den Appetit, »de manger son petit pain à la face des morts!«

 

Louvre

Vor der Venus von Milo.

Zwei wunderschöne Frauen, Engländerinnen, eine weißhaarige, eine ganz junge, blonde; beide in hellen zarten Kleidern. Zwischen ihnen ein junger Mann, dessen Arme die Frauen unterfaßt halten. Er hat einen kleinen bunten Streifen im Knopfloch.

Die junge Frau liest, Sie liest laut aus dem Reiseführer, was dort über die Venus steht. Der junge Mann hört mit leisem Lächeln zu. Er ist blind.

Er sieht die Statue; er sieht Venus.

Die beiden Frauen sind bei ihm.

Der Sinn ist wach. 46

 

Luxembourg-Museum

Hier, im zweiten Saal, links hinter der Galerie der Skulpturen, hing einst das Bild eines nicht mehr jungen, augenscheinlich früh gealterten Mannes, schmales, byzantinisch langes Gesicht, graue Fäden im Bart, bläuliche Töne der Erschöpfung über den versteinten Zügen. In der blassen, von der Ausschweifung und dem Tod verzehrten Hand eine blühende Distel, blau und grau.

Wie vor Jahren gehe ich durch die Säle gerade auf dieses Bild zu. Finde es nicht. L'homme au chardon . . .

Verschwunden. Ich werde den Wächter fragen.

Ringsum hängen Bilder, sind da; und sind mir doch, ich weiß nicht wie, trist und, gleichmütig fühle ich's, abhandengekommen. Für immer.

Moreau, Carrière, Fantin-Latour und dieser Le Sidaner, den ich einst liebte wie den jungen, verschleierten Maeterlinck! Zwei unbekannte Bilder des frühen Degas: »Les malheurs de la Ville 47 d'Orleans« und »Semiramis baut eine Stadt«, – überraschend, wie Puvis und dieser, der der Entwicklung vorausgelaufen ist, von Piero della Francesca und dem Sienesen Simone Martino herkommen, Zeitgenossen der englischen Präraffaeliten, die mir auch schon zu verstauben beginnen! – was ist das nur; ist eine Scheibe blind im innern Glaspalast? Spinnweb? Kalk?

Ein kühles Quaibild aus Rouen, von Marquet – und dann; die beiden van Goghs, das dunkle; »La guinguette« und das helle »Restaurant zur Sirene« – seit Manet hat es in der Malerei nichts Größeres gegeben! Der arme Tölpel schlägt mit seinen abgeschnittenen Eselsohren ringsum alles zu Scherben!

 

Aber wo, wo, wo ist der Mann mit der Distel? Ich suche, suche, zweimal, dreimal, frage den alten Wächter – –

Wie hieß doch der Maler?

Mein altes Paris – – –

Verschwunden. Wohin? Warum? 48

 

Die heilige Wand

Am fünfundzwanzigsten Mai ziehen Hunderttausend an der Mauer des Père Lachaise vorüber, von der die roten Kränze im Winde schwanken.

Ein paar uralte Leutchen haben sich vor der Mauer postiert, an ihnen zieht die Menge vorüber. Der prächtige, rotbäckige, weißbärtige Camélinat, Direktor der Münze in der Kommüne, hält seinen Schlapphut hoch in der emporgereckten Rechten:

»Mort à la bourgeoisie!«

»Mort!« antwortet die Menge.

Der Alte breitet die Arme weit aus, drückt den Hut an die Brust, wie um die Hunderttausend zu umarmen.

»La Commune! La Commune! Vive la Commune!«

Den Blick gebannt auf die Wand, vor der die Föderierten unter den Kugeln der Versailler starben, ziehen die Massen vorüber. Es sind Kommunisten.

Von der Mauer her, als dröhne die Mauer selber das Wort:

»Lenin!«

49 Der Hügel, gegenüber, antwortet:

»Vive la Russie!«

Die Alten vor der Mauer recken die weißen Köpfe:

»La Russie! La Russie!«

Aus einer Gruppe, irgendwoher, schrill und böse, vielstimmig ein kurzer Schrei:

»Vivent nos frères au Solowjetzki!«

Es sind Sozialdemokraten, Menschewisten, Anarchosyndikalisten. Kurz und hart, Getümmel, dann wieder Ordnung.

»La Commune! La Commune!«

Der Regen peitscht die roten Fahnen, die Schleifen der Kränze, die weißen Haare der alten Kommünarden. In endloser Reihe zieht das Proletariat Frankreichs, der Welt, an der heiligen Wand vorüber, unter Regenstürmen, Blitz und Donner.

 

Ein Grab

Unter dem Scheitelpunkt der Triumphpforte, am Etoile, dem Stern, der alle Straßen dieser wunderbaren Stadt auszustrahlen scheint, ist eine 50 Marmorplatte in den Boden gemauert. Blühende Blumen umrahmen sie, oft erneut. Immer stehen Menschen, knien Menschen um dieses Grab. Alte Frauen weinen, kleine Kinder schmiegen sich an ihre betenden Mütter und haben die Händchen gefaltet. Hie und da steht eine der Knienden auf, bekreuzigt sich, geht ans Kopfende der Grabplatte, wo aus dem Boden meterhoch eine Flamme emporschlägt, streckt die Hände gegen die Flamme aus und bekreuzigt sich abermals, mit einem glühenden Kreuz.

 

Fünf Uhr nachmittags. Riesige Touristenwagen halten vor der Pforte, speien Cook-Amerikaner aus, die sich um ihren Führer drängen. Dieser, ein kurzbeiniger Italiener, mit dem Akzent des Mulberry-Dagos aus dem Newyorker Ostviertel, erklärt: in fünf Särgen hatte man fünf unkenntliche zerrissene Leichen gebettet. Ein Kind wurde vor die Särge geführt, wies mit dem Finger auf einen; der liegt nun unter der Platte. Ein unbekannter französischer Soldat – 51 denn die Uniform war zu erkennen! – mort pour la Patrie. Hier, Ladies and Gentlemen, sehen sie die ewige Flamme brennen, sie steigt aus einem Kanonenrohr empor. – Wenden Sie bitte Ihre Blicke nach links: Sie sehen dort drüben das Hotel Astoria? Im Sommer 1914 ließ the Kaiser die Frontzimmer für sich reservieren, um dem Einzug seiner siegreichen Truppen durch den Arc de Triomphe zuzuschauen.

Gelehrig drehen die amerikanischen »Kautschukhälse« die Köpfe nach links, rechts, in die Höhe, zur Platte herunter.

Es ist sehr heiß, der Führer wischt sich das triefende Haar, den schwitzenden Hals. Eine alte Dame fragt:

»What's the idea of this fire?«

Der Führer erklärt: es ist ein Symbol, Madam, Pietät, eine ganze Nation . . .

Vierschrötig schiebt sich einer an die Flamme heran, zeigt mit dem Finger:

»What do they burn? Oil?« 52


 

Olympiade

Mitten aus ihren Kämpfen schickten die hadernden Städte Sparta und Athen alle vier Jahre die Blüte ihrer Jugend zu den friedlichen Spielen der Kraft und Geschicklichkeit nach Olympia.

Das Stadium in der Vorstadt Colombes ist überfüllt, denn heute kämpft die noch unbesiegte Fußballmannschaft Uruguays gegen Frankreich.

(In einem anderen Stadium, am andern Ende der Stadt, boxt der französische Champion vor überfüllten Tribünen mit dem englischen. Am gleichen Tag tritt, ziemlich unbemerkt, Herriots Regierung ihre Herrschaft über die Geschicke des französischen Volkes an.)

Der Ball fliegt!

Die Uruguayer sind allen Nationen überlegen. Der Tag, an dem sie die Schweiz besiegt haben, wurde in Montevideo zum Nationalfeiertag erklärt (in Bern zum Trauertag). Heute ist Uruguay ein wenig befangen, denn letzten Sonntag wurde die amerikanische Mannschaft, als sie nach ihrem 53 Siege über Frankreich das Stadium mit wehenden Fahnen verließ, von der ungehaltenen Menge durchgeprügelt, von Stars and Stripes blieben nur Stripes übrig . . .

Neben mir spielt ein kleiner, schwitzender, olivbrauner Indianermischling aufgeregt mit seinem weißen und blauen Fähnchen herum – da: das kluge Uruguay hat seine Gegner das erste Tor gewinnen lassen!!

Das Stadium ist auf den Beinen, alle Trikoloren sind in Bewegung. Nachher wird Frankreich fünfmal geschlagen, aber zum Schluß trägt die Menge Uruguay auf den Schultern zum Stadium hinaus.

Im Lexikon Larousse schlage ich nach: »Heer: 8 Bataillone und 9 Kompagnien Infanterie, 2 Feldartillerie-Regimenter, 1 Mitrailleusen-Kompagnie, 1 Geniepark etc. etc., Friedensstärke 667 Offiziere, 7580 Mann; Polizeitruppen 5000 etc. etc.; Flotte: 12 Fahrzeuge, Bewaffnung (1908) Mausergewehr 7 mm.« Einfach lächerlich. – Vive l'Uruguay!! 54

 

Ausflug in die Provinz

Im strahlenden Sommersonnenschein: die Kathedrale von Chartres!

Wer sie nur aus Büchern kennt, und sei es Huysmans' Hymne, wer sie nur aus Bildern kennt, wer sie nur von außen gesehen hat, weiß nichts von ihr, nichts von der Gothik, nichts vom Mittelalter,» dem enormen, dem zarten.« Im magisch beleuchteten Schiff mit dem Rücken gegen den Altar sitzend (»ce n'est pas convenable, Monsieur! voyons!!«), in anbetende Betrachtung ihrer bunten Fenster, ihrer Wimperge versunken, erlebst du deine Versöhnung mit dem Leben, den Menschen, dem Zeitalter und Gott.

Aus himmelblauen Glassplittern, die das Paradies verkünden, in einem Blau, das nur der Selige, in die Ewigkeit Eingegangene, der Verklärte zu fühlen weiß, aus honiggelben und erdbraunen glühen kleine Gestalten purpurn her vor. Kleine Geister der wildsüßen, dumpfen, von Blut und Weihrauch dampfenden Jahrhunderte, schwebend in der 55 überirdischen Transparenz des Himmelslichts, gefangen nur und festgehalten von bleiern starr umzirkeltem Gesetz. Viele tausend kleine Gestalten, kniende, emporgereckte Heilige, Märtyrer, brennende Sünder, Stadtväter, Bischöfe, Mönche, Soldaten. Schließlich ist es nur noch dieses Blau, diese eine Farbe, der Himmel! –

 

Bei der Table d'hôte im kleinen Gasthaus am Marktplatz sitzt neben mir ein alter freundlicher Bauer, Cultivateur aus der Dordogne. Er erzählt mir seine Geschichte, die an ihm herumzubohren scheint: wieso und auf Grund welcher Machenschaften er aus seinem Ehrenamt verdrängt worden ist; zehn Jahre lang war er Maire seines Dorfes, und jetzt ist's ein anderer! So, so. Ja, es ist überall dasselbe. »L'impudence des jeunes, monsieur, le mérite, ça ne compte plus!« Ich frage ihn nach der neuen Politik seines Landes und was er von ihr hält; Poincaré erledigt, Herriot im Aufstieg. Der Alte schiebt ein Stück 56 Roquefort mit dem Messer in den Mund, kaut und spricht: »Ah, cher Monsieur! le Cartel des Gauches, le Bloc National – c'est kifkif: le Boche ne payera pas!«

 

Rasch noch einmal, ehe der Zug pfeift, zurück zur Kathedrale. Der Engel mit der breiten Sonnenuhr im Arm ist wie aus gesponnenem Glas, rieselnd und immateriell; ein leiser Schatten, schräg über dem Stein, zeigt an, daß es schon Abend wird. Drin ab er, auf dem himmelfarbenen Fenster, glühen noch die winzigen, inbrünstigen Purpurfiguren der Beter, kleine Kreaturen voll ungebrochener Instinkte, trotz Höllenstrafenfurcht, Fegfeuer, irdischer Heimsuchung und ewiger Pein, im Aufblick zur göttlichen Glorie, dem schwärmerischen Blau vor der sinkenden Sonne!

 

Utrillo und Montmartre

Bei Bernheim, dann in der Rue de la Boëtie bei Guilleaume: der Maler Utrillo.

 

Utrillo, vierzigjährig, arm, krank, im Hospital, delirium tremens, erledigt, – 57 nie habe ich vor den elenden, rissigen, mit nackten Feuermauern auf unbebaute, plankenumzäunte Schutthaufen starrenden Vorstadthäusern, diesen verfallenen, stinkenden, muffigen Mietsbaracken, so innig die Gewißheit gehabt: daß Menschen in ihnen wohnten. Nie so gerührt, mit ein wenig feuchtem Lächeln des Wiedererkennens die zarte, süße, von Sorgen zerquälte Physiognomie eines alten, verhutzelten Häusleins in einer krummen, bedrückten Vorstadtgasse, in der Arme wohnen, mit einer Kirche am Ende, in der es nach Abwasser riecht, entdeckt.

Utrillo, armer, verhungerter, mit schlechtem Fusel vollgepumpter Maler, krank und erledigt – wer hat je so süße Rosamauern, rosa wie arabische Zauberpaläste! schief, naiv, quadratisch genau auf eine Leinwand gepinselt wie dieser! Vielleicht noch der alte Pinsel Rousseau, der Douanier! Wie ein Kind, das den Scharlach hat, fiebernd im Bett einen Ausschneidebogen ungeschickt zusammenklebt, aufstellt und mit 58 fliegenden Fingern streichelt, so malt er seine süßen, kahlen, armseligen, krummen, verträumten Montmartregassen. Er malt auch kleine Figuren hinein; zwischen seinen Häuschen mit den verliebten Farben Hellrosa, Grünlich und Zeisiggelb schieben sich immer wieder dieselben dunklen, grotesken menschlichen Kegel vorüber: dicke Vorstadtweiber, immer dieselben, von hinten gesehen, enorme, ausladende Brüste, enge Taille, enormer Podex – es ist bekannt: je hungriger der Maler, um so dicker seine Weiber –, aber die Erotik des armen Kranken, arm, krank und unvergänglich wie van Gogh, ist ganz in den zarten, liebenden, holden Farben, womit er seine Häuschen bestreicht, und in den naiven, graden Strichen, mit denen er Mauer, Dachfirst, Giebel und Kirchturm gegen die Atmosphäre abgrenzt, gegen die Luft, das Licht, das seine Bilder durch und durchzieht, belebend und beglückend.

Vielleicht müßte ich noch herschreiben, wieviel Herr Guilleaume für »einen 59 Utrillo« verlangt. Ich würde es tun, wäre ich einer von jenen rührigen Kunstschreibern, die Maler loben, nachdem sie ihnen ihre Bilder abgeluchst haben. Nie, nie werde ich einen Utrillo besitzen! Aber es ist gar nicht nötig: sein süßes Rosa, Grün, Kanariengelb sitzt mir im Schädel fest, eine ganze Galerie von Utrillos, dauerhaft und unentwendbar.

 

Von Willette bis Utrillo – wie lieben sie ihn alle, diesen Berg, diesen seltsamen, lieblichen, naiven, verrotteten Haufen von Gäßchen, Kathedralen, Schuttlagern, Tanzmühlen, Klöstern und Bordellen. Seine Maler hat der Montmartre, aber seinen Sänger noch nicht gefunden. Kläglich ist es um das Volkslied dieser Stadt bestellt, in diesem Land, in dem ja doch nach dem Sprichwort »alles mit einem Lied enden« soll! Der populäre Rundgesang, die Ballade, die auf den Vorstadtsquares nach Fabrikschluß die Straßensänger dem Arbeiter, der Arbeiterin vorsingen, um etliche Sous gedruckt verkaufen – sie sind 60 billige, schlechte, nachgeahmte Apachenromantik. Als gäbe es keine andere. Als hätte das Großstadtproletariat nicht das seine. Das Lied der Butte – Bruant, der alte, rotbehemdete Sanskülott, hat es der Welt vorgesungen, und damals war etwas vom zerrenden, sich ausspeienden Haß der Enterbten, des vierten Standes, der Verdreckten, Ausgesogenen, der Rächer, Messerstecher, Zuhälter und Einbrecher darin, der Gehetzten, denen die klappernden Stiefel der Flics schon auf den Fersen sind, oben um das weiße Sacré Coeur –, aber daraus ist eine schundige, auf Fremdenfang ausgehende Fassadenblutrünstigkeit geworden, falsch und schrill zum Erbrechen; nichts enthält sie von der Seele des heiligen Berges; die ist rosafarbig, kanarigelb, von innen glühend wie das arme ruinierte Hirn des liebenden Utrillo.

 

Frans Masereel wohnt oben auf der höchsten Spitze des Berges; unter seinem Fenster stürzt in festgefügten Kaskaden 61 das Armeleuteviertel der nördlichen Vorstadt zu Tal.

Sonderbar ist diese Stadt! Sie wiegt sich in billigem Wohlbehagen, sie schwemmt sich mit leichtem Verdienst die Not der vergangenen Bedrängnis aus den Eingeweiden, sie läßt sich treiben in bescheidener Lebenslust, die gegen das Zentrum hin an Intensität, an Überhitztheit zunimmt, es quirlt nichts aus dem Urschlamm herauf, wie das etwa in Berlin der Fall ist, sie hört das Verhängnis nicht nahen, ein Fremder muß es ihr in die Ohren trompeten.

Mit Masereel, dem in seine Arbeit verbissenen, hageren, ernsten Flamen, Mönch und Handwerker des wilden Ujlenspiegel-Zeitalters, spreche ich oft über dieses unerklärliche Phänomen: sechs Jahre nach dem Krieg, sieben und sechs und vier und zwei nach den Revolutionen, die Europa erschüttert haben, gibt es wieder ausgebeutete, zynisch unterdrückte, verelendete, ihren Untergang, als wär's Schicksal, passiv erleidende Künstler, Dichter, 62 Phantasiemenschen, junge Männer und Frauen, die ihr versiegendes Dasein resigniert dahinschleppen, und nebenan praßt der Parasit!

Daß ihre Revolte aus ihrem Winkel nicht emporschlägt! dem tödlichen Gas zuvorkommt, das diese Gesellschaftsordnung vernichten wird!

Daß ihre Revolte, im besten Fall, begrenzt bleibt im Ästhetischen! Daß ein Zustrom von schlagender Rebellion nicht die schwerfällige, versagende des übermüdeten Proletariats und seiner lahmen Führer vorwärtsstößt!

(Dafür: der allgemeine, internationale Klageruf des gelehrten Professors: mein Portier verdient mehr als ich! das Gekeif, das mit dem Schnabel Lospicken des Intellektuellen auf den Mitintellektuellen, statt gemeinsamen Losgehens gegen den Bedränger, den Ausbeuter, den Nutznießer geistiger und körperlicher Arbeit!) 63

 


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