Arthur Holitscher
Drei Monate in Sowjet-Rußland
Arthur Holitscher

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Welt-Revolution

Jede Seite dieses Buches trägt mit unsichtbarer, zuweilen aber auch mit sichtbarer Schrift die Worte »Zarenregime, Weltkrieg, Blockade, Krieg des Weltkapitals gegen Rußland« aufgedruckt. Dies sind die hauptsächlichen Ursachen der furchtbaren Nöte der Sowjet-Macht, gegen die Erfindungsgabe, Opferwilligkeit und Begeisterung bei dem Aufbau des Systems ihren harten, verzweifelten, zuweilen aussichtslos scheinenden Kampf durchzukämpfen haben. Die Tragik des russischen Proletariats fügte es, daß die Sowjets in einem Augenblick zur Macht gelangt sind, in dem die Wirtschaft des Landes in ihren Grundvesten unterminiert und zugleich die Wurzeln der Gesinnung der Menschen durch Müdigkeit, Habgier, Blutlust angefault waren, das Land zu einem sozialen Umschwung wenig geeignet erschien. Verhängnis des proletarischen Schicksals: daß die Diktatur automatisch und aus naturnotwendigen Ursachen mit der Zerrüttung des kapitalistischen Wirtschaftssystems zusammenfallen muß, was dann weitgehende Unwilligkeit zur Arbeitsleistung und damit vollständige Desorganisation des gesamten Produktionsapparates zur Folge hat. Gegen diese moralischen Faktoren führt die Sowjet-Macht einen nicht minder heroischen Kampf, als es jener ist, den sie gegen viele andere von diesen unabhängige Hindernisse materieller Natur durchficht.

Seit drei Jahren leistet Rußland einem von vierzehn Staaten genährten konzentrischen Waffenangriff erfolgreichen Widerstand. Es beantwortet ihn mit einer Offensive der Idee, die in Moskau 228 ihren Hort gefunden hat. Ätherwellen der Initiative zucken von dieser Metropole der Welt bis in die entferntesten Teile der von Menschen bewohnten Gebiete. Heute schon kann man erkennen, wie diese Ströme von Kraft die individuellen nationalen Sonderheiten der Länder zu irritieren, beeinflussen, stellenweis umzuwandeln beginnen; wie sich überall, je nach den äußeren und inneren Lebensbedingungen und Anlagen der Völker und ihrer proletarischen Majoritäten eine Umwälzung ankündigt, hier erst durch leises Krachen im Gebälk, dort bereits durch unheimlich grollendes Erdbeben. Positive Faktoren dieser Umwälzung sind in den im Weltkrieg besiegten Ländern: die zusammengebrochene Finanzwirtschaft, damit die offenkundige Krise der Produktion, die Unhaltbarkeit der Lebensführung der Arbeiterschaft, des Mittelstandes und das bis in die Tiefen gedemütigte Nationalbewußtsein. Mit diesem zuletzt genannten Faktor muß eine Politik rechnen, die sich des Mittels der Katastrophen zur Erreichung ihres Endziels bedienen will. Die Irredenta Deutschlands, Österreichs, die Zerrüttung des Balkans, in den sich Rumänien und Serbien zu teilen haben, die vernichtete Türkei, um die sich die Entente streitet, sie müßten einer Politik dieser Art ebenso sichere Handhaben bieten, wie die Gärung in den vom britischen Imperialismus mißbrauchten Ländern Irland, Ägypten, Kanada, Indien. Ich sage: »müßte«, weil ich weiß, daß sich die Weltrevolution in den Köpfen jener aktiven Politiker des Bolschewismus, die sich der Sprengkraft der kommunistischen Idee auch ohne Katastrophengläubigkeit bewußt sind, als ein Ereignis darstellt, das auf mehr oder minder 229 betont mechanischem Wege herbeigeführt werden kann. Diese Sinnesverfassung zwingt zu einem Verweilen bei den materiellen Faktoren der Weltrevolution.

Es gehört zu den oft erörterten Tatsachen, daß sich ein sozialer Umsturz der Art, wie er sich in Rußland ereignet hat, in selbstversorgenden Ländern leichter befestigen kann, als in Ländern, die auf Einfuhr der nötigsten Lebensmittel angewiesen sind. Die Bolschewiki hätten ohne Zustimmung und tätige Unterstützung von seiten der Bauernschaft nie zur Herrschaft gelangen können, sie befestigen sich trotz des Verfalls der Industrie, deren Erzeugnisse erst in zweiter Linie für die Erhaltung des Verkehrs und der Existenz wichtig sind – ja, trotz der eigenwilligen Sabotage dieser selben Bauernschaft, auf deren Gründe hier des öfteren hingewiesen worden ist. Utopische Gebilde sozialer Neuschöpfung können sich, wenn sie in selbstversorgenden Ländern entstehen, innerhalb einer feindlichen kapitalistischen Umwelt trotz politischer Isolierung behaupten, sie können sich sogar, falls geeignete Wehrkräfte an den Grenzen und im Inland sie verteidigen, so lange und siegreich behaupten, bis die kapitalistische Umwelt gezwungen ist, durch eine improvisierte überstaatliche Organisation mit dem blockierten und boykottierten Lande in Verbindung zu treten. Dies ist heute schon genau zu beobachten, da unter der Oberfläche bereits die Fäden des Verkehrs zwischen Rußland und ihm politisch diametral entgegengesetzten Staaten geknüpft sind.

Pflicht des klassenbewußten Proletariats der Völker wäre es, Rußland und die Tendenzen seines proletarischen Systems aktiv, oder wo dies 230 nicht möglich sein sollte, durch passive Resistenz zu verteidigen. Die Verbindung Rußlands mit den imperialistisch-kapitalistischen Ländern aber geschieht sozusagen hinter dem Rücken des Proletariats, d. h. diese Verbindung gehen die Rußland helfenden Länder zur Stärkung ihres heimischen Kapitalismus ein und benützen die Notlage des feindlichen Proletarierlandes, um sein innerstes Wesen zu diskreditieren. Das Werkzeug, dessen sich Rußland zur Herbeiführung der zögernden Aktion des Weltproletariates bedient, ist die Partei: die Partei mit allem, was in diesem Wort an Zweideutigkeit und Unzulänglichkeit enthalten ist. Die Kommunistische Partei Rußlands als mechanisches Werkzeug operiert sogar auf gefährlichere und unzulänglichere Art, als das aus praktischen, taktischen Gründen zulässig erscheinen sollte. Es hat den Anschein, als wolle diese Partei, die zahlenmäßig gering, in Rußland selbst sich einer feindlichen Umwelt im eigenen Lande zum Trotz, vermöge ganz besonderer, aus den Verhältnissen Rußlands erklärlichen Konstellationen behaupten und entwickeln konnte, jetzt all den proletarischen Parteien der Welt ein Revolutionsschema vorschreiben, Bedingungen diktieren, die den inneren Verhältnissen jener Proletariate kaum genügend Rechnung tragen – und die sie selbst, die Kommunistische Partei Rußlands, gar nicht mehr beobachtet. Man erlebt angesichts der Moskauer Forderung das sonderbare Schauspiel, daß die kommunistischen Parteien der fremden Länder viel päpstlicher sind als der Papst, d. h. bei weitem schroffere Prinzipien zu vertreten haben, als Moskau selbst, das, wie gerade die letzte Zeit es wieder bewiesen hat zu 231 Änderungen seines Programms genötigt war und zu Kompromissen aller Art gegriffen hat.

Zur Weltrevolution, deren Herbeiführung Gesetzesdiktate, Parteiverordnungen usw. ermöglichen sollen, wäre eine in ihrer äußeren wirtschaftlichen Struktur wie ihrer inneren geistigen Verfassung homogene Welt notwendige Voraussetzung. Aber man muß gar nicht weit gehen, um zu sehen, wie gefährlich das System diktierter Anschlußbedingungen ist. Rußland selbst, das gewaltige, ist ja völlig unhomogen. In Sibirien z. B. sitzen in den Sobranjes neben Menschewikis, Sozialrevolutionären, Anarchisten sogar die Konstitutionellen Demokraten, die »Kadetten« der weiland Duma. Dort sind auch Rede- sowie Pressefreiheit und Formen des Privateigentums wieder hergestellt. (Japan ist bedrohlich nah!) Wie sollte sich nun, um nur ein Beispiel zu nennen, das Volk der Vereinigten Staaten, in denen der Arbeiter einen bürgerlich gehobenen Mittelstand repräsentiert, in seiner großen Mehrheit ganz und gar nicht sozialistisch zu denken und zu fühlen gewohnt ist, zu einem Umsturz im Sinne Moskaus verstehen? – Wo ja sogar Moskau selbst den Fehler begangen hat (denselben, den es sich gegenüber den englischen Shop-Stewards hat zuschulden kommen lassen), die syndikalistischen I. W. W., Industriearbeiter der Welt, tatkräftige Reserven der Revolution, nicht in geeigneter Weise für die Dritte Internationale zu benutzen.

Man darf den Bolschewiki den Vorwurf nicht ersparen, daß sie, indem sie die Psychologie fremder Völker und ihrer Proletariate nicht genügend berücksichtigten, über ihr eigenes Land und ihre eigene Arbeiterschaft übergroße Not und Leiden 232 gebracht haben. Daß sie aus demselben Grunde ihr eigenes System dem Zwang fundamentaler Widersprüche und Veränderungen unterwerfen mußten, die es in mancher Hinsicht bis an den Rand des Widerrufs geführt haben. Indes wird dieser Vorwurf sofort gemildert werden müssen, wenn man sich von der Betrachtung der rein materiellen Handhaben für die Weltrevolution entfernt: die Fehler der Bolschewiki ruhen in ihrem grenzenlosen Idealismus, der Gläubigkeit ihrer Führer, die das treibende Element der ganzen Weltbewegung ist, und als deren Ausdruck die Überschätzung der Menschen im allgemeinen zu gelten hat. Und es darf sich daher jeder, der den Bolschewiki den Vorwurf macht, sie hätten das Proletariat fremder Länder (und ihres eigenen!) für die Idee des Kommunismus bereits reif und berufen gehalten, angesichts des Versagens der Bewegung in ihrer ersten Phase füglich an die eigne Brust schlagen und »Mea culpa!«rufen.

Indes setzt die Partei es fort, Dogmen aus Moskau in die Proletariate der westlichen Völker zu schleudern, wodurch diese in verhängnisvoller Weise gespalten und zu direkten Aktionen immer unfähiger werden. Wann wird es der Idee gelingen, das Proletariat, die große heilige Masse der Erde, diese im Weltkrieg allein und ausschließlich – auch in den siegreichen Ländern der Entente – geschlagene Masse des Proletariates zu sammeln und geeint vorwärtszuführen?

 

Durch die Weltrevolution sollen alle unterdrückten Klassen, Rassen und Völker der Erde befreit werden, das Joch des Kapitalismus zerschmettert ins Dunkel der Vergangenheit 233 zurückfliegen. Das ist kein Zufall, daß es zum großen Teil Intellektuelle jüdischer Rasse sind, die die Sache der Unterdrückten führen, und deren Führerschaft von dem klassenbewußten Proletariat aller Rassen und Konfessionen solidarisch anerkannt wird. –

Nach dem Versagen der Weltrevolution im Westen antwortete dem fast schon triumphierenden Imperialismus der westlichen Regierungen die enorme Aktion der unterdrückten Völker Asiens. Als ich nach Moskau kam, war die Konferenz in Baku, eines der großen weltbewegenden Ereignisse der Neuzeit, gerade beendet; Führer und Delegierte strömten zurück nach der Kapitale. Sinowjew hatte den Vorsitz in Baku gehabt, und als er den Heiligen Krieg gegen den Weltimperialismus verkündete, da hatten sich achtzehnhundertneunzig Delegierte fast sämtlicher asiatischen Völker, Stämme und Nomadengruppen wie ein Mann erhoben, ihre Revolver, Säbel und Dolche aus den Gürteln gerissen und in einem einzigen Aufschrei ihr Einverständnis zum gemeinsamen Weltbefreiungskampf mit Moskau verkündet.

Im Osten gibt es kein Proletariat im Sinne des Westens. Die Bedingungen der Erhebung und der Durchführung der Revolution sind dort andere, als in den Staaten der westlichen Zivilisation. In Asien soll, wie Radek das in Baku ausgeführt hat, die Revolution nach der Befreiung der Ostvölker hauptsächlich vom britischen Weltimperialismus und der Zerbrechung seiner Kolonialgewalt, den Kampf gegen die inländischen Ausbeuter durchführen, den Feudalismus beseitigen und das Werk durch eine Agrarrevolution, wie sie in Rußland stattgefunden hat, vollenden. In 234 diesem kolossalen Projekt – wie auch in der Wiederholung des Wortes vom Heiligen Krieg, das wir 1914 und in den folgenden Jahren des öfteren zu hören bekommen haben – verrät sich eine Grundtendenz, deren die kommunistische Bewegung Rußlands nicht entraten kann und mag, und die mit der Bezeichnung Panslavismus, wie mir scheint, nur angedeutet, nicht aber umzirkelt ist. Wie im Gedanken des Roten Heeres der Panslavismus mit der Bekämpfung der weltkapitalistisch gerichteten Feinde des neuen Rußlands eine Vereinigung erfahren hat, verbindet sich in der Revolutionierung Asiens der religiöse Nationalismus des Russen mit dem der geknebelten und der unentwickelten Völker des Ostens.

 

Die Führer der Bolschewiki, die Emigranten, die in Genf, Zürich, Berlin, Stuttgart, Paris, London die russische Revolution in glühenden Nachtdebatten und angestrengter Tagesarbeit vorbereitet haben, setzen ihre Tätigkeit jetzt im Kreml in großartigstem Maßstabe fort. Sie sind Fanatiker der Weltrevolution, wie sie ehemals die Fanatiker der russischen Revolution gewesen sind.

Pathetische Anlässe, wie die Beerdigung im Dienste der Idee gefallener Führer (Leichenfeier für John Reed), entflammen religiöse Inbrunst auf bebenden Lippen. In Gesprächen aber, die man mit den Leitern der Weltbewegung zu führen Gelegenheit findet, kommt zumeist nüchternes Abwägen der Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Klassenkampfes in seinem augenblicklichen Stadium zum Ausdruck. Es ist für den keiner Partei angehörenden ausländischen Publizisten natürlich nicht leicht, auf alle Fälle 235 unerquicklich, sich mit russischen und nichtrussischen Führern über das Thema Weltrevolution auseinanderzusetzen. Doch bleibt es eine der wichtigsten Aufgaben, zu beobachten, wie sich dieses Problem in den Köpfen der Obersten der Bolschewiki malt. Hier, wie auch in all' den anderen Fragen der inneren Politik, Wirtschafts-, Parteipolitik kämpft Erfahrung und Temperament, Universalität und Russentum, Gläubigkeit und Skepsis in bedeutsamster und verhängnisvollster Weise um Methode und Aktion.

Ich verbrachte an manchem Nachmittag Stunden bei Radek im Kreml. Kuriere mit Radionachrichten aus der ganzen Welt gaben sich die Klinke seiner Zimmertür in die Hand. Auf dem Boden kroch Fräulein Sonja Vera, die das Gehen noch nicht erlernt hatte, auf allen Vieren umher. Unter Beachtung der mäandrischen Wege, die seine Tochter auf dem Teppich beschrieb, ging Radek mit den Depeschen in der Hand, sprechend und gestikulierend, zwischen Tür und Schreibtisch den Mäandern der Weltpolitik nach. Es war im höchsten Grade bewundernswert, wie dieses eminent schlagfertige politische Gehirn jede unscheinbarste Nachricht, die Äußerung irgendeiner Persönlichkeit der Weltdiplomatie, einen irgendwo aufflammenden Streik, die geringste Schwankung der Weltmärkte, Stand der Valuta, einen fingierten Zug irgendwelcher fremder Mächte gegen Rußland oder eine ihnen befreundete Macht sofort verarbeitete und zur Beurteilung der nächsten Aktionsnotwendigkeit benutzte. Die stabile, sozusagen von der Wissenschaft hergeleitete Kraft Tschitscherins besitzt in Radek, der einer der fähigsten Journalisten dieser Zeit ist, ein Korrelat von 236 höchster Bedeutung. Sicherlich ist Radek einer der ersten Faktoren der unablässig vorwärtstreibenden Weltbewegung, wichtigster Gärstoff der Weltrevolution. Wie sein jüngerer Freund, der Theoretiker des Bolschewismus Bucharin, steht Radek (mit Trotzky, Ossinski-Obolenski u. a.) auf dem äußerst linken Flügel der Führerschar.

In Zeiten, da die Bewegung an einer gewissen Raststelle angelangt ist, verliert man einen und den anderen der bewährten Führer für eine Weile aus den Augen. In solchen Perioden ist der Schmiegsame wichtiger als der Ungestüme, der Aufbauende, der Organisator wichtiger als der Propagandist. Da scheint dann die notwendige Opposition gegen die zu Konzessionen und Kompromissen geneigten Rechtsstehenden für eine Zeit paralisiert und ausgeschaltet zu sein. Mit einem Ansprung aber stehen plötzlich die Linken dann wieder auf dem Plan, vor aller Augen auf ihrem Posten.

Die Weltrevolution stellt einen steilen und an Kehren und Windungen reichen Weg dar. Mancher, der nicht Schritt halten und die Notwendigkeit des Richtungswechsels nicht einsehen kann, fällt und erhebt sich nicht mehr. Es geschieht oft, daß irgendeiner, der von Moskau Abschied nimmt, um heimzureisen und in seinem Lande die Bewegung zu führen, daheim plötzlich als ein Abtrünniger oder vom Tempo der Bewegung Überrannter sich erweist. Der Zauber Moskaus ist der Atmosphäre des gewohnten Milieus gewichen, und Moskau kann eine seiner Hoffnungen aus der Liste streichen. Zuletzt geschah dies mit Serrati, dem Italiener, der in Moskau noch als starke Säule der Weltrevolution gefeiert worden war.

237 Béla Kun. Ich lernte ihn in Moskau kennen und hatte wiederholt Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Dieser von den Verleumdern aller Nationen als blutrünstiger Tyrann Verschriene ist unter den Kommunisten großen Kalibers, die mir begegnet sind, den Pionieren der Weltrevolution, sicherlich einer der gläubigsten, zartest fühlenden und gütigsten Menschen, bereit, das Leiden der schuldlos zu Schaden Gekommenen zu lindern, der Menschlichkeit Gehör zu schaffen inmitten der härtesten Notwendigkeiten. Im Grunde vereint jeder wirkliche Revolutionär diese Eigenschaften: Mitleid mit der leidenden Kreatur und fanatischen Willen, der Unerträglichkeit des Mitansehenmüssens dieser Leiden ein Ende zu bereiten. Der ewig unerschütterliche Glaube an das Gute im Menschen kann so bezwingend werden, daß er das Gebot der Gerechtigkeit übertönt, aber auch auf verhängnisvolle Weise sich kundgeben, durch Nachgiebigkeit und zage Weichheit im gefährlichsten Augenblick, wodurch die Aktion in die schwerste Not geraten kann und zuweilen auch geraten ist.

Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, sind besonders die weiblichen Führer der Weltbewegung merkwürdig. Zärtlichste Mütter und zugleich erbarmungsloseste Kämpferinnen um die Auflösung des heute gültigen Gebildes der Familie. Man kennt die Briefe Rosa Luxemburgs aus dem Gefängnis: es sind rührende Dokumente einer franziskanischen Alliebe – und doch war diese Frau die konsequenteste Verfechterin all' der Notwendigkeiten der an Härten wahrlich nicht armen Kampfbewegung des Proletariats. Auf die unerhörte Arbeitsleistung der Moskauer Führer wies 238 ich schon öfters hin. Zur maßlosen Bewunderung steigerte sich mein Gefühl für die sich Opfernden des Kommunismus, wenn ich zuweilen Frauen beobachten konnte, in Moskau, in Petersburg, die angesichts der Not an geeigneten Exekutivorganen ihre schwierige Arbeit taten, ihren Platz auszufüllen bestrebt waren. Klara Zetkin, eine Frau nahe an die Siebzig, fast erblindet, hat die beschwerliche Reise nach Moskau um die ungünstigste Jahreszeit unternommen; ihr Tag, von dessen 24 Stunden der Schlaf nur vier in Anspruch nahm, war ganz ausgefüllt von Arbeit an Broschüren über die Erziehungsprobleme Rußlands, Berichten über die russische Bewegung an die deutschen Frauen, über die deutsche Bewegung an die russischen Organisationen. Ein einziger Nachmittag erforderte zuweilen zwei längere Ansprachen an Versammlungen in den Sowjets, in Kongressen von Lehrern, vor Frauenvereinigungen, der Abend meist ausführliche Referate vor den verschiedensten Körperschaften. Ich hörte Klara Zetkin einige Tage nach ihrer Ankunft in Moskau vor dem deutschen Soldatenrat über die wirtschaftlichen Verhältnisse Deutschlands sprechen. Wie fast jeder Fremde, der nach Moskau kommt, litt sie in den ersten Tagen an der Ruhr. Sie sprach über zwei Stunden und führte ihre Rede durch, obzwar sie zweimal ohnmächtig aus dem Saal gebracht werden mußte.

Die staunenswerte Energie der revolutionären Frauen! Sie verursacht auch manches tragische Schicksal – ein solches lernte ich in Petersburg kennen, als ich dort Emma Goldmann aufsuchte, die ich von Amerika her gut kannte. Viele geborene Führer haben sich in dem ungeheuren 239 Problem Rußlands nicht bewährt, nicht zurechtgefunden. Wenn es in Amerika hier und dort so etwas wie einen revolutionären Sozialismus gibt oder gegeben hat, so hat ihn diese außerordentliche Frau in jahrzehntelangem Ringen und angestrengtester Arbeit vorbereitet. Als Anarchistin aber ist sie dem Bolschewismus gegenüber dieselbe kritische Utopikerin geblieben, wie sie es der amerikanischen Demokratie gegenüber sein mußte – die Bolschewiki wissen mit ihr nichts anzufangen, Emma Goldmann reist mit Alexander Berkman, dem Anarchisten, jetzt von ihrem Petersburger Hotelzimmer aus nach Charkow, nach Omsk, nach Archangelsk, um für das Revolutionsmuseum im Winterpalais Material zu sammeln – die weltbewegende Kraft liegt brach, verzehrt sich . . .

Es gibt unter den Führern der Bewegung Intransigente der Idee, von denen wir das verhaßte Wort Menschenmaterial, das im Weltkrieg jeder imperialistische Scharlatan und Massenmörder im Mund gewälzt hat, wieder und wieder zu hören bekommen. Damit sind die Menschenscharen gemeint, die die Idee des Kommunismus zur siegreichen Durchführung ihres Kampfes benötigt, die dieser Idee geopfert werden müssen. Aber auch bei derlei Zeloten der Menschenliebe – ich bin in Rußland einem und dem anderen begegnet – ist der Grund der Härte in einem grenzenlosen, die Natur des Menschen vollständig beherrschenden Entschluß zu suchen: daß die Ungerechtigkeit, die allzu lang angedauert hat, jetzt endlich radikal aus der Welt geschafft werden muß. Zuweilen erzittert solch eine weithin tragende metallische Stimme, und dann ist dem Lauschenden eine 240 Schwingung vernehmlich, eine unvergeßliche Vibration ertönt dem Ohre, die den verborgenen Wesenskern einer historischen Persönlichkeit enthüllt . . .

In Augenblicken schlägt die Wucht der Idee, der Verantwortung, der Not der Gesamtheit das kühnste Herz gleichsam in Stücke. Der Gläubigste, seines Zieles am sichersten Bewußte, der starke Führer der geistigen und der praktischen Bewegung wird plötzlich mutlos, weich zu Tränen, sehnt und wünscht sich wie ein Schiffskapitän von seiner Karawelle auf hoher See im Angesicht fast schon der begehrten Küste nach dem Land, nach dem Debattierklub in der Züricher Mansarde, nach der Zeit des Elends, der Verfolgung, nach der alten Zeit im Exil zurück. Es ist die ewige Tragödie der Macht, und sie spielt sich in den Seelen der Verneiner der Macht in erschütternder Weise ab. Wer den Führern der Bolschewiki, den Trägern der Weltrevolution nachsagt, daß sie aus dem Trieb zur Machtentfaltung, zur Befriedigung irgendeines Rachegelüstes oder zur Bereicherung gehandelt haben und handeln, der kennt das Grundprinzip des revolutionären Charakters nicht: Verachtung des eigenen Vorteils, der Sicherheit der äußeren Existenz, des eigenen Lebens und Sterbens. Höher als all' dies gilt ihm das Fortbestehen der Bewegung, die Fortführung des Kampfes, die Propaganda . . .

Einige Wochen nach meiner Ankunft in Moskau, um die Zeit, da die Kontrolle über mein Kommen und Gehen, über meine Anschauungen und Äußerungen nicht mehr so übereifrig geführt wurde als zu Anfang, habe ich in zwangloserem Verkehr mit einer und der anderen der führenden 241 Persönlichkeiten Einblick in ihre Häuslichkeit, die äußeren Umstände ihrer Lebensbedingungen gewinnen können. Über diese Frage kreisen die phantastischsten Vermutungen, Lügen und Hirngespinste in der Welt, ich weiß es. Im Kapitel über die Intellektuellen erwähnte ich, daß man sich, tritt man im Kreml bei einem der Führer, der die höchsten Machtbefugnisse in seiner Hand vereint, ein, fragen muß: ob dieser Mensch in einem Gefängnis, einem Absteigequartier oder einer wirklichen Wohnstube hause? Gewiß: hier und da ißt man sich im Kreml satt; es gibt dort zuweilen sogar Lachs, wenn es in der Stolowaja unten in der Stadt Hering gibt, und hier und da kann man auch eine Blechdose mit Preßkaviar und ein paar Stücke Würfelzucker auf einer Kommode erblicken – im großen ganzen aber würde sich der Herr Groschenrentier in der Schönhauser Allee bestens bedanken, wenn man ihm zumuten wollte, das Menü Lenins oder Radeks einige Wochen lang zum Muster zu nehmen. Die Bolschewiki lieben es nicht, wenn man sie mit den Puritanern vergleicht, ich weiß es aus den ironischen Randbemerkungen der »Iswestja« zu den Berichten Bertrand Russels; darum nur die Bemerkung, daß in dem Topf, in den man die Bolschewiki zusammen mit den Puritanern werfen könnte, oft nicht mehr schmort, als ein wenig Kascha mit Kohlsuppe.

 

Wenn man uns zum Gehen zwingen wird, werden wir die Tür hinter uns mit einem Krach zuschlagen, der den Erdball erschüttern wird.« Dieser pittoreske Ausspruch stammt von Trotzky. Er wurde in einer Zeit getan, als es noch nicht so felsengleich feststand, daß der 242 Bolschewismus sich behaupten können werde, inmitten des konzentrischen Angriffs der vierzehn Nationen, wie dies heute der Fall ist. Die Tür steht immer noch offen. Und durch sie ziehen sogar, wie man das beobachten kann, kleinere und größere Gruppen von Menschen aus Westen und Osten in eine Welt ein, die jenseits der Dünste, Betrübnisse und Verworrenheiten des Augenblicks schon in Zukunftsfernen sichtbar zu werden beginnt. Eine furchtbare Zeit der Kämpfe, geistiger und materieller Kämpfe, steht den Völkern der Erde bevor. In diesen Kämpfen geht es nur scheinbar um die Macht einer Klasse; im Grunde handelt es sich um den Triumph einer religiösen Vorstellung. Die Kämpfe um die Weltrevolution werden Religionsfehden sein, ähnlich jenen, die sich um das Heilige Grab entsponnen haben und jenen, die das Zeitalter der Reformation gezeitigt hat. Dem Bolschewismus wohnt vieles inne, was an die Reformation erinnern könnte: auch er zertrümmert Dogmen, obzwar er vorerst an ihre Stelle weithin sichtbare und der Anfechtung nur zu zugängliche neue Dogmen und Gesetzestafeln stellt. Doch bereitet sich die Wandlung in den Seelen auch der Dogmenungläubigen vor. Sie vollzieht sich sogar vielleicht in entscheidenderer Weise außerhalb jener Vereinigungen, Parteien und Bünde, die den Mechanismus der Weltbewegung dirigieren.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Stunde des Materialismus als treibender Macht des Weltgeschehens geschlagen hat. Der Historiker der Zukunft wird die Epoche, an deren Schwelle wir stehen, und deren Eingang Moskau bezeichnet, nicht mehr mit dem Maßstab des geschichtlichen Materialismus messen dürfen. 243

 


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