Arthur Holitscher
Drei Monate in Sowjet-Rußland
Arthur Holitscher

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Der Untergang der Intellektuellen
(nebst einem Anhang: Schaljapin)

Gorki bin ich in Rußland nicht begegnet. Schade, ewig schade. Ein gemeinsamer Freund hatte in Moskau bereits eine Zusammenkunft verabredet, aber dann wollte Gorki plötzlich nicht mehr. Er stand wieder in einer seiner Krisen mitten inne, war von zwiespältigen Gefühlen, dem Widerstreit von Pflicht und Überzeugung bitter bedrängt; man erzählte sich, er 140 habe hier so geredet und dort anders; es solle zwischen ihm und Lenin wieder einmal zu einem Zerwürfnis gekommen sein; auch hatte er sich mit Wells, so schien es, zu weit eingelassen, und Wells hatte von dem, was er zu hören bekam, allzu ausgiebigen Gebrauch gemacht.

Auch war vor kurzem ein neues satirisches Stück von Gorki in Petersburg aufgeführt worden. In diesem Stück waren etliche Verkehrtheiten des bolschewistischen Systems und Schwächen gewisser führender, aber schlechter Kommunisten verspottet. Zur Erstaufführung war die ganze übriggebliebene Bourgeoisie aus ihren Höhlen hervorgekrochen und hatte dem Stück durch rasenden Applaus einen ganz unerwünschten Erfolg bereitet. Worauf das konterrevolutionäre Schauspiel sogleich spurlos in der Versenkung verschwand. Gorki pendelt nun ruhelos zwischen Petersburg und Moskau hin und her, will fort, sehnt sich nach den entschwundenen Zeiten von Capri zurück und ist für den Ausländer nicht mehr zu sprechen. –

Sein Werk aber, das »Haus der Gelehrten«, habe ich gesehen.

Es ist zwei Häuser weit vom Palais Narischkin, in dem ich wohne, im Doppelpalast der ehemaligen Großfürsten Wladimir Alexandrowitsch und Kyrill, mit den Fronten zum Newakai und zur Millionnaja – ich bin wohl ein dutzendmal bei Tag und bei Nacht an diesem Palast vorbeigewandelt und habe nicht geahnt, daß das das Haus der Gelehrten sei, ein Ziel der Sehnsucht so vieler, die von Hörensagen Kenntnis von seiner Existenz besitzen. An einem Sonntagnachmittag besuchen wir das »Haus der Gelehrten«. Um drei Uhr nachmittags treffen 141 wir den Kommandanten des Hauses in tiefstem Negligé an. Notdürftig bekleidet er sich mit Pantoffeln und Flauschmantel, und wir machen uns auf den Weg durch die Speise-, Empfangs-, Vortrags- und Klubräume, die vorn im Palais Wladimir, und die Wohnräume der Gelehrten, die hinten im Palais Kyrill sich befinden. Der Kommandant, ehemaliger Impresario und Besitzer eines Theaterchens, in dem französische Cochonnerien aufgeführt wurden und nach der Aufführung die goldene Jugend und das lasterhafte Alter der Aristokratie und der Kaufmannsgilden mit Dämchen in verschwiegenen Zimmern Champagnerpfropfen knallen ließ – ein jovialer Falstaff übrigens, dieser Kommandant – führt uns in den kalten Prunkräumen herum, die von Schmutz und Vernachlässigung starren und übel riechen. Das Provisorische dieser öden, lieblosen Räume, in denen ein paar alte, stehen gebliebene Prachtmöbel ihr zerschlissenes Dasein neben allerhand weiß Gott woher zusammengetragenem Gerümpel fristen – denn es besteht ja die Absicht, hier so allmählich 4000 Menschen zu speisen . . .

Tags zuvor hatten wir das Gewerkschaftshaus, das »Haus der Arbeit« besichtigt und dort auch die neu eingerichtete Bibliothek zu sehen bekommen. Im »Haus der Gelehrten« befand sich auch so etwas wie ein Bibliotheksraum – in einem düstern Lichtschacht standen staubige Bände auf einer Brüstung; wir sahen sie oben stehen, als wir die Treppe zum Palast des Großfürsten Kyrill hinuntergingen . . .

Auf der Millionnajaseite hausen die Gelehrten. Ich hatte mir unter diesem Gelehrtenhaus so etwas wie ein weltliches Kloster, ein Refugium vor den 142 Nöten und Enttäuschungen des harten Daseins vorgestellt, ein geistiges Asyl etwa von der Art, wie es Strindberg in den »Schwarzen Fahnen« schildert: das Landhaus des Grafen Max auf der Sikla-Insel, oder wie Goethe es geträumt hat und Huysmans und eigentlich in einer oder der anderen Periode seines Lebens ein jeder von uns allen.

Wie wir die Zimmerflucht betreten, erhebt sich von einem kleinen, halbkreisförmigen Seidensofa, das früher in irgendeiner Salonnische gestanden haben mochte, ein kleiner, blasser Greis, der dort geschlafen hat, stellt sich bescheiden vor uns hin und Führer Falstaff präsentiert mit einer Handbewegung den berühmten Physiker. Wir gehen vorüber.

Im nächsten Zimmer, das in bemerkenswerter Unordnung ist, denn der Besitzer soll nach einem besser heizbaren gebracht werden, haust der berühmte Geograph, Mitglied vieler europäischer gelehrter Gesellschaften. Er breitet vor uns die großen Landkarten aus, die er gezeichnet, und auf denen er seine Theorie der Golfströmungen des Meeres und der Luft durch farbige Linien anschaulich gemacht hat. Ein italienischer Genosse befindet sich in unserer Gesellschaft. Der Geograph ergeht sich in Lobpreisungen der alten Zeit der Kongresse, er hat in Rom, in Florenz gesprochen, man kennt ihn dort, gewiß, man fragt sich, was ist aus X. geworden, lebt er noch? Er versäumt es nicht, zwei Zitate aus der »Göttlichen Komödie« mit betontem Nachdruck vorzutragen:

»Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate!«

und jenes andere, schreckliche:

»Nessun maggior dolore,
che ricordarsi dei tempi felici
nella miseria.
«

143 Wir gehen vorüber.

Tür an Tür hausen die größten Gelehrten des Landes. Ist dies ein Heim, ein Gasthof zu kurzem Verweilen, oder ein Gefängnis? Aber das ist die gleiche Frage, die ich mir während dieser Monate so oft schon gestellt habe, wenn ich irgend jemand im Kreml, in der Stadt, auf dem Lande besucht habe. Hier hausen sie Zimmer an Zimmer, Biologen, Mediziner, Juristen. Gierig werden wir nach dem Neuen befragt, das sich in Deutschland, in der Welt dort draußen abspielt. Was diese Bewohner des »Hauses der Gelehrten« am schwersten bedrückt, ist der Mangel an Büchern, an Zeitschriften, an Briefen aus dem Ausland. –

Bei einem von ihnen, einem noch jungen Manne, finden wir die Vorhänge vor den Fenstern eng geschlossen. Licht brennt in der Stube und der Bewohner geht mit großen Schritten von Ecke zu Ecke. Es dauert eine Weile, ehe er uns, die wir bei ihm eingetreten sind, bemerkt. Wir gehen vorüber . . .

Unten im Vestibül des Palastes kleben Dutzende mit der Maschine geschriebener Verordnungen an der Wand: Verteilungsmaßregeln für die Viertausend, die hier gespeist werden, die sich die sogenannte akademische Lebensmittelzulage, dann Wäsche, Schuhe, Kleidungsstücke abholen sollen. Das meiste bleibt wohl auf dem Papier stehen, denn es herrscht ja Not, schreckliche Not im Lande . . .

Dies also war das Haus der Gelehrten, am Kai zwischen unserem Hause und dem in ein Revolutionsmuseum verwandelten Winterpalais gelegen. Kalt und knirschend schieben sich die Schollen des Ladogaeises übereinander, das die 144 dunkle Newa hinunter zum baltischen Meere treibt.

Geh vorüber, es ist nichts . . .

 

Die Künstler und Dichter Rußlands, die zu sprechen ich Gelegenheit fand, waren unglücklich. Manchem schrie der Kummer und Zorn aus der Kehle heraus, andere würgten ihn hinunter, aber ihre Augen flossen vor Verzweiflung über. Daran aber waren nicht die äußeren Lebensumstände allein schuld, nicht der Umstand allein, daß die Künstler, die Dichter Rußlands gezwungen sind, Bureaudienst zu tun, Stunden in den Ämtern der Sowjets abzusitzen, und daß die schöne Liederlichkeit, der Nährboden so mancher blühenden Kunst, aus dem Bereiche des Sowjet-Staates fortgefegt ist. Das Unglück der Intellektuellen Rußlands ist in der unüberbrückbaren Kluft begründet, die sich zwischen ihnen und den Führern der kommunistischen Regierung aufgetan hat.

 

Warum sind die russischen Intellektuellen Stiefkinder der Bolschewiki? Warum hört man im Kreml von den »verfluchten«, den »verdammten Intellektuellen« sprechen?

Warum hört man dort Ausrufe wie diese: »Die verdammten Intellektuellen mit ihrem Geschrei nach Freiheit!« »Der verdammte Gerechtigkeitsfimmel dieser Intellektuellen!«

Man muß sich vergegenwärtigen, daß die Väter des sozialen Gedankens so gut wie des Kommunismus oder der russischen Revolution Intellektuelle waren und sind. Die Wurzel dessen, was heute in Rußland aufgeblüht ist und die Welt beschattet, heißt Rousseau. Die Dekabristen, 145 Vorläufer des Sozialismus in Rußland, waren gebildete, vornehme Offiziere, die sich an den Quellen des europäischen Humanismus gestärkt hatten, und ihre Bewegung trägt unverkennbar die Züge der Aufklärungszeit, aus der die französische Revolution gewachsen ist. Die ungeheure unterirdische Arbeit, die im letzten Jahrhundert in Rußland selbst wie in den großen revolutionären Zentren der Asylländer England, Schweiz und Frankreich geleistet worden ist, war ausschließlich das Werk von Intellektuellen. Zum großen Teil das Werk von Intellektuellen jener Richtung, die heute unter dem Namen Sozialrevolutionäre von den Bolschewiki so arg befehdet werden. – Im Kreml sitzen ausschließlich Intellektuelle. Wollte man boshaft sein, ohne indes von dem Gebote der Wahrhaftigkeit allzusehr abzuweichen, man müßte sagen: gerade dieser Umstand sei die Ursache des Unglücks, der Not und der Verfolgung der Intellektuellen außerhalb des Kremls.

Die Bolschewiki sind eine Partei. Eine sozialistische Partei stellt eine Sekte vor. Es gibt außer der Wolfsfeindschaft des Intellektuellen gegen den Intellektuellen keine erbittertere und unauslöschlichere Feindschaft als jene, mit der eine religiöse Sekte die Nachbarsekte, eine politische die benachbarte verfolgt. Heute sitzen in russischen Gefängnissen Kadetten, Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die die russische Revolution geschaffen haben, dieselben Männer und Frauen, die die zaristische Regierung verfolgt, eingesperrt und verbannt hat; zum Teil sitzen sie, denen die Revolution für kurze Zeit das Tor ihres Gefängnisses geöffnet hat, in denselben Zellen wie ehemals.

146 Dies wäre eine schier unerklärliche Grausamkeit der Regierenden, ein Hohn auf das Wort Kommunismus, wenn es letzten Endes nicht tief begründet und sogar unvermeidlich erscheinen würde.

Die Intellektuellen, die die Revolution ersehnt, und die ihr den Weg gebahnt haben, sind von der Revolution überrascht, überrumpelt und entsetzt worden. Daß das Zarentum fiel, war ihnen recht; aber daß zugleich mit dem Zarentum der Kapitalismus durch die Bolschewiki über den Haufen gerannt worden war, daß mit dem Offizier und dem Tschinownik auch der Bourgeois entthront und vernichtet werden sollte, das ging diesen im Grunde ihrer Natur von bürgerlich-evolutionistischen Ideen erfüllten, vor den letzten Konsequenzen und Notwendigkeiten der Machtentfaltung und des Sichbehauptenmüssens – Unterdrückung und Entrechtung – zurückschreckenden und erbleichenden Gedankenmenschen nicht ein. Sie hatten für die Menschheit, für ihr Volk gelitten; sie hatten die Tücke und Grausamkeit des Bedrückers gefühlt, aber der Kreis der Bedrückung war bei ihnen nicht so weit gezogen wie bei der in ihrem Denken viel schärferen und in ihrer Energie weit konsequenteren Gruppe der Bolschewiki. Daß Kerenski und mit ihm alle, die im März 1917, in dem Augenblick, in dem der Zarismus gestürzt war, einen Pakt mit dem Kapital und dem Entente-Imperialismus zu schließen suchten, so rasch ihre Macht an die Bolschewiki abgeben mußten, darf als historischer Beweis für die Rapidität gelten, mit der sich der Gedanke des Klassenkampfes entwickelt hat.

Im kleinen Park am Fuße des Kreml, dem 147 ehemaligen »Alexander-Garten«, haben die Bolschewiki den geistigen Vätern des kommunistischen Gedankens einen marmornen Obelisk errichtet. Vor diesem Obelisk und um diesen Obelisk habe ich manchen erregten Redestreit ausfechten hören. Denn es fehlen gewichtige Namen in der kurzen Nomenklatur. Und es kann sie jeder auf seine Art aus dem Schatze seines Wissens oder seiner Überzeugung ergänzen. Hier sind die Namen, die auf der Säule eingegraben stehen:

Marx – Engels – Liebknecht – Lassalle – Bebel – Campanella – Melje (?) – Winstanley – Morus – St. Simon – Vaillant – Fourier – Jaurès – Proudhon – Bakunin – Tschernischewskij – Lawrow – Michajlowsky – Plekhanoff.

Die Intellektuellen, die heute in Rußland und in den kapitalistischen Ländern der Welt leben, sind, wenn man den Bolschewiki Glauben schenken darf, vom Kapitalismus angefressen, korrumpiert und ruiniert. Im besten Fall sind sie unpersönlich und passiv. Am liebsten möchten sie aus Lauheit und Halbheit mit dem Kapital ein Kompromiß schließen, dem Kapitalismus womöglich mit Argumenten der Menschlichkeit das Portemonnaie und die Maschinengewehre abschmeicheln – sie sind die typischen Evolutionisten und Schreibtischideologen. Zum Kampfe für das und an der Seite des Proletariats, das selber von kleinbürgerlichen Ideologien und kleinkapitalistischem Ehrgeiz nur zu sehr angefressen und korrumpiert ist, sind sie nicht zu gebrauchen; sie müssen von ihm energisch weggeschoben werden. Die Bolschewiki sehen somit in den Menschewiki und den Sozialrevolutionären, die 148 dem Evolutionismus und der Kompromißsucht ergeben sind, ärgere Feinde als in den geknebelten Bourgeois und der expropriierten und geflüchteten Aristokratie. Die Bolschewiki sehen auch in den programmlosen und des Aufbaus unfähigen Anarchisten wie in den sozialistisch gesinnten verwaschenen Parteilosen (unter die sich immer mehr allerlei konterrevolutionäre und sabotierende Elemente einschleichen) die ärgsten Schädlinge der sozialen Entwicklung.

Zum Thema: Evolutionismus und Kompromiß könnte man allerdings die Frage wagen: ob denn die Bolschewiki am Ende nicht auch Evolutionisten genannt werden müßten, allerdings nicht Evolutionisten von unten aufwärts, sondern sozusagen von oben hinab? Die mannigfaltigen Kompromisse, die Konzessionen, die sie dem Bauernstand und zuletzt dem ausländischen Kapital, namentlich dem amerikanischen, zu machen sich bemüßigt sahen, stellen doch auch eine Art Evolutionismus vor – wenn auch, wie gesagt, einen von oben nach unten gerichteten. Wobei zugegeben sei, daß die brennende Notlage des Landes die Ursache der Verminderung ihrer Maximalforderungen ist und nicht laue Furchtsamkeit der Gesinnung.

Lunatscharsky selbst, Maximalist des Geistes, scheint sich einmal, es soll ganz zu Beginn der bolschewistischen Machtergreifung gewesen sein, in einer Sitzung der Exekutive »bloßgestellt« zu haben. Als die Notwendigkeit erörtert wurde, eine historische Kathedrale, das Monumentalwerk altrussischer Baukunst, zu bombardieren und wenn nötig, dem Erdboden gleich zu machen, weil sich in ihr Gegenrevolutionäre mit 149 Maschinengewehren und Munition verschanzt hatten, hat der Volkskommissar für Volksaufklärung eine Nervenkrise erlitten; er brach in Tränen aus und drohte, den Kollegen seine Bestallung vor die Füße zu werfen, weil er sich an dem Untergang der Kathedrale nicht mitschuldig machen wollte.

Gorki. Gorki lehnte es zu Beginn der bolschewistischen Zeit, als er von Lenin zum Eintritt in die Regierung aufgefordert wurde, ab, mit den Bolschewiki gemeinsame Sache zu machen. Er begründete seine Absage mit den Worten: er wolle nicht »Kalif für einen Tag« sein. Durch seine Schwankungen während der letzten Jahre und noch in allerletzter Zeit hat er den berechtigten Vorwurf des Opportunismus und der mangelnden politischen Charakterfestigkeit nicht zu entkräften vermocht.

Tolstoj – es ist nicht nur das Schicksal seiner Anhänger, über das ich in anderem Zusammenhange berichte, das einem die Augen öffnet. Tolstoj gilt den Bolschewiki als Dichter seiner Meisterwerke; als ethische Persönlichkeit ist er unproduktiver Schwärmer, als politische aber Gegenrevolutionär. Sie drucken seine Romane in kostbaren Bänden, aber seinen Namen, den Namen des gewaltigsten Revolutionärs der Neuzeit, suchst du gleichwie jenen anderen erlauchten des sterbenden Krapotkin, umsonst auf jener Ahnensäule, jenem Totempfahl der bolschewistischen Revolution. Durch seinen Tod hat Tolstoj den Bolschewiki einen unschätzbaren Liebesdienst erwiesen. –

Ein charakteristisches Prosagedicht des Poeten Alexej Remisow will ich im Auszug hierher setzen. Es gibt die Sinnesverfassung des 150 russischen Intellektuellen, wie mich dünken will, getreu wieder. Es singt und schluchzt die Klage des unterdrückten Geistes und der verhallenden, vernichteten Hoffnung jener, die die neue Zeit in ihrer schrecklichen Glorie nicht zu erkennen vermögen, mit vor dem Erlöschen wild noch einmal aufflackernder Kraft in die Welt hinaus. Es ist »Das Wort vom Untergang der russischen Erde« (übersetzt von Woldemar Hartmann).

»Zerlumpt und stumm stehe ich in der Wüste, wo einst mir Heimat war.
Versiegelt meine Seele.
Was ich besaß – sie haben es genommen; die Kleider haben sie mir vom Leibe gerissen.
Was tut mir not? – Ich weiß es nicht. Nichts tut mir not, und ohne Ziel ist all' mein Leben.
Zorn kocht in meiner Seele, kraftloser Zorn: war doch ein Menschenalter aufgelodert für dies Land, das sich in nichts verwandelt hat und alles hätte sein können,
–   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –
Werktag war, Schaffen und Leiden, doch war auch der Festtag mit langer Messe, Predigten, lautem Reigen, Lärm und Schaukeln.
Hunger war – doch auch Fülle.
Hochgericht war – doch auch Gnade.
–   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –
O heimgesuchte Heimat, du wankst nun, Unerschütterliche, und dein Kaiserpurpur sank dir von den Schultern. Um welcher Sünde willen? (!)
Knechtung will ich – statt Freiheit, Sklaverei – statt der Brüderlichkeit, Ketten – statt der Gewalt. (!!)
–   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –
Rasender Bruder – unselige Stunde! Die russische Erde verdarb. Ein Kuckuck, schreie ich durch öden Wald und Blätterfäulnis; unterging meine russische Erde.«

 

Die Nöte der Intellektuellen Rußlands, die körperlichen und geistigen Nöte, die Unwilligkeit der Bolschewiki, diese Nöte abzustellen, ihr 151 starrer Wille, die Klasse der Intellektuellen eher zu vernichten und verenden zu sehen, als sich mit ihr auseinanderzusetzen, führt den Beweis, daß in der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft das Gebilde des Intellektualismus überhaupt fehlen wird. Daß, so wie es fortan keine Grenze mehr zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, zwischen Handwerk und Kunstübnng geben, auch keine Trennung zwischen Arbeiter, Bauer und Intellektuellem mehr bestehen wird. Der Intellektuelle war und ist Gegenpol des stumpfen, tierischen Analphabeten der entrechteten Klasse. Letzten Endes müssen die Intellektuellen jetzt mit ihrem Sein die Sündenschuld begleichen, die sie in den Jahrzehnten und Jahrhunderten als Klasse oder Kaste auf sich geladen haben, indem sie nicht gemeinsame Sache machten mit dem großen leidenden unterdrückten Volk – und indem sie, als Individuen, ja auch als revolutionäre Sozialisten nicht den Mut und die Logik des Herzens und Verstandes besessen haben, das Übel bis in seine Wurzel zu erkennen, es bei der Wurzel zu packen und auszureißen.

 

Damit diesem tristen Kapitel das Satirspiel nicht fehle, will ich über Schaljapin Bericht geben, um zu zeigen, wie im kommunistischen ebenso wie im kapitalistischen Staat der Tenor – auch wenn er ein Bariton ist – d. h. der reproduzierende und nicht der schaffende Künstler verhätschelter Liebling der Götter und Genossen bleibt; wie er in dem Meere der Not und des Hungers auf der letzten, obersten, kleinen Araratspitze ein fröhlich pantagruelisches Dasein 152 der Fülle und Völlerei weiterführen darf, um zu zeigen . . .

Nun, es sei vorweg gesagt, daß dieser Schaljapin allerdings einer der wunderbarsten, begnadetsten Künstler unter den heute Lebenden ist, ein Kerl, der breitbeinig und mit sonnenwärts gewandtem Kopf eines Eddahelden vor einem schmerzdurchwühlten und freudebegierigen Volk steht, das seine Qual vergißt und lacht und den Abgott bejubelt. Die im Kreml grollen und fluchen, daß dieser Fresser und Schürzenjäger sich jeden Ton, den er zu singen hat, mit Säcken Mehl, Zucker und Kaffee bezahlen läßt; aber dann singt Schaljapin vor den Delegierten der Dritten Internationale das Lied von Dubinuschka, und nächsten Tag schickt ihm der Kreml Lachs aus der Wolga, Kaviar aus dem Ladogasee, Honig und Rosinen aus Turkestan, und der Freßsack bedankt sich nicht einmal, nimmt es als schuldigen Tribut dahin.

Schaljapin wettet, daß er ohne Passierschein, im Kostüm des Zaren Boris Godunoff aus der Oper von Moussorgski an dem Troitzkytor des Kreml erscheinen, und daß ihn der vierfache rote Soldatenposten durchlassen wird, vergessend, daß ja die Zeit der Zaren um ist! – Schaljapin läutet in der Neujahrsnacht die Zarenglocke im Turm Iwan Weliki, der Strick reißt, und Schaljapin stürzt zehn Meter tief, ohne sich Schaden zuzufügen. – Schaljapin hat unter Nikolaus II. den berühmten Fußfall vor der Zarenloge getan und bei offener Szene »Boje tzara krani« gesungen, ist also ein ausgemachter Gegenrevolutionär; aber die Wetscheka würde morgen in die Luft fliegen, gestattete sie es sich, Schaljapin ein Haar zu 153 krümmen. – Schaljapin darf drei Wohnungen haben im rationierten Lande – warum nicht achtzehn? –

Ich habe Schaljapin in Petersburg zweimal gehört und möchte blutige Tränen weinen, daß es nicht zwei dutzendmal gewesen ist. Das erstemal sang er den besoffenen Schmied, eine Episodenrolle in der volkstümlichen Oper »Die Macht des Feindes« von Seroff, und ich kann euch sagen, daß, als Schaljapin auf die Bühne kam, und noch ehe er den Mund auftat, ein Strom von Lebensfreude und Herzenstrost durch die Logen und das Parkett lief – ja lief, es war zu spüren! Das andere Mal aber sang er in einem großen Konzert im Volkshaus. Wir saßen in der ersten Reihe, weil uns die Regierung die Billette geschenkt hatte – ein Billet kostete nämlich 25 000 Rubel und die erste Reihe war, da es gefährlich ist, als ein Mensch zu gelten, der so viel Geld ausgeben kann, nicht ganz besetzt. Ein paar Sitze weit von uns saßen zwei kleine zerfetzte Gassenjungen. Sie waren einfach in den Saal hereingekommen und hatten sich auf zwei leerstehende Plätze gesetzt. Niemandem fiel es ein, sie zu verjagen. Sie saßen da und bohrten in ihren Nasen, während Schaljapin sang. Als er aber geendet hatte, sprangen sie herum und brüllten sich heiser vor Entzücken und Begeisterung. Schaljapin sang Lieder von Glazounoff und der alte, verhungerte Komponist begleitete am Flügel. Nach dem letzten Lied von Glazounoff fiel der Sänger dem Komponisten um den Hals, und es gab einen Schmatz, den die anwesenden vier- oder fünftausend Menschen schallen hörten. Es war eine spontane 154 Huldigung, wie jene andere vor dem Zarenpaare. Dann sang Schaljapin Lieder von Schumann. Beim zweiten murrte das Publikum, schneuzte sich und scharrte mit den Füßen, um seine Geringschätzung für die deutsche Musik auszudrücken, Ihr hättet sehen sollen, mit welcher Tierbändigergeste Schaljapin die Menge vor seine Füße hinkuschen ließ. Aber er verschluckte vom »Nußbaum« doch die letzte Strophe und sang dafür »Es blinkt der Tau« von dem Russen Rubinstein, der ja nur ein mit Zuckerwasser verdünnter Schumann ist. –

Keiner, der heute über Rußland schreibt, darf das Phänomen Schaljapin unerwähnt lassen. Dieser Mensch ist eine Arznei. Er singt von der Zarenhymne bis zur Internationale alles, was den Ausdruck der Begeisterung großer Volksmassen wiedergibt, was Begeisterung bei großen Volksmassen erregen kann. Er bleibt im bedrängten Lande und die Bolschewiki sagen stolz: er ist unser! (Allerdings verweigerten sie ihm schon einmal den Paß ins Ausland.) Sie lassen ihn tun und treiben, was er will, die Gesetze umstoßen, er soll nur singen.

Er ist der populäre Künstler Rußlands. Er hat das Ohr der Menge, und darum ist ihm nicht beizukommen. Er hält, im Frack, diamantengeknöpftem Plastron und Lackschuhen ein zerrissenes Notenblatt mit zwei Fingerspitzen vor sich, zieht eine Grimasse und drückt damit aus: seht her, dieses Elend; bald wird mein Notenblatt ganz zerrissen sein und dann ist es aus und vorbei, denn leider, leider, es gibt kein Papier für die Kunst! Er zieht sein Lorgnon aus der Tasche und mimt. Er benimmt sich wie einer, der überall zu Hause 155 ist. Er hat sich im Palast Narischkin nicht anders benommen, als noch fürstliche Gnaden dort wohnten und nicht ich und Genossen. Bogenlang könnte man so von Schaljapin weiter erzählen. Er ist der populäre Künstler der Russen. Das Schicksal der anderen geht an ihm vorbei, auf Zehenspitzen, und grüßt ihn.

 


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