Arthur Holitscher
Drei Monate in Sowjet-Rußland
Arthur Holitscher

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Religion

Im Frühjahr und Sommer 1918 hörten wir in Berlin in geschlossenem Kreise wiederholt Vorträge russischer Genossen, die uns über die wichtigsten Fragen der Verwaltung und Politik Sowjet-Rußlands Aufschluß gaben. Nach solch' einem Vortrag fragte ich einmal einen Genossen, 211 der heute als einer der Führer des Bolschewismus gilt, welchen Einfluß die Lehren, die Persönlichkeit, das religiöse Genie Tolstojs auf das Werden des neuen Rußlands geübt haben. Ich bat den Genossen, uns über das religiöse Problem zu belehren, das der Bolschewismus zu lösen hat, soll er aus einem politischen und ökonomischen System das werden, wofür wir den Kommunismus doch immer gehalten haben, nämlich ein Bekenntnis zur seelischen Gemeinschaft der Menschen, im wahren Sinne Religion. Der Genosse schien über dieses Ansinnen nicht sehr erbaut; er bemerkte kurz, die Passivität Tolstojs, »der ja predige, daß man die linke Backe hinhalten soll, wenn man auf die rechte einen Streich bekommen hat«, die Lehre, dem Übel nicht mit Gewalt zu widerstreben, hätte nichts mit dem Bolschewismus zu schaffen – im Gegenteil, sie entspränge ja gerade der russischen Passivität, die der Bolschewismus auszurotten unternommen hat – und was das religiöse Problem anbelangt, so hätten die Bolschewiki sogar vor kurzem noch eine kirchliche Prozession in Kasan (?) geduldet; sie seien überhaupt tolerant in bezug auf solche kirchliche Schaustellungen und Umzüge, vorausgesetzt, daß sich mit diesen keine antibolschewistische Agitation verbinde. Diese Erklärungen befriedigten weder mich noch den größeren Teil der Hörer; besonders die Verwechslung von Religion und Ritus hat uns ziemlich verwirrt. Erst als ich in Moskau angelangt war, merkte ich, wie leicht es in Rußland wird, Religion und Prozession miteinander zu verwechseln.

Die vierzigmal vierzig Kirchen Moskaus und 212 die vielen Tausende von Heiligenbildern und Altärchen, die an allen Häuserfassaden und Straßenecken angebracht sind, halten die Bevölkerung in einer fortwährenden religiösen Erregung, welche sich sichtbar darin manifestiert, daß die rechte, das Kreuz beschreibende Hand niemals in die Tasche kommt, sondern auf einer fortwährenden Wanderung zwischen Stirn und Brust, rechter und linker Schulter begriffen ist. Ich bin einmal von meinem Hause bis zum Auswärtigen Amt einem Muschik nachgegangen und habe gezählt, wie oft er auf diesem Wege das Kreuz geschlagen hat. Vor einzelnen Kirchtürmen und Ikonen zählte ich fünf bis neun Bekreuzigungen; die Gesamtzahl anzugeben, bin ich heute nicht mehr imstande.

Man kann in den Kirchen und Kapellen Rußlands Menschen sehen, die einhalbhundertmal nacheinander mit derselben Geste vollendeter Hingabe die kotbedeckten Fließen, ein paar dutzendmal die fleckigen Scheiben an den Stellen, wo unter dem Glas die Hand, die Füße, Stirn und Mund der Madonna und des Kindleins sich befinden, mit inbrünstigen Küssen bedecken. Die Kirchen sind heilige Honigwaben, jede Wabe ist ein in Gold gefaßtes und mit Edelsteinen kostbar geschmücktes Ikon eines der unzähligen Heiligen der byzantinischen Kirche. Und inmitten dieser goldenen Waben bewegen sich, agieren und zelebrieren goldgewandete Fakire, ertönt das monotone Geleier des Vorbeters, der die sakramentalen Worte:

»Gospodi pomiluj!«

»Herr, erbarme dich unser!« zehndutzendmal 213 ohne Unterbrechung herunterhaspelt. Hier ist die Religion wahrhaftig zur Maschine degradiert, der Mensch zur Gebettrommel, der Sinn der Handlung verschwindet vollkommen unter der körperlichen Übung; die Heiligkeit der mystischen Handlung weicht einem theatralischen Pomp, der umso verwunderlicher erscheint, als ja das sichtbare Oberhaupt der Kirche, der Zar, die weltliche Obrigkeit der Kirche, der Synod, längst beseitigt sind, und zwar ohne den geringsten Widerstand und das Volk bei den sozialen Voraussetzungen seiner Existenz gepackt worden ist, was seine Anschauungen gewandelt und in den tiefsten Wurzeln seiner Gläubigkeit erschüttert haben müßte.

Es wurde mir zwar versichert, besser gesagt, es wurde mir die ständige Redensart wiederholt, die man in Rußland von offizieller Seite immer wieder hört, wenn man nach den religiösen Bedürfnissen des heutigen Russen fragt: daß es nun ganz andere Menschen seien, ganz andere Schichten der Bevölkerung, die sich vor den Türmen, den Heiligenbildern der Kapellen bekreuzigten, als ehemals – nicht mehr Proletarier, sondern der verelendete und verschüchterte Bourgeois (der jetzt wol seinen Herrgott kennengelernt hat!) – allein diese Auskunft ist ungenügend und hält bei näherer Prüfung nicht Stich. In den Kirchen sieht man Bauern in größter Zahl, und wenn hier auch kein Soldat und wenig Arbeiter angetroffen werden können, so schleicht draußen vor den Kirchen und Klöstern doch mancher mit einem schiefen Blick vorbei, in dem sich so etwas wie schlechtes Gewissen verrät . . . Tritt man in ein Bauernhaus ein, 214 ist der einzige Fleck, der sauber gehalten und dem hohen Ehrengast eingeräumt zu sein scheint, die Ecke mit den Heiligenbildern. In elenden Hütten habe ich zuweilen neun Ikone gezählt: alle waren in verhältnismäßig kostbare Goldblechrahmen gefaßt und vor jedem hing ein silbernes Lämpchen mit farbigem Glas. Die Bewohner einzelner dieser Hütten hatten sich mit dem System des Kommunismus und den Behörden der Bolschewiki aufs beste zu stellen gewußt, denn wir wurden freundlich und ohne Scheu empfangen. Aber die Gepflegtheit jener Heiligenecken bewies, daß die Grundveste des alten Glaubens, aus dem alles, was die Bolschewiki vernichten wollen, emporgewachsen ist, noch felsenstark in den Seelen der Bewohner begründet und unerschüttert geblieben ist trotz der drei Jahre. Es sollte ja doch auch mit dem Teufel zugehen, wäre der alte Gott des Russen, des »Kristianin« – das ist bezeichnenderweise das russische Wort für Bauer – über Nacht Marx und seiner Lehre geopfert worden. Niemals könnte diese Lehre, niemals der Bolschewismus sich im Wesen des Russen verwurzeln, nie hätte er sich in ihm behaupten können inmitten aller Gefahren und Nöte ohne die Weichheit und fatalistische Passivität, die dem Slawentum innewohnt – aber auch ohne den diesem mystischen Wesen des Slawen merkwürdigerweise beigemengten wildesten und stärksten Fanatismus, der gerade im Dulden seine innigste Befriedigung sucht und erreicht! Bei allem Maschinellen seines Ritus ist der Russe, wir ahnen das aus jeder Zeile Dostojewskis, in seinem religiösen Erleben tiefer veranlagt als welches Kulturvolk des Westens immer. Ich 215 glaube, diesem Volk ist kein religiöser Cant, keine Heuchelei, kein Lippenbekenntnis zu Gott nachzusagen. An den Pforten der Kirchen, Kapellen, Klöster stehen die wunderlichen, wunderbaren Gestalten der Pilger, reglose, langhaarige, langbärtige, sanfte Menschenstatuen, rastend für kurze Stunden auf ihrem rastlosen Wanderweg durch das immense Land, durch das sie eine rätselhafte Stimme des Blutes lockt und treibt. Wissen sie vom Schicksal, das das Land erlebt hat? Vernehmen sie den vibrierenden Laut der Not und Spannung in den Lüften? In ihnen lebt Gott, der Unaustilgbare, laut und brausend weiter, und sie folgen allein den Schicksalswegen, die eine unerreichbare Macht ihnen vorgezeichnet hat. An ihnen zerschellt die Wirklichkeit . . .

Noch rufen dir die Bettler, die Krüppel und die Kranken vom Straßenpflaster mit brechender Stimme das Wort Christos hinauf, wenn du an ihnen vorübergehst – einen jungen Blinden allein habe ich, so oft ich an ihm vorüberging, das Wort

»Towarischtschi!«

rufen hören! Er rief sie unzählige Male den Vorübergehenden zu, der Arme, diese Zauberformel der Neuen Gemeinschaft: »Genossen!« Und heimste weniger Almosen ein als seine Nachbarn, die die Menge im Namen des alten Gottes beschworen.

 

Immer wieder steht mir ein Bild vor Augen, wenn ich an den religiösen Russen und sein heutiges und zukünftiges Schicksal denke: die beiden emporgereckten, über die Flamme des 216 lodernden Scheiterhaufens in die Höhe stechenden Schwurfinger des Protoppen Avakkum, des Führers der Raskolniken, die sich zum alten Ritus mit den beiden Schwurfingern bekannten, während die Neuerer sich mit drei Fingern bekreuzigten. Dieser Protopp, der unter Peter dem Großen verbrannt wurde – seine beiden wilden Finger über den Flammen recken sich auch über dem heutigen Russen in die Höhe. Es ist ein Fanatikervolk, das die größte Umwälzung, die die Geschichte kennt, allen Völkern voran vollbracht hat, und das der wirkliche Erlöser der Erdenvölker genannt werden darf. Weil dieser Fanatismus seine Wurzel im Glauben besitzt, müssen die Bolschewiki zusehen, wie sie der wunderbegierigen Seele des Volkes auf die Dauer ohne Berücksichtigung ihres Dranges zur übersinnlichen Welt gerecht werden. Entfernt sich der Bolschewismus immer entschiedener vom mystischen Urgesetz des Kommunismus, so stirbt er ab, und die Welt der Erdenmenschen geht Erschütterungen entgegen, die sie zerschmettern werden.

An dem Tore, das zwischen der ehemaligen Duma und dem Historischen Museum am Eingang des Moskauer Roten Platzes erbaut ist, klebt zwischen beiden Torbogen die kleine Kapelle der wundertätigen Iberischen Mutter Gottes. Sie bildet das Ziel aller Pilger, aber auch der meisten profanen Besucher Moskaus aus dem weiten Allrußland. Dieser Kapelle gegenüber war unter den Fenstern des zweiten Stockwerks in die Mauer der ehemaligen Duma bis zur Oktoberrevolution ein anderes wundertätiges Madonnenbild eingelassen. Die Bolschewiki, die sich an die Klöster und Kirchen (deren Eigentum sie sofort 217 konfisziert hatten) nicht recht herangetraut haben, brachen unter vielen anderen Heiligenbildern auch dieses aus der Dumamauer. An seiner Stelle haben sie eine Tafel angebracht mit dem Zitat aus Marx: »Religion ist das Opium der Völker.« Der brave Muschik, der zur Iberischen Mutter Gottes wallfahrtet und von Hörensagen oder früheren Besuchen her weiß, daß es der Kapelle gegenüber, dort oben, ebenfalls etwas Heiliges anzubeten gibt, bekreuzigt sich jetzt zwölfmal vor der Kapelle und zwölfmal vor dem Ausspruch Marxens. Dies ist schon fast ein Symbol zu nennen. Nicht minder der Verkaufsstand unter der blasphemischen Tafel: man kann dort neben Zigaretten, Äpfeln und Heften einer schmutzig pornographischen Schundliteratur in voller Öffentlichkeit und kaum zehn Schritte weit vom Kreml Heiligenbilder und Lämpchen in größter Auswahl zum Verkauf gestellt sehen – und sie werden gekauft.

Die Bolschewiki haben redliche Anstrengungen gemacht, um dem Volke den alten Wunderglauben auszutreiben und damit einen der Grundpfeiler seiner Verdummung und Lethargie zu zerbrechen. Sie haben kurz nach Ergreifung der Macht die Särge der Heiligen im Lande geöffnet, diesen Vorgang kinematographisch festhalten lassen und dann die Filme in den Kirchen gezeigt. Außerdem haben sie in einem Propagandazug diese Särge durch ganz Rußland gejagt. Jawohl, die Särge waren offen und enthielten zerfallene Mumien, Knochenüberreste, Gewandfetzen, Schmutz. Aus den Dörfern und Weilern strömten die Bauern zu den Stationen herbei, um diese Särge zu bestaunen, Was aber sagte der Muschik? Daß die 218 Heiligen schlauer gewesen seien als die Bolschewiki, daß sie sich nämlich im Oktober samt und sonders aus dem Staub gemacht hätten, d. h. jetzt im Himmel säßen und in ihren Särgen Mist zurückgelassen hätten. Ebensowenig hat der Arbeitszwang, der im Oktober 1917 der Geistlichkeit auferlegt wurde, und der das große, uferlose Popengesindel, die parasitären Mönche und die Legionen der niederen und höchsten Geistlichkeit plötzlich zu produktiver Tätigkeit anhalten sollte, die gewünschte Wirkung gehabt. Als nämlich die Bevölkerung die bis dahin ziemlich verachteten Popen, die von größerer Ehrerbietung umgebenen Mönche und all' die Geistlichen der verschiedensten Kategorien in bäurischer oder städtischer Tracht die schwersten Arbeiten, Wasserschleppen, Holzhauen, Düngerfahren verrichten sah, bemächtigte sich ihrer ein großer Schreck. Die Bauern und die Städter fütterten und kleideten die Bedauernswerten, die nun mit einem Male arbeiten mußten, wie sie, die Bauern, die Städter, es ihr Leben lang getan hatten und die Popen, die Mönche, die Geistlichkeit sahen nun in dem allgemeinen Elend ringsum ihre goldenen Tage! Aus Faulpelzen und Fakiren waren über Nacht Märtyrer geworden . . .

Heute werden in den Kirchen Messen mit demselben Pomp zelebriert, der vor der Oktoberrevolution gang und gäbe gewesen sein soll. Zwar werden Wasserweihen, Fahneneide, Universitätseröffnungen usw. nicht mehr unter kirchlicher Assistenz oder überhaupt nicht gefeiert – das ist klar. Aber daß die vom Staat getrennte und boykottierte Kirche noch immer die wundervollsten Chöre bezahlen kann, davon habe ich 219 mich durch manchen unvergeßlichen Ohrenschmaus während all' der drei Monate dankbar überzeugt. Unerfindlich bleibt es, wie die Regierung es nicht zuwege bringt, wenigstens die geistliche Sucharewka, als die sich so viele kirchliche Institutionen erweisen, diese contradictio in adjecto zu den Grundprinzipien des Bolschewismus durch einen zwingenden logischen Willensakt aufzuheben, wenn sie dies auf metaphysischem Wege doch nicht erreichen kann.

Die Liturgie endete unter dem Zaren mit dem Gebet für die Dynastie, den Synod und das christliche Heer; unter Kerenski mit den Worten: »Noch beten wir für die russische Großmacht, über die Gott seine schützende Hand strecken möge«; jetzt aber, unter den Bolschewiki, lautet die Formel: »Noch beten wir für die leidende russische Großmacht, für Vaterland und Heer.« Ich möchte wissen, was Generalissimus Trotzky zu diesem Flehen um Hilfe von oben sagt!

Das letzte Jahr hat übrigens ein merkwürdiges Schisma gezeitigt. Erzbischof Wladimir von Pensa hat den Kommunismus und seine weltliche Behörde, die Bolschewiki, öffentlich anerkannt. – Ich fragte herum, welche Bedeutung diesem Schisma beizumessen sei, ob damit ein Anfang zur Vertiefung des Gedankens in dem Bewußtsein des Volkes gemacht wäre? Der geistliche Herr, an den ich diese Frage richtete, ging über den Erzbischof und seine Wandlung mit einer bezeichnenden Handbewegung zur Tagesordnung über. – – 220

 

Um Tolstoj weben Legenden. Er soll nicht gestorben sein. Sein riesiger Schatten schwebe weinend und ruhelos über dem leidenden Volk, ein dunkler Vogel flügelschlagend ob den Hütten. Seine Jünger kommen nicht zur Ruhe. Viele von ihnen sind tot: jene, die den Dienst in der Roten Armee verweigert haben. In Samara hausen andere verschüchtert in Kolonien; sie sind Vegetarier – ihr Abstinenzlertum ist ihnen durch die Maßregeln der Bolschewiki, die den Alkohol abgeschafft haben, leicht gemacht worden. Sie sind der Politik abhold, aber sie können sich andererseits mit den Methoden und dem System des Bolschewismus nicht befreunden – wie jegliche Macht, so lehnen sie auch den Zwang ab, der durch die Regierung der Bolschewiki ausgeübt wird – der heutigen Gemeinschaft wohnt nach ihrem Empfinden nicht jenes ethische Element, jener sittliche Kern inne, der sie zu freudigen Bejahern machen könnte.

Viele wertvollste Menschen aus der näheren Umgebung, aus dem nächsten Kreise um Tolstoj sind geflohen, gestorben oder halten sich scheu abseits. Einer von ihnen – sein Name ist jedem, der sich mit dem Leben Tolstojs befaßt hat, wol vertraut – kehrte vor einem Jahr mit seiner Familie nach Rußland zurück, stellte sich mitsamt seinen Söhnen den Bolschewiki zur Verfügung; heute arbeitet nur noch ein Sohn für die Regierung, die anderen haben sich zurückgezogen. Tschertkow begegnete ich im Vorzimmer Lunatscharskys; er bereitet eine Gesamtausgabe der Werke, Briefe, Tagebücher und mündlichen Aufzeichnungen von Gesprächen sowie der Biographie Tolstojs vor, hundert Bände im ganzen. 221 Auch Duschan Makowitzky, Tolstojs Arzt, traf ich in Moskau; er hat Jassnaja-Poljana verlassen, um in seine alte Heimat in der Slowakei zurückzukehren. –

Ende 1920 setzte unter den deutschen Kolonisten in den südlichen Gouvernements an der Wolga eine panikartige Flucht ein. Dieser alte, von Katharinas Zeiten her ansässige treue Mennonitenstamm verließ seine schönen, reinen, wohlgeordneten Dörfer, die reichen Felder verkommen nun, das Vieh verdirbt. In unbegreiflicher Verwirrung fliehen die treuen Siedler aus ihrem alten Lande – die Bolschewiki haben nichts getan, um ihnen ihren Irrwahn zu nehmen, daß sie bei der Ausübung ihrer Religionsbräuche behindert würden. Wohl haben da auch Aushebungskommissionen ihr unverständiges Werk verrichtet.

 

Gott wurde in Rußland durch Lunatscharsky entthront. Auf unvollkommene Weise, wie es sich zeigt. Zuweilen gab es, in der ersten Zeit, wie man mir erzählte, große öffentliche Disputationen im Großen Theater, im Dom Sojusow, dem Haus der Gewerkschaften. Anwälte der Bolschewiki und Anwälte Gottes, d. h. der in Moskau vertretenen Glaubensbekenntnisse aller Völker Groß-Rußlands, lieferten auf den Bühnen Redeschlachten vor dicht gedrängten Sälen. Jedes Bekenntnis kam zu Worte. Lunatscharsky schlug auf das Pult und zieh den alten Gott, den voroktoberlichen, der Ungerechtigkeit: er sei ein Gott der Klassen zu nennen, ein Schurkengott!

Wie dem auch sei – der Bolschewismus dürfte sich nicht damit begnügen, eine politische Sekte zu bleiben, eine weltlich verkrüppelte Sekte der 222 Essäer oder verspätete Schwester einer anderen utopischen Gemeinschaft – ihm täte not, daß er zu seinem Wesenskern, der Religion ist, zurückfände.

Auf der Fahrt von Reval nach Moskau hatte ich mit Angelica Balabanoff eine Aussprache über diese Frage. Sie – einer der tiefst religiösen Menschen dieser Zeit – sagte mir: all' diese Bestrebungen, den Kommunismus zur religiösen Angelegenheit zu stempeln, seien in den führenden Köpfen der Bolschewiki schon um das achtzehnte oder zwanzigste Lebensjahr überwunden gewesen; die wesentlichen Fragen des Bolschewismus seien wirtschaftliche und politische Fragen; auf diese allein müsse man sich konzentrieren. Ich erwiderte: dies sei schlimm genug; wenn das Religiöse mit dem jugendlichen Überschwang aus den Köpfen der Bolschewiki verschwunden sei, müßten sie in dieser Beziehung wieder werden wie die Kindlein.

Gibt es im Bolschewismus dieser Tage Ansätze zu einer Bindung mit der Metaphysik, Hinweise auf die Möglichkeit, daß der Kommunismus der Lenin, Trotzky, Lunatscharsky durch den alten verhärteten, eingefleischten Aberglauben des phantastisch hingegebenen Volkes in die Tiefe dringe, wo die Quellen sprudeln, aus denen die Seelen Nahrung schöpfen?

Der Kommunismus hat seine Heiligen: die Häupter der Pariser Kommune von 1871, Delescuse, Ferré, Dombrowsky – dann Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht. Auf dem Marsfeld in Petersburg, an der Kremlmauer in Moskau ruhen die Kämpfer der kommunistischen Revolution – hier, wo die Spuren der Schüsse noch in den 223 Ziegeln des alten Mauerwerks und in der weißen Fassade des Senatspalastes klaffen, hat man auch jene Blutzeugen des Gedankens, die im Dienste der Weltrevolution ihr Leben gelassen haben, zur Ruhe gebettet. Zur Zeit meines Aufenthaltes in Moskau wurden dort an der Kremlmauer die junge Norwegerin Ines Armand und der amerikanische Apostel des Kommunismus John Reed begraben; beide waren todkrank von der Konferenz der Orientvölker in Baku nach dem Mekka ihres Glaubens zurückgekehrt.

In jenen Marmorobelisk im Alexandergarten stehen die Namen der Kirchenväter des Kommunismus eingemeißelt: sie entstammen zum Teil den Akten der Märtyrer des Sozialismus.

Der Subbotnik hatte, ehe ihn, wie so viele andere Funktionen der Bolschewiki, die brennende Not des Landes seiner tiefen Bedeutung entkleidete, sicherlich etwas von religiösem Kult aufzuweisen. – Vor und nach den Feiern, Versammlungen und Sowjet-Sitzungen wird die »Internationale« gesungen, ertönt oft der wundervoll ergreifende »Klagegesang auf die Toten der Revolution«. Das sind Vorläufer eines werdenden Kultes, eines Rituals der weltlichen Kirche, und sie strömen aus gläubigen Herzen, sind noch keineswegs zu leeren Gebräuchen erstarrt.

In der Verfassung der Sowjet-Republik, dort, wo die Worte stehen: die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen habe aufgehört, in einzelnen Dekreten aus der ersten Zeit der bolschewistischen Herrschaft klingen die Glocken der Bergpredigt über die Menschen der heutigen zerfallenden Gesellschaft hinweg.

Auf Bräuche stößt man, die an Zeiten und 224 Zeichen der frühen Katakomben-Christenheit gemahnen: bei Begegnungen in Rußland, beim Wiedersehen im Ausland umarmen und küssen sich Genossen auf Mund und Wangen. Das ist nicht die alte russische Sitte – der übrigens auch bereits ein religiöses Element innewohnte – nicht die Geste der Freude über Freundschaft und Verbundensein und Begegnung allein: in diesen Umarmungen gibt sich eine höhere Verbindung kund, im Angesicht des gemeinsamen Ideals und der gemeinsamen Gefahr, in der das Leben jedes Einzelnen sich stündlich befindet, der sich zum Glauben an die welterlösende Lehre und zu ihrem Dienste bekennt. Und so bedeutet jeder Kuß, der auf solche Weise gegeben und empfangen wird, einen Abschiedskuß fürs Leben.

Auf der Heimreise von Iwanowo nach Moskau blieb unser Zug in der Nähe eines kleinen Ortes Jurjew Polski infolge einer Schneeverwehung stecken. Trotz großer Mühe konnten wir aus dem Schnee nicht herausgeschaufelt werden. Da wir im Zuge fast keine Lebensmittel hatten, litten wir schon am ersten Tage Not. Jurjew Polski ist ein kleines, in einer Talmulde der russischen Ebene gelegenes kreisrundes Städtchen, aus dem in die Winterbläue eine Unmenge bunter Türme emporragt. O, die russische Winterlandschaft, das wunderliche runde Städtchen, umgeben von weitem Weiß – in unermeßlicher Ferne zwei kleine, langsam dahinziehende Gefährte – näher schon ein Reiter mit etwas Blitzendem am Gurt, im strahlenden Schnee landeinwärts galoppierend! Aus dem Städtchen, in dem sich die Kunde verbreitet hatte, daß Klara Zetkin sich in unserem Zuge befinde, bewegte sich eine kleine Gruppe von 225 Menschen über das Feld zu uns heraus. Männer und Frauen trugen in ihren Armen große Holzschüsseln, auf denen alles, was die Gegend an Nahrungsmitteln hervorbringt, Brot, Fleisch, geräucherte Fische, Honig und Eier lagen. Wie ehemals mit Brot und Salz, kamen sie jetzt mit diesen Leckerbissen heran, um uns Eingeschneite vor dem Hungertod zu retten . . . Die schönen ernsten und ehrfurchtsvollen Mienen dieser Männer und Frauen, die Geste des Bringens, des vor uns Hinbreitens der Schüsseln, das stille Aufblicken dieser Menschen, ihr Reden und ihr Schweigen . . .

 

In vielen Seelen des neuen Rußlands ist heutigentags ein Glaube wach, der in Zeiten, wie wir sie durchmachen, mit starkem Zauber auf die Gemüter zu wirken pflegt: der Glaube an das bevorstehende Erscheinen des Erlösers. Im Widerstrebendsten ist eine Ahnung des gewaltigen Geschehens, das sich kundgibt und für das politische und wirtschaftliche Gründe unzulänglichste, unbefriedigendste Lösungen zulassen. Die Angst vor dem noch tieferen Eindringen des verderblichen Opiats in den Volkskörper läßt die Führer des Bolschewismus ihre religiöse Mission leugnen – an die sie inbrünstig glauben. Dafür spricht die Hingabe, die sie bei der Erfüllung ihres Werkes an den Tag legen. Dafür spricht auch das sonst unbegreifliche Feuer, das sich von Moskau aus über den ganzen Erdball verbreitet hat.

Wenn die Adyar-Bewegung, die Theosophie, die neue aus Deutschland stammende Lehre der Anthroposophie unter den verzagten 226 Intellektuellen immer mehr an Bedeutung gewinnt, so verbreitet sich dafür unter dem niederen, dem emporgehobenen Volke der Glaube, daß ein Erlöser der Menschheit in der Person Lenins, den der Volksmund mit seinem Vatersnamen Iljitsch liebkosend nennt, bereits unter den Menschen weile. Ein Schicksalslicht aus Märtyrertum und Menschengläubigkeit webt um Iljitsch, der Hunger, Exil, Verfolgungen aller Art kennt, der verwundet worden ist von Kugeln und Flüchen. Die Gestalt Lenins, in dessen Natur der Fanatismus des russischen Bauern mit der Weltklugheit eines Führers der Massen sich auf seltsamste Weise paart, lenkt in Wahrheit zugleich die Schicksale des Volkes, dem er entstammt und die Welt zu einer neuen, erst in den nebligen Anfängen erkennbaren Gläubigkeit hin.

 

Zu den vier Kelchen, aus denen die Menschheit bisher Beseelung, überirdisches Labsal getrunken hat: den Feigensaft Buddhas, den Wein Roms, den Honig des Davidsohnes Christus, die Milch Mohammeds, fügt sich der fünfte – bis an den Rand gefüllt vom heilenden Wasser des Kommunismus. In diesem von Seufzern und Schreien widerhallenden Tränental, dieser von Not, Begeisterung und Verzweiflung geschüttelten Weit lebt ein starker Glaube an die Zukunft, ohne den kein Wesen auf die Dauer zu bestehen vermag; ein Jenseitsglaube, wie ihn kein Bekenntnis bisher den Menschen zu schenken vermocht hat. Dieser Glaube, der mit metaphysischer Gewalt von immer größeren Kreisen der Menschheit Besitz ergreift, ist:

der Glaube an die Weltrevolution. 227

 


 << zurück weiter >>