Arthur Holitscher
Drei Monate in Sowjet-Rußland
Arthur Holitscher

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Proletkult

Unter diesem Wort, einer Abkürzung der Worte »Proletarische Kultur« faßt man alle jene Bildungsorganisationen zusammen, welche gegenwärtig in Rußland sich das Ziel gesetzt haben, daß das Proletariat sich selber seine Kultur, eine neue Kultur schaffe, wie ja das Proletariat aus sich selber heraus eine neue Ökonomie und Produktionsweise zu schaffen bestrebt ist. Die Organisationen der Proletkult sind, wie aus dem Schema des Narkomproß ersichtlich, einer Sektion dieses Kommissariates, der Sektion »Bildung außerhalb der Schule«, untergeordnet. Diese Unterordnung vollzieht sich nicht ohne Spannung und Reibungen. Ja, es war wiederholt die Rede davon, daß die 97 Proletkult-Organisationen ihre Autonomie erhalten müßten, was sich aus den recht chaotischen Verhältnissen erklärt, in denen die Bildungsorganisationen Rußlands sich im allgemeinen befinden – aber vor allen Dingen und in erster Reihe aus dem noch im Zustande des Nebelflecks befindlichen Gebild der Proletkult selbst. Denn wenn es heute in Rußland eine Organisation gibt, die sich noch im Stadium eines völlig phantastischen utopischen Wollens befindet, so ist es die Proletkult-Organisation.

Grundideen der Proletkult sind: es soll eine Kritik der bürgerlichen Kultur gegeben werden.– Es soll aus dem Schatze dessen, was die Kultur der vergangenen Zeit hervorgebracht hat, das zur Verwendung ausgesucht werden, was für eine auf vollkommen neuer Basis erstehende proletarische Kultur verwendbar erscheint. Schönheit soll überall, wie das Bewußtsein der Menschenwürde und die Genugtuung an den Früchten der eigenen Betätigung, aus der Arbeit und der Gemeinschaft der Arbeitenden erblühen. Sie soll nicht dort hineingetragen werden, wo gearbeitet wird, sondern aus der Arbeit selber erwachsen und die Seelen der Arbeitenden erheben und beschwingen.

Die Schöpfer der Proletkult-Bewegung verneinen nicht das Hohe und Gute verflossener Kulturepochen. Aber warum hat die erdrückende Mehrheit des Volkes an den »Segnungen« dieser Kulturepochen bisher solch armseligen Anteil gehabt? Warum war sie, man kann es ruhig sagen, ausgeschlossen von dem Genusse dieser Kultur? Warum durfte sie nur, gleichsam auf der Straße stehend, die beleuchteten Fenster des Palastes sehen? Das kommt daher, sagen die Schöpfer der Proletkult, daß der Dichter, Künstler, der Gelehrte, der die Kultur der vergangenen Zeiten schuf, auch wenn er aus dem Proletariat hervorkam, für den Kaiser, den Papst, den Adel, zuletzt für den bürgerlichen Mäzen und Unternehmer, für das Publikum gewirkt und geschaffen hat. Jetzt soll das anders werden. Der Intellektuelle soll in der Masse, in dem zum Proletariat geeinten Volk aufgehen, und die Masse soll, groß, unnennbar und anonym, Schätze der Kultur fördern und hervorbringen, ihr eigener Künstler, Mäzen und Publikum werden.

Die Proletkult umfaßt zwei Arbeitsgebiete: die proletarische Hochschule und die Werkstätten für proletarische Kunst. Das Vage und nur noch im Gedanken Gefügte, das die ganze Proletkult in ihrem heutigen Stadium kennzeichnet, drückt sich in den Intentionen aus, die die proletarische Hochschularbeit bestimmen sollen. Die Wissenschaften sollen auf die Aufnahmefähigkeit einer großen, aus Analphabeten ebenso wie aus schon fortgeschrittenen Schülern sich zusammensetzenden Zuhörerschaft eingestellt sein. Es soll eine Darstellung der Methoden der Wissenschaft, eine Darstellung des Zusammenhangs aller Wissensgebiete, sozusagen das Schema der Organisation aller Wissenschaften gegeben werden. Mit anderen Worten: das aus wenig und ganz unvorbereiteten Hörern bestehende Auditorium soll sozusagen im Schnellzugtempo einen Aufriß der gesamten Wissenschaft vorgeführt bekommen.

Darstellung der Theorien und Erörterung des Kommunismus bilden den Kern dieser Vorträge. 99 Wenn also der Hörer, der den Kursus jungfräulichen Geistes betrat, die Universität wieder verläßt, nimmt er wohl einen unsicheren und ich fürchte gar bald sich verflüchtigenden Begriff von allen Gebieten menschlicher Erkenntnis mit, aber er geht, und das scheint ja die Hauptsache zu sein, als wissender, überzeugter und sattelfester Kommunist von dannen.

Die Vorträge an der proletarischen Hochschule stellen sich nicht als das dar, was sonst Vorträge an gewöhnlichen Hochschulen sind. Der Lehrer pflanzt sich nicht auf dem Katheder auf, um dem Schüler etwas beizubringen, was der Schüler noch nicht ahnt, der Lehrer aber bereits mit Löffeln gefressen hat, sondern der Lehrer ist ganz einfach Vorsitzender der Versammlung und Leiter der Diskussion, die sich an sein Referat anschließt. Es wird ein beliebiges Wissensgebiet dargestellt, erörtert, besprochen. Der Lehrer unterhält sich mit dem Schüler, und wo es der begabte Schüler kraft seines unverdorbenen und ursprünglich funktionierenden Denkapparates vermag, belehrt und unterrichtet er den Lehrer. Ein Seminar, wie man sieht. Der Leiter der Aussprache hat lediglich die Pflicht und den Beruf, die Hörer und Mitschaffenden dorthin zu lenken, wo er, im Besitze seines höheren Wissens und seiner tieferen Erfahrung, sie hin haben will. Vielleicht verhilft ihm seine Zuhörerschaft zu einem neuen Standpunkt, den er am Anfang der Aussprache noch gar nicht ahnen konnte – nun, um so besser für ihn und für die Wissenschaft. Werden durch die naive und gerade Denkfähigkeit des Arbeitergehirns neue Gesichtspunkte in die diskutierte Materie gebracht, so hat sich das 100 vage und gefährliche Gebilde der proletarischen Hochschule bewährt und gefestigt.

In solchen Kursen werden Instruktoren ausgebildet, die organisierte Arbeiter sind und bleiben. Alle möglichen Betriebe des weiten Landes schicken besonders befähigte und der großen Aufgabe gewachsene junge Arbeiter und Arbeiterinnen nach Moskau, Petersburg oder in eines der vielen Zentren der Proletkult, wo sie ausgebildet werden, dabei aber ihre Fabriktätigkeit nicht aufgeben, sondern in der neuen Umgebung weiter zu leisten haben.

Dies über die proletarische Hochschule. Sie zeigt genau, was die Proletkult eigentlich will: Kultur nicht von oben herab, sondern aus den Tiefen aufwärts schaffen und bilden.

Nun zum zweiten, dem weiten Gebiet der Künste.

 

Kunst soll . . . hier stocke ich schon.

Nein, so kann ich das nicht anfangen. Die neue Kunst, die neue Kultur der künftigen proletarischen Welt soll aus der neuen Gemeinschaft entstehen. Die Arbeit soll Grundlage und Nährboden und Ziel dieser neuen Kunst sein, so wie sie ja Grundlage der Ethik der neuen Zukunftsgemeinschaft sein muß.

Immer wieder betont der Ethiker der proletarischen Zukunft diese Notwendigkeit der Auflösung des Individualismus, des Aufgehens des Individuums in die Gemeinschaft. Sogar in eine sozusagen mystische, dem mittelalterlichen Kirchenkonzil gar nicht so unähnliche Körperschaft. Ja sogar in ein Gebild, wie es der antike Chor war!

Die Dichter der Proletkult sind orthodoxe 101 Marxisten. Ginge es nach ihnen, die Dichtkunst dürfte nur dem Ausdruck der reinen proletarischen kommunistischen Klassenideologie dienen. Also wiederholen wir ganz einfach: kommunistisches oder kollektivistisches Fühlen und ebensolche Produktionsweise statt der bisher geltenden individualistischen. – In diesem Sinne soll die Kunst der Zukunft aus dem proletarischen Geiste der Gemeinschaft, welcher sich am stärksten in den großen Fabrikbetrieben ausbildet und anzutreffen ist, erblühen – organisiert werden, wenn man das so nennen darf.

Eine Genossin erklärte mir einmal: daß der Säemann, der auf dem Felde einsam unter der Sonne geht und sein Lied im Rhythmus seiner Schritte und der Armbewegungen, mit denen er die Körner auswirft, singt, keineswegs jene Dichtung produzieren kann, auf die es der Gemeinschaft der Zukunft ankommt. Seine Art, sich zu bewegen, zu dichten und zu singen sei eine im höchsten Grade individualistische. Die Dichtungsform, die das Lied abzulösen berufen sei, sei der Gesang: der Gesang der Masse, aus dem Marschschritt gemeinschaftlich vorgehender Soldaten geboren oder aus dem rhythmischen Stampfen und Schwingen, von dem jeder mitgerissen wird, der längere Zeit in der Maschinenhalle einer großen arbeitenden Fabrik verweilt. Das Zusammenleben und Arbeiten im Betrieb, im Takt der surrenden Transmissionen und schlagenden Kolben, mit gleichbeschäftigten und gleichgestimmten Kameraden soll also den Rhythmus der Dichtwerke der Zukunft bestimmen, wie es heute den Geist der Organisation – und mit dem 102 Siege der Revolution das Schicksal der Menschheit bestimmt hat.

Zur Zeit meines Aufenthaltes in Moskau war zwischen den proletarischen Dichtern und den anderen, den »Intellektuellen«, ein heftiger Streit um ein neues Buch Valerian Brjussoffs, des Dichters, entbrannt. In diesem Buche wurden Gesetze der Metrik wieder verkündet und aufgestellt, gerade als ob nichts geschehen wäre, als hätte die Revolution gar nicht die Gesetze und Grundbedingungen aller menschlichen Betätigung und jeder die Gemeinschaft angehenden Produktion umgestoßen. Brjussoff und die hinter ihm verteidigten erbittert die Gesetze der Dichtkunst, die ihnen solide genug vorkamen, um etliche Revolutionen zu überdauern, sie verteidigten die Dichtkunst hartnäckig und todesmutig gegen die wild anstürmende Schar der proletarischen Dichter, die die Metrik samt allen anderen überlebten Formen einer bürgerlichen Weltanschauung in den Orkus geschleudert haben wollte.

Es gibt übrigens, und nicht erst seit Erschaffung der Proletkult, einen Rhythmus der Art, wie ihn das Gestampfe der Fabrik hervorzurufen imstande ist. Das ist der Rhythmus, den man im Russischen »Tschastuschka« nennt, ein dem Gassenhauer eigener oder ähnlicher Rhythmus, der aber doch nicht ordinär wirken muß, sondern eher populär, wild und kraftvoll. Es ist ein abgehackter Rhythmus, der sehr wohl das vorstellen kann, was die proletarischen Dichter oder die Theoretiker der Proletkult, die mit den proletarischen Dichtern oft ganz und gar nicht einig sind, sich unter der neuen Ausdrucksform vorstellen. Ich will, um die Tschastuschka dem 103 deutschen Leser rasch durch ein Beispiel zu erläutern, ein paar Zeilen hersetzen:

»Gleich muß ich in die Fabrik.
Komm, begleite mich ein Stück.
Seit im Land der Burschuj schweigt,
Wird bei uns nicht mehr gestreikt.«

Man sieht, die Zeiten der Verse: »Die Rose, die Lilie, die Taube, die Sonne . . .« sind vorüber. –

Der populärste Dichter, der Volksdichter des bolschewistischen Rußlands, Demian Bjedny, hat die Tschastuschka zu großer Wirkung erhoben. Bjednys Gedichte, Agitationsgedichte, Anfeuerungsgedichte sind an den Fronten in Millionen Exemplaren verbreitet; sie kleben auch, wenn sie sich auf aktuelle Ereignisse der inneren Politik beziehen, an allen Straßenecken der Städte.

 

Die Dichter der proletarischen Kunstbewegung führen die Linie, die von Whitman ausgeht und über Verhaeren zu den Expressionisten leitet, eine große Strecke weiter. Namentlich Verhaeren verherrlicht, wenn man der Meinung der jungen Russen Glauben schenken darf, wohl die Fabrik, aber – so sagen sie – er besingt in bürgerlicher Weise bloß das Produkt der Arbeit, die der Arbeiter in der Fabrik hervorbringt, und er meint dieses Produkt, wenn er die Arbeit besingt. Er besingt nicht die Fabrik selbst, nicht den Arbeiter, der in der Fabrik steht, nicht das Material, das er handhabt, mit dem er zu tun hat, ehe es noch eine Traverse, ein Automobil, eine Turbine geworden ist. Der proletarische Dichter aber tut gerade dieses. Er verherrlicht in pantheistisch anmutenden Hymnen das Einswerden der 104 Maschine mit dem Arbeiter, dem Körper und dem Geist des Arbeiters. Er verherrlicht den Prozeß der Arbeit, und außer dem Arbeiter gehört seine uneingeschränkte Liebe dem Material.

Der wertvollste Dichter dieser neuen proletarischen Dichtergeneration oder Schule ist Michael Gerassimoff. Ein junges, von Leidenschaft und Güte durchströmtes Gesicht, eine warme, überzeugte Stimme. Gerassimoff spricht vom Fabrikschornstein, der den Himmelsbogen entzweireißen will, vom eisernen Takt der Arbeiterwelle. Er verherrlicht Lenin, in dem er den Arbeiter sieht, dessen Herz im gleichen Rhythmus mit der Masse pulst; die Oktoberrevolution, die das große Rußland zur gemeinschaftlichen Aktion hingerissen hat, und deren Schwingungen die Welt in Bewegung gesetzt haben. Aus einem seiner Gedichte, der »Frühlingsfabrik«, setze ich ein paar, dem Wortlaut, nicht dem Rhythmus entsprechend übersetzte Strophen her:

»Im Eisen ist Zartheit, spielerische Schneeigkeit.
Im geschliffenen leuchtet Liebe, Abendrot, Austurm und die Müdigkeit des Schlafs.

Im verrosteten Bruch stockt Blut.

Im Eisen ist Kraft, denn mit seinem rostigen Saft
Hat das Erz Giganten großgezogen.«

Dann:

»Weiße Lohe, reifer Flachs,
Schneeiger Dampf in Kugelschwaden wie Schaum,
Wie ein brennender Haufen Heu
Wird der Hochofen von hehrem Licht beschienen!

In ihrem Erkalten knetet die Schlacke
Trauben aus rosigem Korall.
Der kleinen Lichter Mohnkörner zittern
In dem schwarzsteinernen Kristall. 105

Die Asche fliegt wie Silberstaub hinauf, erlischt –
Der Hochofen schüttelt von seinen Flügeln der Funken goldig roten Flaum.«

 

Im Zentral-Proletkult, der in Moskau in der Villa Morossoff untergebracht ist – diese Villa ist ein Alp, ein Monstrum an geschmackloser, protzenhafter Überladenheit, Kopie eines spanischen Schlosses in die nüchterne Wosdwischenka hinein gesetzt, Gotik und Maurisch und Renaissance durch- und übereinander, nachgemachte Muscheln, Taue und Schnecken aus Stein – man soll bei Morossoffs einst sehr gut gegessen haben – wo steckt ihr, meine Lieben, ich hoffe, es geht euch gut, irgendwo in Europa, Gruß von eurer Villa! – Aber ich muß von vorn anfangen.

Im Zentral-Proletkult kann man also zu sehen bekommen, was von den Intentionen der Proletkult momentan zu verwirklichen ist und zum Teil bereits verwirklicht wurde. Ich sah hier eine Aufführungsreihe des Proletkult-Klubs, und ich sah hier und anderswo Ateliers für Malerei und Skulptur der Proletkult. Hier läßt sich die Spannweite zwischen der Idee und der Durchführbarkeit genau verfolgen. Die Idee besagt: es sollen keine Künstler mehr den zur Kunstübung befähigten Arbeiter im Malen, in der Skulptur unterweisen, denn es käme dabei ja doch nur eine schlecht und recht zusammengeschusterte Schularbeit, nachgeahmte und von der Richtung des Lehrers beeinflußte Atelierkunst heraus. Sondern der einfache Arbeiter soll in seinen Mußestunden die Proletkult-Werkstätte aufsuchen, dort bekommt er Farbe, Pinsel und Leinwand, und dann soll 106 er sich zurechtstellen, was er malen will, oder seinen Freund, den Soldaten, oder seine Geliebte, die Arbeiterin, auffordern, ihm zu sitzen, und dann in Gottes Namen drauflos. Aber da die Ausstellungen von Werken der modernen, bildenden Kunst allen zugänglich sind, und der unverdorbene Arbeiter in ihnen alle Kapriolen der Expressionisten, Futuristen und Suprematisten nach Herzenslust studieren kann, so wimmelt die Werkstätte der Proletkult auch ohne direkte Unterweisung von seiten der Künstler von Bildern, die schiefe Tischplatten mit einem Teller Hering und einer im Dreiviertelprofil dargestellten Flasche zeigen, von pythagoreisch als Tangenten mit der Spitze in die Luft an quer durchschnittene Holzrahmen hingewehten, vierfach verknüllten Papiertüten in absoluter Farbe. Aber auch mancher brave, ehrliche akademische Porträtkitsch, mühsam hingepinselt und zu Ende gebracht, befindet sich in der Reihe der ausgestellten Kunstwerke.

Dabei macht sich der bittere Mangel an Material auch hier spürbar; es gibt keine Farbe, keine Leinwand, wenig Kreide oder Kohle, keinen Gips. Ein Gipsmodell muß gleich wieder zerschlagen werden, um für ein neues das Material zu liefern, Kartons sind vorn und hinten über und übermalt, die Werkstätten stehen jedermann frei – der Lust und Mut hat, bei 30 Grad Kälte und fehlenden Fensterscheiben Kunst zu produzieren.

Eine interessante und, wie mir scheint, fruchtbare Idee der Kunstberater der Proletkult-Bewegung ist: der Arbeiter soll versuchen und angehalten werden, aus dem Material, das er am Tage in seiner Fabrik verarbeitet, Kunstwerke zu 107 schaffen; der Metallarbeiter aus dem Eisen oder Messing, aus dem er Nägel und Zahnräder, der Holzarbeiter aus dem Holz, aus dem er Türen oder Stuhlbeine macht; auf diese Weise soll in dem Arbeiter ein neues Interesse an seinem Material, das er doch besser kennt als alle anderen, erweckt werden und aus der Kenntnis des Materials und der Liebe zum Material eine neue Form der Kunstbetätigung und, wenn möglich, Gebilde von künstlerischer Vollkommenheit erwachsen. Denn das weiß ja jeder Künstler, wieviel Freude und Anregung zum Schaffen das Material selber gibt, sei es nun der Stein, Ton, die Farbe oder das Wort. Hier – so denke ich – weist die Proletkult, ohne es zu wissen und zu wollen, einen Weg zu den elysäischen Gefilden Morris'. –

Die Klubarbeit der Proletkult ist eines ihrer hauptsächlichen und erfolgreichsten Betätigungsgebiete. Überall, auch in den kleinsten Orten Rußlands, in Dörfern und Flecken, gibt es proletarische Klubs, in denen junge Bauern, Arbeiter und Arbeiterinnen zusammenkommen, Vorträge anhören, diskutieren, in denen Theater gespielt, improvisiert, gesungen und getanzt wird und eine neue Geselligkeit sich bildet. Der Klubabend in der Villa Morossoff bot Darstellungen von ungleichem Wert. Es wurde da ein kleiner allegorischer Einakter von einem jungen Arbeiter gespielt, in dem vorgeführt wurde, wie die Entente den armen, unwissenden polnischen Arbeiter gegen den Roten Soldaten, der sein Bruder ist, vorwärts hetzt, und wie zuletzt der Rote und der Pole die Entente samt ihrem polnischen Schlachzizenlakaien über den Haufen rennen. Die 108 rhythmischen Übungen nach der Art des Dalcroze, die an und für sich wunderschönen Chorgesänge, wieder das Wolgalied, wieder die Internationale, boten eigentlich auch weniges, was mit der Proletkult und ausschließlich mit dieser zu tun gehabt hätte. Junge Arbeiter und Arbeiterinnen rezitierten Gedichte, die sie selbst verfaßt hatten. Wirklich schön und neu schien mir bloß eine Übung gesprochener Chöre zu sein, in denen aus Stimmwirkungen, Stimmklang und aus musikalischen, aber den Wortsinn nie verletzenden sondern heraushebenden Motiven Wirkungen erzielt wurden, die ein völlig neues Kunstgebilde aus einem neuen ansprechenden Massengefühl erstehen ließen. Das Gedicht, das auf solche Art rezitiert wurde, war eine Verherrlichung des populären Instrumentes der Ziehharmonika. Der Dirigent, der, wie mir gesagt wurde, diese neue Kunstgattung bis in ihre letzten Möglichkeiten erprobt und vervollkommnet hat, hieß Sergesnikoff.

 

Im Oktober tagte in Moskau der alljährliche Kongreß der Proletkult – die oberste Behörde der Bewegung selber. Es wurde da die Notwendigkeit erörtert, Klubs und Sektionen der Proletkult zu aktiverer Beteiligung an den großen offiziellen Festlichkeiten der Sowjets zu veranlassen. Die Kunst soll mit allen Mitteln zur Massenkunst und auf diesem Wege zur Monumentalkunst werden. D. h.: es sollen durch die Masse Wirkungen auf die Massen geübt werden. Ich sah dann eine solche Massenaufführung, an der sich die Proletkult mit Sprechchören beteiligt hatte, am dritten Revolutionsfeiertage in 109 Petersburg. Hierüber berichte ich sogleich. Vieles andere noch, eine Unmasse von Anregungen ging von diesem Kongreß der Proletkult aus.

Ich habe es selber erfahren, wie schwer Organisationen zur Schaffung proletarischer Kultur aufzubauen sind, ehe das Proletariat noch die politische Macht erobert hat. Aber auch in Rußland, wo das Proletariat die Macht bereits in Händen hält, bleibt die Proletkult von all' den schönen und hohen Dingen, die heute die Seelen des Volkes bewegen, das Schmerzens- und Sorgenkind der werdenden neuen Welt.

 


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