Arthur Holitscher
Drei Monate in Sowjet-Rußland
Arthur Holitscher

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Das Leben der Städte

Ein rasendes Sowjet-Auto holt mich vom Bahnhof ab; im Auto sitzt die Sekretärin aus Smolny, eine kluge, elegante Sowjet-Katze, die mir im Vorbeifliegen die Sehenswürdigkeiten des Newski-Prospekts erklärt. Dieser heißt jetzt übrigens Straße des 25. Oktober und auch die anderen Sehenswürdigkeiten sind neu benannt, sind andere, als die, über die mein Baedeker zu berichten weiß. Ich stecke daher das biedere rote Buch in die Tasche und werde es nur wieder hervorziehen, wenn es mich nach einer Stunde ungetrübter Heiterkeit gelüsten sollte. Es tut gut, sich zuweilen die Vergänglichkeit alles Irdischen aus einem so ernsthaften und aus sichersten Quellen gespeisten Werk, wie der Baedeker eines ist, zu Gemüte zu führen.

Hier, auf dem Platze hinter dem Katharinendenkmal ist das Alexandratheater: aber die junge Sekretärin weiß nur zu berichten, daß in jenem großen Gebäude die erste Sitzung unter Kerenski abgehalten wurde; nun fahren wir an der Kasankathedrale vorbei – die erhält ihre Bedeutung erst durch den Umstand, daß vor ihr die ersten großen Versammlungen unter freiem Himmel 156 stattgefunden haben – mit einem Schlag ist die Kathedrale im Nebel der Zeiten verschwunden. Volksgewühl steht auf, man hört Schreie, man vernimmt bereits die Klänge des heiligen Gesanges, der Internationale – und weiter, an jener Morskajaecke, wo einst die Stutzer und Dämchen des vornehmen Petersburg zu ihrem Konditor, ihrer Putzmacherin, ihrem Klub und ihren Rendezvous einzubiegen pflegten, tobte einer der entscheidenden Straßenkämpfe zwischen den Anhängern Lenins und der Provisorischen Regierung.

Da ich Petersburg zu Zarenzeiten nicht gekannt habe, will ich keine weiteren vergleichenden Geschichtsstudien und topographischen Experimente mit dem Baedeker unternehmen, um etwa dem Leser, der Petersburg aus eigener Anschauung kennt und zu erfahren wünscht, was aus dieser Stadt geworden ist, Seufzer des Abscheus und der Verzweiflung zu entpressen. Ich will vielmehr versuchen, darzustellen, welchen Eindruck Petersburg auf mich gemacht hat, diese allem Anschein nach westeuropäisch zugeschnittene Großstadt auf den Inseln; keine spezifisch russische Stadt wie Moskau, das einen Tag später in seiner barbarischen Herrlichkeit vor mir aufstehen wird, sondern eher eine nach der Schablone von Berlin, Paris, Stockholm zurechtgezimmerte Metropole mit überhitztem Luxus und depravierendstem Elend in ihren verschiedenen Vierteln.

Das erste, was einem auffällt, wenn man, wie ich, auf der Durchreise 24 Stunden in Petersburg verbringt, ist dies: es ist Sonntag, d. h. die Geschäfte sind samt und sonders geschlossen. Es ist wahrscheinlich Sommer, d. h.: die sogenannte »tote Jahreszeit«, denn von der 157 eleganten Welt ist nicht viel zu sehen. Arbeiter, Soldaten zirkulieren in den Straßen – es ist eine Proletarierstadt mit verlassenen Palästen und zugesperrten Läden. Erst wenn man an der Admiralität vorbei die Schloßbrücke am Newakai passiert und das Winterpalais des Zaren vor sich erblickt, erst da merkt man, daß sich in dieser Stadt etwas Außergewöhnliches zugetragen haben muß: hier sieht man nämlich Spuren; Spuren von Verwüstung und auch noch andere Spuren.

Die letzte Zarin der Russen, Alix von Hessen, hatte es für gut befunden, ein paar hundert Waggons aus ihrer Heimat nach ihrem neuen Wohnort mitzubringen, als sie das Darmstädter Idyll mit dem Petersburger Pulverfaß vertauschte. In diesen Waggons kamen rote Sandsteinblöcke, eine hessische Gesteinsart, nach dem Newakai, wo sie sauber behauen zu einer einige Meter hohen Mauer um das Gärtchen vor der Seitenfront des Winterpalais aufgeschichtet wurden, gegen die draußen vorüberwandelnden Menschen, vor deren Anblick die heimische Gesteinsart die Zarin bewahren sollte. Ihr Auge wollte auf rotes Gemäuer fallen, wenn sie in ihrem Gärtchen ging oder aus den Fenstern schaute und nicht auf den vorbeiwandelnden Untertan. An einem der ersten Sonntage nach der siegreichen Oktoberrevolution haben die Petersburger Arbeiter, Soldaten und Matrosen diese Mauer niedergerissen. Sehr glimpflich und akkurat scheint sich diese Angelegenheit nicht abgespielt zu haben, der hessische Sandstein liegt in wirren Trümmern verstreut vor dem Winterpalais und am Newakai umher, und das Gras wächst zwischen den Steinen. Es ist, rein vom koloristischen Standpunkt, ein erfreulicher Farbenfleck. An der 158 Ecke erhebt sich jetzt ein Rednerpult aus Brettern mit den Emblemen der Sowjets, indes auch dieses Brettergerüst ist schon verwittert und halb zerfallen.

Gras wächst in den Straßen Petersburgs! Jawohl, alter Petersburger, der du in Berlin, Paris und Genf emsig in die gegenrevolutionären Klubs läufst um die Rückeroberung Rußlands vorzubereiten – in Petersburgs Straßen und zwischen den Pflastersteinen der Zarenresidenz wächst Gras; es ist ziemlich hoch und sieht saftig grün aus. Und auf den großen Uferzeilen der Newa, die vom Winterpalais links hinunter an der Admiralität vorbei zum Hafen, rechts aber an den Palästen ehemaliger Großfürsten und weiterer höchsten Herrschaften vorbei bis zum Marsfeld sich hinziehen, liegen zwei Stockwerke hoch geschichtet Holzblöcke, denn der Winter steht vor der Tür. Hübsche junge Mädchen in guten Mänteln und Schuhen, fußfreien Knöchelchen und ganz niedlichen Hütchen auf den frisierten Köpfen bewachen die Holzhaufen. Diese Frauen haben Gewehre umgeschnallt (stochern zuweilen mit dem Bajonett in der Glut), und es ist wahrscheinlich, daß sie schießen werden, wenn jemand einen Holzstamm aus dem Haufen davonträgt. Indes, es kommt auch vor, daß sie am rechten Ende des Haufens ein kleines Stelldichein feiern und derweil am linken Ende jemand ungestraft mit einigen Scheiten davonläuft.

Das Marsfeld wird ebenfalls von einer grimmigen Soldatin mit Gewehr und Gamaschen an den fußfreien Knöcheln bewacht. Dieses Marsfeld, ein ehemaliger Exerzierplatz, auf dem einst zuweilen Spießrutenlaufen und ähnliche 159 militärische Festlichkeiten stattzufinden pflegten, ist jetzt in einen grandiosen Friedhof umgewandelt: in der Mitte des Platzes, der riesige Ausmaße hat, erhebt sich düster und schwer ein Viereck von mannshohen Mauern. Innerhalb dieser Mauern ruhen die Kämpfer für die Freiheit Rußlands. An den vier Ecken liest man die Namen Uritzky, Lichtenstadt-Masin, Wolodarsky, Nachimson. – –

Als ich zwei Monate später aus Moskau zu längerem Aufenthalt nach Petersburg zurückkehrte, hatte ich mich an den neuen Zustand schon einigermaßen gewöhnt. Es fiel mir nicht mehr so schmerzlich auf, daß ganze Straßen der Stadt von der Länge etwa der Leipziger Straße vollkommen leer und unbewohnt schienen, daß die ehemals vornehmsten Quartiere um die Mojka und Italianka ebenfalls verödet und verlassen dalagen, und man sich wundern mußte, wenn aus einem Fenster ein Mensch schaute oder hinter einem anderen Gardinen hingen – die Volksquartiere um das Taurische Palais und Smolny, wie auch jene auf der »Petersburger Insel« scheinen übrigens auch einen großen Teil ihrer Bewohner eingebüßt zu haben. Von den Holzhaufen waren, da der Winter eingesetzt hatte, bereits die obersten Lagen verschwunden. Der hessische Stein lag noch immer, wo er gelegen hatte, nur stachen die Spitzen des Grases jetzt aus einer dicken Schneeschicht in die Höhe.

Es nützt kein Leugnen: Petersburg ist eine erschlagene Stadt. Dies ist nicht mehr die von raffiniertester Üppigkeit und Verderbtheit durchparfümierte Residenz, an die sich seufzende Frauen und knirschende Männer in allen Hauptstädten Europas erinnern. Es ist eine erschlagene 160 Stadt, oder besser gesagt eine tief eingeschlafene, die auf Erwachen kaum noch hofft. In der Fontanka sind große Holzbarken versenkt; das Holz liegt noch über dem Eise, aber die Barke ist bloß mehr ein Geripp – die Handelsreihen, einst zum Bersten voll von allen Kostbarkeiten Okzidents und Orients, verwittern und verfallen . . . Aber wie sonderbar: hinter den grau verstaubten Schaufenstern sieht man noch alles, wie es vor jenem Oktober gewesen sein mag! In dieser Stadt, in diesem Lande der Not und des herzzerreißenden Mangels sieht man hinter Schaufenstern feine Hemdchen, Spitzenhäubchen aus zartem Stoff, Pyjamas und allerhand kostspielige Modestücke, tausend andere nützliche Sachen noch außerdem. Die Scheiben sind grau, aber sie sind heil. Wie sonderbar – hier scheinen keine Einbrüche stattzufinden, wie in Städten, in denen der Kapitalismus Waren und Waren auf den Markt schleppt und die Schaufenster, vor denen der Arme sich füglich den Mund wischen darf, blitzblank geputzt sind.

An diesem und anderem, an diesen verlassenen, aber noch von früherem Leben zeugenden Verkaufsläden, an den langen stockfinsteren Straßenzügen, die doch noch Spuren ehemaligen intensivsten Verkehrs tragen, kann man erkennen, daß dieser um ein Drittel ihrer Bevölkerung reduzierten Proletarierstadt mit nur hier und dort versprengten und zurückgebliebenen Nestern scheuen Bürgertums ein Dornröschenschicksal beschieden wurde. Fraglich bleibt es nur: wer der Märchenprinz sein wird, der dieses Dornröschen einst aufweckt. Prinz Kapitalismus etwa? Ach nein, ein forscher Proletarierprinz. 161

 

Moskau liebe ich inniger als Petersburg. Zwar in Petersburg laufen noch die Trambahnen, klingeln noch die Telephone; das Pflaster ist ebener und menschlich; auch kann ich, wenn ich im Smolny bin, Tür an Tür alles beisammen finden, wonach ich mir in Moskau, in den Volkskommissariaten an allen vier Ecken der Stadt die Füße wund und die Lunge aus dem Halse rennen muß. Aber diese Märchenstadt Moskau, dieses unerhörte orientalische Märchendorf mit seinen vierzigmal vierzig Kirchen ist ein chimärischer Zauber, in dessen Bann man tief und schmerzhaft noch monatelang fiebern möchte. Habt ihr schon einmal Kirchen gesehen, die mitten auf der Straße stehen und nicht höher sind als ein Stockwerk hoch vom Fundament bis zur Turmspitze? Aber es ist nicht eine Spitze, sondern es sind ihrer fünf. Wie Pilze sitzen die Türme auf den bunten Dächern. Da seht ihr Helme mit goldenen Sternen auf himmelblauem Grund und rote mit Stacheln wie der Rücken des Basilisk und schneeweiße Pilzköpfe mit kleinen silbernen Ornamenten und schwergolden gleißende, deren Licht in der prallen Wintersonne die Augen aussticht – und auf all' diesen Pilzen, Hauben, Helmen stehen nach Osten gerichtet große Kreuze, die mittels zarter goldener Filigranketten an die Türme angekettet sind.

Die Kirchen, die Klöster, die Dome Moskaus! Die vierzigmal vierzig Kirchen! Und vor allem dieses nie erhörte, nie erträumte, in Scharlachfiebern ausgebrütete, zusammenphantasierte Winkelwerk, die göttliche Berserkerei dieser besessen ineinandergewühlten, durcheinandergekneteten, mit einem Krach auf den Platz vor dem Kreml hingeknallten Basiliuskathedrale! Man fällt auf 162 den Rücken, wenn man sie an einem farbigen Herbstabend zum erstenmal erblickt, wie sie im Scheine der untergehenden Sonne sprüht und flammt und aufglüht und erlischt! Wie soll ich diesen asiatischen Götterspuk schildern? Hundert Schritte führen einen um die ganze Kirche herum, aber sie hat eine unzählbare Menge Türme, kleine, große. Sie scheinen aus dem verwinkelten Gebäude hervorzuwachsen, zu schießen, während man um es herumgeht. Immer noch ist ein Turm da, ein Turmhelm, ein Knauf, den man nicht gesehen hat und eben erst bemerkt – er muß also soeben aus dem Gewinkel hervorgewachsen sein! Da sind Türme, die die Form einer Ananas haben, rotbraun und mit goldfarbigen Rhomben auf der Oberfläche. Daneben sieht man eine verdrehte Zwiebel aus gelb und grünen Korkzieherwülsten. Ein Turm ist ein Stachelschwein mit gemeinen Wehrvorrichtungen auf der Hornhaut. Da gibt es Turbane und Göttermäntel. Man ist schwindlig vor Bewunderung, wenn man einigemal um diese byzantinische Orgie herumgelaufen ist, und der Blick sucht, um für einen Augenblick zu verweilen, einen Ruhepunkt. Er findet ihn auf der Senatskuppel im Kreml, jenseits der Mauer, drüben hinter jener Mauer, die einst weiß war und jetzt rot ist – und auch von dieser Kuppel weht es rot – seht, dort flattert im Abendwind die Purpurfahne der Sowjets!

Der Kreml. Von Mauern umfriedete Hochburg der Zaren, geheiligter Ort unheilvoller Traditionen, Hort der Tyrannei einst, nun Wiege des neuen Glaubens, einer jungen Freiheit, Hirn der Weltgeschichte; ehemals von Heiligenbildern über jedem Tor behütet, heute von rasenden 163 Automobilen durchzuckt und widerhallend vom Lärm und Kommandorufen der marschbereiten Roten Armee. Zwischen den Türmen, die nach dem Roten, d. h. dem Schönen Platz gegenüber den ebenfalls erschlagenen Handelsreihen weisen, trägt die Kremlmauer Spuren von Gewehr- und Artilleriefeuer. Das Senatsgebäude hat tausend Pockennarben abbekommen, die Mauer berieselte Ziegelblut. In Petersburg haben die Geburtswehen nur drei Tage gedauert, in Moskau tobte der Kampf zehn Tage hindurch, und in dieser Frist entschied sich das Schicksal der Welt.

Moskau lebt sein zähes Leben, während Petersburg tot ist. Die Zusammenziehung sämtlicher Ämter des Landes hat eine Hochflut von Menschen über Moskau ausgegossen, die zwischen den Mauern brandet und nicht zur Ruhe kommt. Ein anderer Menschenschlag ist es, der einem in Moskau begegnet, als der von Petersburg es ist. Plätze, Straßen, Theater, Versammlungen haben ein anderes Gesicht. Hier sprenkeln nicht Überreste der ehemaligen Bourgeoisie das Arbeitervolk, sondern es macht sich ein stark bürgerlicher Einschlag bemerkbar, ein Element, das sich mit sicherem Nachdruck zu regen und geltend zu machen strebt, und dessen Dominieren zuweilen dem Grundcharakter des sozialistischen Staatswesens Hohn spricht.

Man leidet in Petersburg wie in Moskau – aber ich glaube, in Moskau vollzieht sich das Leiden insgeheim doch in wütenderen Formen, widerspruchsvoller, erbitterter und gefährlicher. Die Kleider, die die Menschen abtragen, sind noch gut; sieben Jahre oder drei haben sie nicht zu Fetzen zerrissen. Auf den Promenaden, den Boulevards, die in 164 konzentrischen Kreisen um den Kremlhügel an der Moskwa gelegt sind, sieht man noch harmlose Spaziergänger, die weiß Gott auf welche Art über Zeit und Muße zu verfügen scheinen; wenn man nicht wüßte, um was es in dieser Stadt, diesem Lande geht, man müßte zuweilen baß erstaunt sein. Doch ist die Twerskaja, die berühmte Straße der Flaneure, jetzt eine Arbeiterstraße geworden, Arbeitervolk flutet an dem Revolutionsobelisken vorbei, der an Stelle des Skobeleff seinen Kunststeinkörper mit der Carpeaux schlecht nachgeahmten Freiheitsgöttin schwerfällig über die Häuser hebt.

Prostitution gibt es nicht mehr in der Form, wie sie vor der Revolution bestanden haben mag, frech und zynisch am hellen Tage. Indes, sie ist, ist geblieben, unterirdisch, diffus und unkontrolliert, und es gibt sogar, es ist schaurig zu sagen, Kinderprostitution.

Fragt ihr mich nach dem Alkohol, so sage ich euch: ich habe in den drei Monaten in Rußland keinen betrunkenen Menschen gesehen. Es gibt Betrunkene, das ist sicher, aber sie sind auf den Straßen und in der Öffentlichkeit nicht mehr zu sehen. Darf man Rußlandkennern, der Literatur, den Fachkundigen, Ethnographen, Reisenden Glauben schenken, so lagen ehemals die Rinnsteine der Städte voll von betrunkenem Volk, Männern und Weibern, man stolperte über ekle Tiere von nur entfernt an Menschen gemahnender Gestalt. Die Jahre des Krieges haben dem Alkoholismus Rußlands einen Stoß versetzt, die Jahre seit der Revolution aber haben den Gott Wodka entthront und verjagt, und das Volk der Erde, das am tiefsten erniedrigt war vor allen, durch das 165 Staatsmonopol für Branntwein, wie durch alle anderen Monopole zur Verdummung, Bestialisierung der Massen, zur Gefügigmachung des einzelnen wie der Gesamtheit zu Zwecken der Staatsinfamie, heute trinkt es Tee, wenn es seinen armen verhungerten Körper gegen die Unbilden der Witterung schützen will.

Mit einem Juristen und einem höheren Beamten des Volkskommissariats für Rechtspflege wohnte ich einer Sitzung des »Narodny Sud«, des Volksgerichts, bei. Volksgerichte gibt es in allen Straßen; ihre Zusammensetzung ist eine höchst einfache: den Vorsitz führt ein verläßlicher, gerechter und ehrlicher Mann mit gesundem Menschenverstand und erprobter sozialistischer Gesinnung, der auch irgendeine Funktion im Volkskommissariat innehaben mag; Beisitzer sind zwei als anständig angesehene Arbeiter von einwandfreier Lebensführung, ein Mann und eine Frau. Im Volksgericht, in dem ich Zeuge einer Verhandlung war, hatte die Gewerkschaft der Postbeamten beide Beisitzer gestellt. Jedermann ist der Zutritt zu den Verhandlungen frei, auch kann jeder von der Straße Heraufgekommene sich von der Bank der Zuhörer erheben und den Angeklagten verteidigen.

Der Fall, den ich mit meinen Freunden zu hören bekam, betraf einen Zahnarzt, der unter Alkohol einem Kutscher ein paar Zähne eingeschlagen hatte. Es handelte sich bei diesem Straffall aber nicht allein um die wenig menschenfreundliche, dem innersten Berufe dieses Gerechten einigermaßen widersprechende Betätigung, sondern hauptsächlich um penetranten Fuselgeruch. Der mißhandelte Iswostschik – ein Schuft übrigens, ich 166 wette, denn ich kenne jetzt die Moskauer Kutscher: sie verlangen »Pitiorka«, d. h. 5000, wenn du sie anrufst, geben sich dann mit 3 zufrieden, aber wenn du am Ziel angekommen bist, leugnen sie es hartnäckig ab und beharren weiter bei 5! –, dieser wohl rechtens mißhandelte Kutscher also rief die Miliz herbei, und auch die Miliz konstatierte intensiven Fuselgeruch aus dem Munde des schimpfenden Zahnarztes, der sich dazu nicht allzu sicher auf seinen Beinen hielt. Draußen im Wartezimmer erlitt während der Verhandlung die schwangere Ehefrau des Arztes einen schaurigen Schrei- und Weinkrampf. Die geringste Strafe für das Delikt, nach Schnaps zu riechen, beträgt ein Jahr Gefängnis. Mit solchen drakonischen Maßnahmen hat die Sowjet-Regierung die Trunksucht, das Urlaster des Russen innerhalb dreier Jahre fast vollkommen ausgerottet. Man zog uns zur Verhandlung über das Urteil zu. Die Genossin Postbeamtin war für Verurteilung des Arztes, wie überhaupt die Frauen in solchen Gerichtshöfen, zumal wenn es sich um Trunkenheit handelt, immer die unerbittlichsten Richterinnen zu sein pflegen. Wir erwirkten es nach langer Debatte, hauptsächlich unter Hinweis auf den Zustand der Ehefrau, daß der Arzt zu einer befristeten Zwangsarbeit verurteilt wurde: er mußte 6 Wochen lang in einer zwei Stunden von Moskau entfernten Waldstelle täglich 6 Stunden lang Holz fällen und spalten, durfte übrigens zu Hause wohnen und am Abend Zähne ziehen – er war, als ihm dieses milde Urteil verkündet wurde, sichtlich überrascht und erfreut und zog unter Dankbezeigungen ab.

Der folgende Fall verlief etwas bitterer: Ein 167 junges Mädchen aus der entthronten Bourgeoisie, zurzeit Aufseherin in einer öffentlichen Speisehalle, hatte die Bezugskärtchen, die ihr drei arme Dienerinnen-Kolleginnen zum Bezuge von Kleiderstoffen aus dem Magazin der Verteilungsstelle anvertraut hatten, angeblich verloren. Sie verwickelte sich beim Verhör in Widersprüche. Es war offenkundig, daß sie die Kärtchen oder die Stoffe für sich verwendet hatte. Sie wurde verurteilt, innerhalb vier Wochen Waren oder Kärtchen zurückzuerstatten oder auf 6 Monate in das Konzentrationslager zu wandern.

 

In Moskau sieht man viel Landbevölkerung. Sie strömt nicht nur in die Stadt, um hier Schleichhandel mit den verhungerten Einwohnern zu treiben, sondern im Gegenteil: der Hunger ist es, der sie in die Stadt jagt. In dieselbe Stadt, die sie, wenn daheim die Ernte gut und üppig ausgefallen ist, gern verelenden läßt. Dieses Jahr hat manchem Gouvernement furchtbaren Mißwachs gebracht, damit distriktweise Hungersnöte, wie sie das arme Land seit Jahrzehnten nicht erlitten hat. Staatliche Musterfarmen haben Saatkorn unter die Bauern notleidender Provinzen verteilt, aber statt es zu säen, haben es die Bauern, man weiß nicht recht, aus Bosheit oder Dummheit, gemahlen und verzehrt. Die Bolschewiki haben einen harten Kampf zu führen . . .

Gegen den unsinnigen Ansturm der verelendeten Bauernschaft wehren sich die hungernden Städte, wie sie können. In einem Moskauer Kindergerichtshof wohnte ich einer unvergeßlichen Szene bei: Eine Bäuerin aus Tula, eine schöne stattliche Frau, war mit ihren zwei kleinen Kindern 168 und einem Korb Äpfel, ihrem einzigen Besitz, nach Moskau gekommen. Als die Äpfel verkauft waren und der Erlös verzehrt, hatte die Miliz die armen Menschen in den Parks des nördlichen Moskau umherirrend angetroffen. Das ältere von den beiden Kindern, ein siebenjähriger Knabe, hielt sich mit Mühe aufrecht; das jüngere, ein zweijähriger, schien rosig und rund – wenn man näher hinsah, bemerkte man die unnatürlich gedunsenen Gelenke, Arme, Beine, Bauch, Gesicht wie Kürbisse angeschwollen – Oedem. Der Frau stürzten die Tränen aus den Augen. Sie heulte vor Schmerz und Angst; man mußte sie heim nach Tula schicken, ein Exempel war zu statuieren; mein Leben lang werde ich mich an den Ton erinnern, den Laut eines armen verendenden Tieres.

Im selben Gerichtshof waren, zwischen Bajonetten, einige kleine Spekulanten erschienen, Schulkinder, die ihre Schule gar nicht zu schwänzen brauchten, denn sie war ja wegen Mangels an Brennholz geschlossen. Einem von diesen Kleinen, einem zehnjährigen geweckten Knaben, dem das Verhalten vor Gericht schon vertraut zu sein schien, wurden mit einer Schachtel Zigaretten 30 000 Rubel abgenommen.

 

Der Winter war gekommen und das Leben wurde härter. In den Kommissariaten sah man Hände, die wie Hummerscheren aus dünnen Ärmeln hervorstachen. Die verdorbenen Heizungsröhren gestatteten oft keine, wenn auch noch so geringe Durchwärmung der riesigen Häuser. Viele Holzhäuser wurden abgebrochen, man passierte mitten in der Stadt verwüstete Gassen. Das Bauholz wurde verheizt. Abends, sobald es 169 dunkelte, konnte man gutgekleidete Frauen auf diesen Trümmerstätten Holz, Tapetenfetzen und Ziegelsteine sammeln sehen. Ziegelsteine braucht man in den Zimmern, um das eiserne Öfchen auf sie zu stellen. Ich fragte auf dem Markte nach dem Preis eines solchen Öfchens, das nicht größer als ein Zylinderhut war: 70 000 Rubel. Dies war noch spottbillig im Vergleich zu der so nötigen Röhre. Der Preis einer solchen stieg ins Unglaubwürdige!

Schon konnte man in den Straßen Menschen beobachten, die, vor kleine Handschlitten gespannt, den Strick um Hüften oder Schultern gewunden, durch die Stadt nach den weit draußen liegenden Friedhöfen trotteten. Auf den Schlittchen waren Särge festgebunden; die Leidtragenden hatten sich ihrer Mutter oder ihrer Ehefrau vorgespannt, niemand regte sich weiter darüber auf. Ehemals waren es festliche weißlackierte Fourgons, die die Leichen an ihre Ruhestatt brachten. Man sah noch viele von diesen weißen Wagen durch die Straßen rollen, indes sie dienten jetzt den Lebenden: auf ihnen häuften sich Säcke, Kisten, Fässer. – Es versteht sich von selbst, daß man über derartige Dinge nicht viel Tränen vergießen darf. Wohin käme man, wollte man an Derartiges viel Gefühl und Lebensenergien verzetteln? Die unbegreifliche Fähigkeit des Russen, zu dulden, zu ertragen, manifestiert sich ja auf Schritt und Tritt. Sie zeigt sich bei diesem gottgläubigen und nach Göttlichem hungernden und dürstenden Volke auch in der namenlosen Gleichgültigkeit gegen fremdes wie gegen eigenes Leiden.

Ich erzählte bereits, wie ich in einer Nacht, in der peitschender, ätzender Frost die 170 schneebedeckten Straßen in Eis verwandelt hatte, hinfiel und Knie und Armgelenk verletzte. Bei dieser Gelegenheit habe ich eine kleine Studie für mein Buch gemacht. Mit geringer Energie hätte ich mich nämlich sofort erheben können, blieb indes liegen, und zwar etwa vier Minuten lang, um zu sehen, ob jemand mir zu Hilfe kommen würde. Ich lag mitten auf der Straße da, als hätte mich der Schlag gerührt, oder als sei ich gestorben: eine rechtschaffene Leiche mitten auf einer der belebteren Straßen des nächtlichen Moskau. Aus dem Augenwinkel vorsichtig in die Höhe lugend, bemerkte ich ungefähr dreißig Paar Stiefel, die an mir vorbeistapften, schlurften, stiegen und stelzten. Keinem dieser etwa dreißig Menschen fiel es ein, sich zu mir niederzubücken, mich aufzuheben. Ich sagte: Gut, ihr Schurken, das kommt in mein Buch! Als ich mich dann aufrappelte und beim nächsten Schlittenstand, zum erstenmal ohne zu handeln, in ein Gefährt hineinschleppte, war aber mein Groll bereits verflogen. Ich konnte es mir ja ausmalen, was das bedeutete: sich mit einem Toten auf der Straße abzugeben. Da mußte die Miliz gerufen werden; da gab's Begegnungen mit den Behörden, am Ende mußte man gar noch der Außerordentlichen Kommission Namen und Wohnung angeben – da ließ man besser die Toten ihre Toten begraben.

 

Über Nacht wurden in Sowjet-Rußland die Geschäftsläden, Magazine, Warenhäuser zugesperrt. Wie man Revolutionen nicht ansagen darf, so darf man auch die Todesstunde des Privatkapitals nicht vorher umständlich bekanntgeben. Hätten die Sowjets verkündet: am 23. 171 werden wir dem Kapitalismus den Garaus machen – ein riesenhaftes Hamstern hätte angehoben, der kapitalkräftige Teil der Bevölkerung wäre im Handumdrehen Herr über alle in Läden, Warenhäusern und Magazinen aufgestapelten Vorräte geworden, der Staat aber hätte zusehen dürfen, auf welche Weise er die Arbeiterschaft mit dem verfügbaren Nötigsten jahrelang beliefern könnte. So hat man dem Handel ohne viel Federlesens einfach den Hals umgedreht, Lebensmittel, Waren, alles Rohmaterial mit Beschlag belegt.

Trotz dieser energisch und zielbewußt durchgeführten Maßregel ist noch genug verschwunden, versteckt und über die Grenzen getragen worden. Mangel an dem Nötigsten hat auch hier und dort schon ein gewisses Schwachwerden des Prinzips der Zentralisation gezeitigt; es gibt Straßenmärkte, die die Regierung duldet, und in verkehrsreichen Straßen stehen sogar Läden offen, in denen man wieder Lebensmittel und auch noch alles mögliche andere kaufen kann. Daß die Behörden gegen diese Verletzung einer der fundamentalen Gebote der Gemeinwirtschaft nicht mit Feuer und Schwert losziehen, ist wunderlich und kann nur aufrichtig bedauert werden. Korruption korrumpiert weiter, ich habe das an mir bemerkt.

In Moskau habe ich einige von diesen postkommunistischen Verkaufsläden gesehen, in Petersburg einen. In diesem letzteren waren merkwürdigerweise Kompasse, Zigarrenspitzen aus Meerschaum und Benzinfeuerzeuge zu kaufen – während in den Moskauern zierliche, nach der letzten Pariser Mode entworfene Damenhütchen, dann frische Blumen – Chrysanthemen zu 10 000 Rubel – und andere Bedürfnisse der alten oder 172 auch der neuen Bourgeoisie befriedigt werden konnten. In dem Laden, der mein Gewissen arg belastet hat, gab es Kuchen, Speck, Käse und Konserven zu kaufen, und ich habe dort meine Kost zuweilen aufgebessert, indem ich alle paar Tage einmal ein gebratenes Huhn für 7500 Rubel erstand. Dieser gegenrevolutionären Handlung machte ich mich nicht ohne Not schuldig. Wir bekamen in unserem Hause, in dem wir, allerdings frierend, aber in sehr schönen Räumen untergebracht waren, tagaus, tagein nichts anderes zu essen als torfartiges Brot, sehr wenig Butter, schmutzige Zuckerstückchen, die sich seit Ausbruch des Krieges an allen Fronten herumgewälzt haben mochten, und die man in die Backe schieben mußte, um den dünnen Tee über sie zu spülen, einmal am Tage ganz durchsichtige Gemüsesuppe und außerdem Kascha, Kascha, Kascha. Kascha ist Grütze. Ich weiß nicht, aus was für Hülsen von Hülsenfrüchten die Kascha hergestellt war, die wir in Moskau monatelang zu essen bekamen. Früchte waren es nicht, sondern Hülsen; es mag aber auch Baumrinde gewesen sein. Unsere Kascha hatte zuweilen eine Färbung, deren Ursprung in der Botanik nur schwer zu lokalisieren sein dürfte. Fleisch und Kartoffeln gab es äußerst selten, noch seltener eine Konservenbüchse mit Fisch oder ein Stück Käse. (Ging man indes mit Kommissaren auf Reisen, so wurde einem vom Kommandanten auffallend reichlicher Mundvorrat mitgegeben.) Mein Zimmernachfolger wird versteckt im untersten Schiebfach eines prächtigen Rokokoschrankes sieben sauber und in aller Heimlichkeit abgenagte Hühnergerippe vorgefunden haben.

Einige Worte über die Belieferung der Städte 173 mit Lebensmitteln. Wie leben die Städte, da der Bauer den Kommunismus gar nicht oder doch nur gezwungen anerkennt, keine Veranlassung sieht, für den Staat mit Begeisterung zu pflügen, zu säen, zu ernten, Vieh zu züchten, zu melken und herzugeben – zumal er für seine Produkte Sowjet-Geld erhält, daran ihm nichts gelegen ist, und keine Schuhe, Kleiderstoffe, Mützen, landwirtschaftliche Geräte, ja nicht einmal Heiligenbilder und Lämpchen davorzuhängen . . .

Die Bauernfrage ist, soweit man das aus den schweren und fortgesetzten Kämpfen, die sich in den Sowjets und der Exekutive um sie abspielen, eine der brennendsten, im Zustand der täglichen Wandlung begriffenen Angelegenheiten Rußlands und des ganzen Systems der bolschewistischen Wirtschaft.

Das Problem klärt sich, wenn man die Ursachen der Not des Landes nennt und wiederholt: zaristische Mißwirtschaft, Weltkrieg, Blockade und wiederum Krieg. Der Bauer gibt lange nicht genug her von dem, was die Regierung ihm notgedrungen als sein eigen überlassen hat, und es ist nicht gut möglich, seine Produktion zu kontrollieren. (In der ersten Phase der bolschewistischen Wirtschaft geschah dies durch die Kontrollbehörden der Dorfarmen.) Gäbe es keinen Krieg, keine Blockade, das Übel wäre über Nacht behoben; die Industrie funktionierte, und der Bauer erhielte statt des unbeliebten und wertlosen Sowjet-Geldes, auf dem in neun Sprachen die Mahnung: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« aufgedruckt steht (der Bauer aber hält sich keineswegs für einen Proletarier, er besitzt, er sitzt auf seinem Stück Land!), Schuhe, Kleider, Mützen und Gerät. Gäbe es keine 174 Blockade, die Regierung könnte die Elektrisierung Rußlands durchführen, Gasolinmotore importieren oder bauen, die sie großen Komplexen landwirtschaftlicher Kooperativgemeinschaften zur Verfügung stellen würde, so daß nicht jeder kleine Bauer sein eigenes bißchen Land mühselig mit Dornpflügen zu bestellen (oder brach liegen zu lassen) brauchte, sondern, wie das z. B. in Kanada geschieht, ein riesiges Territorium von Tausenden von Quadratwerst in kürzester Zeit gemeinschaftlich umbrochen und gemeinschaftlich abgeerntet werden könnte.

So ungern ich mich des Hilfsmittels der Statistik bediene, bleibt mir doch nichts übrig, als hierher zu setzen, was mir in der Petersburger Kommunalbehörde zu diesem wichtigen und verhängnisvollen Kapitel mitgeteilt wurde, und was ich mir sorgfältig aufgeschrieben habe. Der Bauer darf monatlich 40 Pud Mehl und ein geringes Quantum anderer Produkte behalten. Es ist ihm vorgeschrieben, welche Mengen Getreide und sonstiger Produkte er abzuliefern habe. Im ersten Jahr der Revolution sollen 30 Millionen Pud Getreide abgeliefert worden sein, im zweiten 150 Millionen, im dritten 250 Millionen. Der Voranschlag für das Jahr 1920/1921 ist 450 Millionen. Im ersten Jahr der Revolution mußten 90 Prozent der ziffernmäßig eingeforderten Vorräte mit Anwendung von Gewalt den Bauern abgenommen werden. Im dritten nur mehr 20 Prozent. Der Gründe, die den Bauer gefügiger machten, tat ich im Kapitel vom Roten Heer Erwähnung. Besonders die Ukrainer Bauern, die zu Aufständen nur zu geneigt sind, verursachen der Sowjet-Regierung höllische Sorgen. Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, was ein 175 ukrainischer Lehrer auf dem Moskauer Kongreß der professionellen Schulen über die Arbeit und die Erfolge seiner Schule vorbrachte: dieser Lehrer kam aus einer Gegend der Ukraine, die innerhalb von 2½ Jahren die Regierung zweiunddreißigmal gewechselt hatte . . .

Ebenfalls aus dem statistischen Material der Petrokommun stammt eine Notiz über die erreichten Kalorienziffern bei der Belieferung verschiedener Bevölkerungskategorien. Bei der Belieferung der Kinder war von dem zur normalen Ernährung des menschlichen Körpers nötigen Quantum das Maximum von ungefähr 68 Prozent erreicht. Das Minimum bei der Belieferung der Bourgeoisie betrug etwa 47 Prozent. (Die mir angegebene sehr niedere Grundziffer der erforderlichen Gesamtkalorien war nicht glaubwürdig.)

Lebensmittel und sonstige Belieferungskarten werden durch Hauskomitees auf Grund einer Registration nach dem individuellen Arbeitsbuch verteilt. Dem Hauskomitee ist das Rayonbureau, diesem das Zentralkomitee übergeordnet. Der Schwerarbeiter, nach der Art seiner Beschäftigung in die Kategorien A, B, C eingeteilt, erhält seine Lebensmittelzulage von seiner Gewerkschaft, nicht durch das Hauskomitee zugewiesen. Die oberste Kategorie, A, bilden Eisen- (Putilow), Erd- und Transportarbeiter. Von 400 000 Petersburger Arbeitern gehören dieser Gruppe etwa 127 000 an. Als ich mich nach den zur Erhaltung des Lebens eines Intellektuellen nötigen und den ihm zugebilligten Kalorien erkundigte, antwortete man mir mit dem »akademischen Pajok«, einer, wie ich erfuhr, recht fragwürdigen Zulage.

176 Wer sich im Laufe dieser Darstellungen über die hier und dort verstreuten exorbitanten Summen empört hat, die als Preise für Lebensmittel genannt sind, möge bedenken, daß die auf reguläre Karten erhältlichen Quantitäten monatlich insgesamt etwa 300 bis 400 Rubel, also verhältnismäßig äußerst wenig kosten, während die gleiche Menge im Schleichhandel erstanden etwa 100 000 Rubel kosten würde. Es geschieht lediglich aus Gründen der Verrechnung, wenn die rationierten Lebensmittel oder Gegenstände überhaupt noch nach Rubeln bewertet werden. Seit dem 1. Januar 1921 ist ja das Geld in Rußland abgeschafft. Auf Grund seines Arbeitsbuches sind jedem Arbeitenden Lebensmittel, Wohnung, Gas, elektrischer Strom, Heizmaterial, Telephon, Trambahnfahrt, Eisenbahnbillette usw. kostenlos zugesichert – diese Reform soll durch den Nationalisator der Banken und Finanzinstitute Rußlands, Larin, durchgeführt worden sein – ein Schritt weiter auf dem Wege zur Reinigung der Arbeit von dem Odium der zahlenmäßigen Bewertung. Es bleibt zu hoffen, daß günstigere Verhältnisse die Durchführung all' dieser entschiedenen Reformen zulassen und das Versagen des Systems nicht, wie schon so oft, Schleichhandel und Korruption fördert.

In den städtischen Speisehallen, die gelegentlich durch Schmutz auffallen und Herde der Infektion genannt werden müssen, habe ich zuweilen zu Mittag gegessen oder zugesehen, wie andere es taten. Es gibt verschiedene Kategorien solcher »Stolovajas«. In den gewöhnlichen bestand das Essen aus einer dünnen Suppe mit irgendwelchen grauen Klößchen, einem halben 177 Hering, einem Stückchen Gurke und einer kaffeeartigen Ersatzbrühe. In den Kinderspeisehallen war die Nahrung reichlicher, es gab da Gemüse, auch schienen die Speisen besser zubereitet. Auch diese Anstalten sind in Petersburg ordentlicher geführt als in Moskau, wo asiatische Nachlässigkeit mit einer fröhlichen Unbekümmertheit um das Erdulden in Gestalt der berühmten »schirokaja natura«, der »breiten Natur« des Russen dich anlacht oder angrinst, wie du willst, sei es aus breitknochigem sarmatischen Gesicht, sei es aus grimmig verzerrtem Totenschädel.

 

Es gibt in den Städten wohl keine Massenquartiere mehr, aber der Begriff des Heims existiert nur noch auf dem Lande bei den Bauern. Die Wohnungen der Städter sind rationiert; man lebt in Stuben, willkürlich zusammengepferchte Menschen nebeneinander. (Bei der ehemals »höheren« Bourgeoisie fand ich Ausnahmen von dieser Regel!) Übersiedelt man, so bleiben die Möbel, die Gemeingut sind, in der alten Wohnung stehen; in der neuen muß man sich mit den vorhandenen behelfen, wie es eben geht. Straßenzüge stehen verödet, bewohnte Häuser aber sind zumeist überfüllt.

In den Wohnungen werden bei Winteranbruch die Fenster und Ritzen verkittet. Man schläft, atmet, lebt sechs Monate lang in einer Ausdünstung, die sich nie verzieht. Die alten Pelze kommen aus den Schränken, wie sie im Frühling hineingehängt wurden, die alten Läuse haben sich vermehrt, und mit ihnen halten Epidemien ihren Einzug, am ersten kalten Tage schießt Tod und Verderben wieder in die Höhe. Es gibt zu wenig 178 Seife, viel zu wenig Medikamente. Die Ärzte haben wahnsinnige Arbeit zu bewältigen, die Besuchszahl für den einzelnen Patienten ist daher auf zwei festgesetzt worden. Überlebt der Kranke den zweiten Besuch, so hat er die Wahl zwischen Gesundwerden oder Sterben. (Natürlich gibt es wie einen Schleichhandel auch gutbezahlte Privatpraxis.) Die Besorgung von Medikamenten ist äußerst umständlich.

Dem Fremden erscheint das Leben des Russen mitunter als ein grauenhaftes Rätsel, für das er keine Lösung zu finden vermag. Geht er herum und beobachtet, wie der russische Mensch lebt, so wird ihn bald ein Schauder erfassen angesichts der unbegreiflichen Vernachlässigung, in der sich auch der kultivierte Städter zu gefallen scheint. (Ein Charakterzug des Russen, der sich nicht erst in der Revolution gezeigt hat, aber sicherlich durch das zunehmende Elend entwickelt worden ist.) Ich habe in Wohnhäusern der ehemals wohlhabenden Klasse Dinge mitangesehen, Zustände aufgedeckt, die jeder Beschreibung spotten.

Auf meiner Reise nach Rußland gab mir ein Amerikaner, der in Reval ansässig war und mir einen Gefallen geleistet hatte, ein Säckchen mit Reis für einen Verwandten mit. Ich gab dieses Säckchen in Petersburg ab. Der Verwandte des Amerikaners war ein ehemaliger Handelsagent, der mit seinem Sohne und seiner Wirtschafterin im Hinterhause eines vierstöckigen, in einer vornehmen Straße der Stadt gelegenen Gebäudes wohnte. Er war aus seiner Wohnung nicht vertrieben worden, und auch seine Möbel standen noch in den Zimmern. Als ich den Hof durchquerte, der das Hinterhaus von der Straßenfront 179 trennte, mußte ich mich an die Mauer lehnen . . . Im Quergebäude stand ein Scheunentor offen, hinter dem einst wohl ein Automobil verwahrt worden war. Es war vom Boden bis an den oberen Rand mit einem riesigen Haufen menschlichen Kotes angefüllt. Die Abtrittröhren des Hauses waren, wie mir der Handelsagent, ein gebildeter und wolerzogener Mann, auf mein Befragen berichtete, vor zwei Jahren im harten Winter geborsten und die Bewohner des Hinterhauses mußten seither jeden Morgen den Inhalt der Abtritte in Kübeln aus ihren Wohnungen entfernen. Die Wohnung, in der ich das Säckchen abzugeben hatte, lag im dritten Stockwerk. Die Treppen wiesen die Spuren der Abfälle auf, die Monate, Jahre hindurch über diese Treppen hinuntergebracht worden waren. Remont! Aber nicht der Industrie allein, will mich bedünken. –

 

Die Nacht in Petersburg ist schwarz. In Moskau ist sie hell. In Moskau brennt nachts viel Licht in den Straßen bis zum hellen Morgen. Es geschehen wenig Verbrechen. Man kann ohne Gefahr stundenlang durch das nächtige Moskau gehen. Wir, die wir, Tschitscherins Arbeitsstunden folgend, allnächtlich um drei oder um vier Uhr aus dem Auswärtigen Amt nach Hause gehen mußten, können es bekunden, daß die Sicherheit in Moskau eine vollendete ist. – In vielen Häusern sieht man bis spät in die Nacht beleuchtete Fenster, dahinter drängt sich Kopf an Kopf. Das sind die Klubs der jungen Arbeiter, der Proletkult; ihrer gibt es viele in allen großen Straßen der Stadt. Riesige Gebäude erstrahlen die Nacht hindurch in Lichterglanz aus allen Fenstern: Ämter.

180 Kommst du am Kreml vorbei, so siehst du Nacht für Nacht die Fassade zur Glinnaja über dem Alexandergarten hell beleuchtet. Dort sitzt allnächtlich das Exekutivkomitee beisammen. Eine geringe Zahl von Menschen hält dort die Zügel der Macht in eisernen Händen. Dort vollendet sich das Geschick eines großen Volkes.

 


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