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Erstes Kapitel. Der Schlemiehl

Im Ghetto oder Judenviertel einer reichen Handelsstadt Deutschlands lag ein kleines, in einem engen Seitengäßchen verstecktes, verräuchertes und unansehnliches Haus. Seit vielen Jahren war nichts daran geschehen, was ihm eine freundlichere Außenseite hätte geben können. Der ursprüngliche Anstrich von lichtem Grün hatte sich im Laufe der Zeit, vielleicht eines halben Jahrhunderts, in ein schmutziges Schwarzgrau verwandelt und an einzelnen Stellen war der Kalkanputz ganz und gar abgefallen, so daß die dunkelbraunen Ziegelsteine der Wand nackt und blos zu Tage lagen, was dem Hause ein vollends verwahrlostes, fast verwittertes Aussehen gab. Dieser Eindruck wurde noch erhöht durch die schmalen, mit trüben, erblindeten, von Staub und Spinneweben überzogenen Fenster, deren unterste Reihe stark mit Eisenstäben vergittert war. Sie sahen aus, als ob sie in Jahr und Tag nicht geöffnet worden wären, um ungehindert Licht und frische Luft in die inneren Räume des Hauses einströmen zu lassen, und blank geputzt waren sie vielleicht nicht, so lange überhaupt das Haus stand.

Hatte in solcher Weise die Außenseite des alten Gebäudes einen öden, beinahe unheimlichen Anstrich, so sah es dagegen im Inneren desselben, namentlich im Erdgeschosse, desto bunter aus. Zur Sommerszeit besonders, wo die Hausthüre vom frühen Morgen an bis zum dunkelnden Abend immer sperrangelweit offen stand, ausgenommen natürlich am Schabbes oder am Jontef, den hohen Festtagen der Juden, konnte man ein wunderliches Durcheinander von verschiedenen Gegenständen im Hausflur und den rechts und links daneben liegenden Räumen des Gebäudes erblicken. Alte Möbel, alte Kleider, alter Hausrath, alte Bücher, Alles lag und stand und hing da bunt neben-, durch- und übereinander herum. Alte Sopha's und Lehnstühle mit verblichenen oder zerrissenen und von Motten zerfressenen Ueberzügen; vor Alter geschwärzte Spinnräder; Vogelbauer von rostigem Drahtgeflechte; alte Waffen mancherlei Art; bunt bemalte große und kleine Porcellan-Gefäße, Schüsseln, Teller, Kannen, Tassen und dergleichen; große und kleine Spiegel mit erblindeten Gold- und anderen Rahmen und nicht selten zersprungenen Gläsern, die alle Gegenstände in verzerrten Umrissen wiederspiegelten; alte Bilder und Kupferstiche, die von Sporflecken über und über besprenkelt waren; alte Oelgemälde, so verrußt und verräuchert, daß man kaum noch zu erkennen vermochte, was sie darstellen sollten; alte Mäntel, Röcke, Westen und Beinkleider, die vor Jahrzehnten einmal neu und in der Mode gewesen sein mochten; – kurz, allerlei alten Kram und die verschiedenartigsten Sachen fand man in dem alten Hause im Judenviertel und allen diesen alten Kram wiederum so wunderlich durcheinander gemischt, daß mancher Vorübergehende Minuten lang vor dem Hausflur stehen blieb und mit lächelndem Blicke dieses Durcheinander von aufgehäuften Schätzen betrachtete. Aber sehr lange durfte der Neugierige nicht dabei verweilen, denn sonst kam aus dem dunkeln Hintergrunde des Hausflures hervor eine hagere, schon längst nicht mehr junge, große weibliche Gestalt mit flinken, trippelnden Schritten herbeigeeilt und fragte mit geläufiger Zunge, was dem Herrn gefällig wäre, von all' den Herrlichkeiten zu kaufen, und wußte diese alten, noch so alten und werthlosen Herrlichkeiten mit solcher Redefertigkeit anzupreisen, daß der Neugierige entweder schnell die Flucht ergreifen oder der Ueberredungskunst der alten Handelsfrau erliegen und einkaufen mußte, was er nachher gar nicht, oder höchstens zum Wegwerfen gebrauchen konnte. Es half ihm aber nichts, kein Weigern, kein Handeln, kein Feilschen, kaufen mußte er, wenn ihn das Blumele erst einmal erwischt und gestellt hatte, denn anders ließ sie Niemand los, man hätte denn allenfalls den Rockschooß im Stiche lassen müssen, was doch nun auch nicht wieder Jedermanns Sache war.

Im Uebrigen aber zeigte das alte gute Blumele keineswegs eine schlimme oder boshafte Gemüthsart, behüte der Himmel! Eher hätte man sie allzu gutmüthig nennen können und die Nachbarsleute gaben ihr auch nicht selten geradezu auf den Kopf schuld, daß sie blos wegen ihres allzu weichen und milden Herzens nichts vorwärts bringen und keinen Nothpfennig für ihre alten Tage zurücklegen könnte. Und so viel stand allerdings fest, daß Blumele beim Einkaufe für alte werthlose Gegenstände sehr häufig mehr bezahlte, als sie jemals in ihrem Leben wieder dafür bekommen konnte, gegen eine perlende Thräne, gegen ein betrübtes Gesicht und eine sanfte Bitte fand Blumele keine einzige Waffe in ihrem Herzen. Das wußten die armen Leute wohl, die sich in Noth befanden und eben aus Noth irgend einen Theil von ihrer ärmlichen Habe zu verkaufen kamen. Anfänglich zeigte sich Blumele wohl immer zäh und hartnäckig; wenn es aber erst an's Erzählen ging und ein armes Kind oder eine arme Mutter die Noth schilderte, die daheim m der elenden Behausung herrsche, dann schmolz allmälig die Rinde um Blumele's Herz, wie das Eis in den milden Strahlen der Märzsonne, und selten oder wohl niemals verließen die Armen Blumele's alten verräucherten Hausflur anders, als mit frohem Gesicht und hell glänzenden Augen, so betrübt sie auch gekommen sein mochten. Wenn dann Einer oder der Andere von den Nachbarn den Kopf schüttelte und vorwurfsvoll zum Blumele sagte, daß sie wieder einmal ihr Geld geradezu verschleudert und zur Thüre hinausgeworfen habe, dann zuckte sie wohl die Achseln und antwortete mit einer gewissen Verlegenheit und mit einem sanften, milden Lächeln um den Mund, das ihr altes Gesicht wie ein freundlicher Sonnenstrahl erhellte: »Was wollen Sie, Nachbar Schlaume? Der Schem boruch hu, der, dessen Name gelobt sei, wird mir's nicht anrechnen zur Sünde, daß ich die armen Leute nicht drücken will beim Geschäft! Ist mir's doch ein wahres Simohes Thora, ein wahres Freudenfest, wenn ich kann eine Thräne trocknen oder ein trauriges Gesicht verwandeln in ein fröhliches! Hat doch der hochgelobte Gott gegeben, daß ich nicht habe hungern und dürsten müssen, bis auf den heutigen Tag, und wird er nun auch geben, daß ich nicht Noth zu leiden brauche auf meine letzten alten Tage.«

So sprach das Blumele und dann huschte sie schnell wieder in den Hintergrund ihres dunkeln Hausflurs zurück, als ob sie allen anderen etwaigen Vorwürfen und Vorstellungen so rasch wie möglich aus dem Wege gehen wollte. Sie sah wohl ein, daß die Nachbarn recht hatten mit ihrem bedenklichen Kopfschütteln und ihren gut gemeinten Warnungen, sie machte sich auch manchmal halbe Vorwürfe über ihre allzu weiche Gutmüthigkeit und schalt und brummte vor sich hin, wenn sie den eben eingehandelten werthlosen Gegenstand zu den anderen vielen werthlosen alten Gegenständen kramte, die im Hausflur aufgehäuft lagen, faßte wohl auch gar gute Vorsätze und gab sich selbst das Versprechen, sich nicht wieder so leicht rühren und zum Mitleiden fortreißen zu lassen und – wenn dann in der nächsten Stunde wieder ein betrübtes Gesicht in den Hausflur hereinschaute, so konnte sie es doch trotz aller Vorsätze nicht über's Herz bringen, es in Betrübniß wieder fortgehen zu lassen. Sie konnt' es nicht, denn sie war nun einmal das immer gutmüthige, mitleidige, immer zu helfen und zu trösten bereite, mildthätige Blumele, und da gab es auf keine Weise mehr zu helfen und zu bessern daran.

War es, wie Blumele selber sagte, ein Simohes Thora, ein Freudenfest für sie, wenn sie ihrem guten Herzen freien Lauf lassen konnte, so kam sie sich noch außerdem mitten unter ihrem alten, zusammengewürfelten Plunder recht wie in Gan Eden, das heißt, wie im Paradiese vor. Nicht grade des alten Plunders wegen, obgleich sie auch an diesem ihre Freude hatte, weil sich so manche süße und liebe Erinnerung an diese oder jene alte Rumpelei knüpfte, nein, sondern hauptsächlich wegen eines lebendigen Inventarstückes, das sie eines Tages auch aus Mitleid zu sich genommen hatte, wie das meiste andere todte Inventarium ihrer Plunderkammer. Dies war nämlich der Moschele, ihres Bruders Söhnchen, das Blumele vor Jahr und Tag in ihr Haus und Herz aufgenommen, als ihm Vater und Mutter kurz hinter einander an schwerer Krankheit weggestorben waren. Seitdem hatte sie den Moschele, der damals noch ein kleines Bocherl (Junge) gewesen, bei sich behalten und allmälig war Moschele-Leben ein hübscher, schlanker Knabe geworden, mit sammetschwarzen, aber schüchternen Augen und dunklem Rabenhaar, den man geradezu ein schönes Kind hätte heißen können, wenn er nicht so gar blaß und zart von Gesicht gewesen wäre. Im Grunde genommen that dieser Umstand seiner Schönheit nicht einmal großen Abbruch, und in Blumele's Augen schon einmal gar keinen, nicht den geringsten, denn sie liebte den Moschele über Alles und was man liebt, findet man schön, wenn es auch häßlich wäre, – aber die Nachbarn nahmen Anstoß an der Blässe des Knaben und spotteten darüber, und noch mehr Anstoß nahmen sie an seinem schüchternen, gedrückten und ängstlichen Wesen, das Moschele nicht verbergen und unterdrücken konnte, wenn er je einmal mit den Nachbarn oder deren Kindern, die etwa im gleichen Alter mit ihm standen, zusammen kam, was freilich nur selten geschah, weil sich Moschele in den alten Rumpelkammern der Tante Blumele eben so wohl und heimisch zu fühlen schien, als Tante Blumele selber.

»Der Moschele ist ein Schlemiehl,« sagen die Leute. »Man sieht's ihm an auf dem Gesicht, und es wird in seinem ganzen Leben kein rechter Barjen, d. h. ein tüchtiger Mensch aus ihm werden. Das Blumele hat gemeint, es wird dereinst eine Stütze an dem Moschele haben, aber wie heißt? sie wird nur eine Last an ihm haben! Ein Schlemiehl bringt keinen Broche (Segen) in das Haus, drin er wohnt. Der Moschele getraut sich nicht zu spielen und umzugehen mit seinen eigenen Kameraden, wie wird er sich einst getrauen, mit dem Päckchen auf dem Rücken von Dorf zu Dorf und von Haus zu Haus zu laufen und Geschäfte zu machen mit Vornehm und Gering, mit Szrore's (großen Herrn) und Bauern? Dazu gehört Schlauheit und List und eine geläufige Zunge, und der Moschele kann keine zehn Worte mit Geschick über die Lippen bringen. Er ist ein Schlemiehl und ein Schlemiehl wird er bleiben sein Lebenlang!«

So sprachen die Leute halb voll Verachtung, halb voll Mitleidens, wenn vom Moschele die Rede war, nur hüteten sie sich, daß es ja Blumele nicht hörte, denn so sanft und geduldig Blumele sonst war, so wurde sie doch zur Löwin, wenn man ein Wort gegen Moschele sagte, der ihr Ein und ihr Alles, ihr Augapfel und Herzblatt war. Und doch hatten die Nachbarn nicht ganz unrecht, wenn sie unter einander zischelten, daß der Moschele ein Schlemiehl sei. Er war es wirklich in mancher Beziehung durch sein befangenes und ängstliches Wesen, das ihm etwas Linkisches, ungeschicktes in seinen Bewegungen und Manieren gab. Nichts, was er auch anfing, wollte ihm recht nach Wunsch glücken. Beim Spiel mit den anderen Knaben des Ghetto war Moschele immer der Geneckte und Gehänselte und wenn er verspottet wurde, so fand er keine Worte, sich zu wehren und zu vertheidigen, sondern gewöhnlich schossen ihm nur Thränen gekränkten Gefühles in die Augen und statt zu zanken, schlich er heimlich und still aus dem Kreise der Gespielen davon. Wenn ihm Tante Blumele einmal eine Güte thun wollte mit einem leckeren Bissen und Moschele freute sich darüber, so geschah es gewiß zweimal unter drei Malen, daß ihm die Freude wieder zu Wasser ward und daß er entweder den leckeren Bissen in den Sand fallen ließ, oder daß ein Hündchen kam und ihn ihm aus der Hand wegschnappte, oder daß ihm sonst irgend ein kleines Unglück damit passirte, woran aber hauptsächlich immer sein eigenes Ungeschick schuld war. Sogar in der Schule, obgleich der Lehrer seinen Fleiß und seine Aufmerksamkeit lobte und an seinem Betragen keinen Tadel fand, sogar auch da ging's dem armen Moschele nicht besser. Andere Knaben, die nicht halb so viel wußten und gelernt hatten, als er, rückten über ihn hinauf und Moschele blieb zurück und war immer einer von den Untersten in der Klasse, weil er nicht so flink mit der Rede war, wie die Anderen und diese ihm gewöhnlich die besten Antworten vor dem Munde weghaschten. Der Lehrer selbst mußte zuweilen lächeln über sein unbeholfenes Wesen und mitleidig sagte er manchmal: »Wirklich, Moschele, ich glaub' nachgerade selbst, daß du ein Schlemiehl bist, und ein großer! Nimm dich zusammen, Moschele, daß du's nicht bleibst dein Lebenlang!« –

Kurz, der Moschele war in manchen Stücken, wohl gar in den meisten, unglücklich, weil er ungeschickt oder schüchtern war und darum nannten ihn die Leute einen Schlemiehl, das heißt, einen Menschen, der, wie er's auch angreifen mag, immer und immer vom Mißgeschick verfolgt wird. Moschele selbst glaubte am Ende daran, daß er ein Schlemiehl sei, und daß er's glaubte, machte die Sache nicht besser. Er verlor allmälig alles Selbstvertrauen und es kam endlich so weit, daß er sich gar nicht mehr unter seine Kameraden mischte, außer wenn's durchaus nicht zu umgehen war, wie in der Schule etwa. Und hier blieb er stumm und still und wenn er auch manchmal etwas Gescheides hätte sagen können, er sagte es doch nicht, aus Furcht, daß ihn die Andern mißverstehen und auslachen könnten. Ganz in sich selbst zog er sich zurück und recht von Herzen wohl fühlte er sich nur bei Tante Blumele, die ihm nie ein böses Wort sagte oder einen unfreundlichen Blick zuwarf, sondern immer nur ein Herz voll Güte und Liebe für ihn hatte, mehr als eine Mutter, denn wie eine Tante. Bei ihr und ihrem Kram brachte er den ganzen Tag zu, wenigstens jede freie Stunde, die er hatte, und sein größtes Vergnügen war, in der alten Rumpelkammer herum zu suchen und Alles durchzuwühlen, was Tante Blumele in den langen Jahren ihres Lebens an allerlei Sachen in dem alten Hause aufgespeichert hatte. Denn nicht allein der Hausflur und die Gemächer des Erdgeschosses steckten gestopft voll von dem alten Zeuge, sondern auch im oberen Stockwerk und bis unter das Dach hinauf lagen die verräucherten und von Staub bedeckten Schätze haufenweise bunt durcheinander und Moschele fand eine eigentümliche Freude daran, das Alles so recht gründlich durchzustöbern und mancherlei Gegenstände aus dem Wuste herauszunehmen, die ihm besonders gefielen. Was er von solchen Sachen fand, trug er in sein besonderes kleines Gemach, reinigte es, ungestört von Blumele, von Schmutz und Staub, und brachte es dann in eine gewisse Ordnung, die von dem Durcheinander der übrigen Räume nicht wenig vortheilhaft abstach. Das kleine Gemach nannte er seine Schatzkammer, und Blumele hinderte ihn nicht in seinem Vergnügen, weil sie selbst Freude daran hatte, daß sich Moschele an ihrem alten Rumpelkrame erlustigte.

Am meisten freute sich Moschele, wenn ihm bei dem Durchstöbern der verschiedenen Räumlichkeiten Bücher in die Hände fielen, so zerrissen und verstäubt sie auch meistens sein mochten. Leider aber fand er deren nicht viele, denn Tante Blumele kaufte zehnmal lieber einen alten zinnernen Leuchter, oder eine Hand voll verrostete Nägel, als Bücher, deren eigentlichen Werth sie nicht entfernt zu schätzen wußte. Hatte sie selbst doch überhaupt kaum nothdürftig lesen und schreiben gelernt, und wer fragte denn auch jemals in ihrem Kramladen nach Büchern? Nur aus Mitleiden gab sie mitunter eine Kleinigkeit, wenn ihr Bücher zum Kaufe angeboten wurden, und dann warf sie dieselben achtlos bei Seite, ohne sie jemals wieder eines Blickes zu würdigen.

Der Moschele »grad im Gegentheil« macht' es ganz anders. Ihm war jedes Buch ein wahrer Schatz, und wo er eines fand, mocht' es auch halb zerfetzt und zerrissen sein, zog er es doch mit aller Sorgfalt aus dem Staube hervor, trug es in seine Schatzkammer, und fügte es der kleinen Bibliothek hinzu, welche er sich allmählig aus allen Ecken und Winkeln des Hauses zusammengeschleppt hatte. Viel war's freilich nicht, und von dem Wenigen verstand Moschele auch wieder Manches nicht, aber einige Bände befanden sich doch darunter, die ihm manchen Zeitvertreib und auch manchen Nutzen brachten. Namentlich machten ihm etliche Bruchstücke von einer alten Bilderbibel viel Vergnügen, obwohl außer der einen Hälfte des dicken Pergament-Einbandes nur kaum noch ein Drittheil auch den Büchern des alten Testamentes davon übrig war. Aber desto mehr Bilder befanden sich darin, und Moschele konnte Stunden lang bei dieser Bibel sitzen, und die Kupferstiche betrachten, die ihm außerordentlich schön vorkamen, obgleich sie vielleicht gerade nicht zu den allerfeinsten gehören mochten. Dabei las er die Bibel wohl hundert Mal durch, wenigstens so weit der Inhalt der einzelnen Bruchstücke Bezug auf die schönen Bilder hatte, und so kam es, daß er, ohne es zu wissen, seinem Gedächtnisse manchen Kernspruch aus dem alten Testamente einprägte, und so fest einprägte, daß ihm derselbe ordentlich in Fleisch und Blut überging, und gewissermaßen mit seinem innersten Wesen eins wurde und verwuchs. Auch noch in andern Büchern las er und lernte Mancherlei daraus, aber sein größter Schatz war und blieb doch immer die alte Bibel mit den schönen Bildern von der Erschaffung der Welt, von Adam, von Eva, von Kain und Abel, von der Sündfluth, von Noahs Arche, vom Thurm zu Babel und den Erzvätern, von Joseph und Moses und dem Zug durch die Wüste, und was noch alle der Herrlichkeiten mehr waren, die ihm Auge und Seele ergötzten. Zu ihr kehrte er immer zurück, wenn er draußen in der Außenwelt von spöttischen Buben gekränkt und beleidigt worden war, und im Anschauen und Betrachten der schönen Bilder, im Nachdenken über die wunderbaren Geschichten der uralten Vorzeit fand er jederzeit Trost, Frieden und Beruhigung.

So saß er auch an einem hellen, sonnigen Sommer-Nachmittage, nachdem er aus der Schule gekommen war, ganz still in seinem Schatzkämmerlein auf einem niedrigen Schemel, hatte die alte Bilderbibel aufgeschlagen auf seinen Knieen vor sich liegen und betrachtete mit stiller Freude die Erkennungsscene zwischen Joseph und seinen Brüdern in Aegypten, als ganz unverhofft Tante Blumele in das kleine Gemach trat. Ein verstohlener, durch die erblindeten Scheiben gemilderter, Sonnenstrahl drang in das Zimmer, und schien mit seinem Licht das schwarze Lockenhaar Moschele's zu vergolden. Blumele stutzte, und blieb mit verwunderter Miene am Eingange stehen. Zuerst, als sie kam, hatte fast ein Ausdruck wie Zorn aus ihren Zügen gelegen, aber jetzt war es vielmehr Niedergeschlagenheit und Betrübniß, was sich in ihren Mienen ausdrückte.

»Moschele!« sagte sie. »Was thust du hier?«

»Was ich thu', Tante Blumele?« antwortete der Knabe. »Ich beseh' mir die Bilder.«

»Aber, was soll werden aus dir, Moschele, wenn du immer daheim steckst und willst dich nicht unter Menschen mischen? Ist's denn wahr, was mir Nachbar Schlaume gesagt hat, daß du bist ein Schlemiehl?«

Moschele erröthete tief bis unter das Stirnhaar hinauf, denn er schämte sich in der Seele, daß auch Tante Blumele ihn einen Schlemiehl hieß, während er sich schon lange nichts mehr daraus machte, wenn es die Anderen sagten. »Ich bin kein Schlemiehl, Tante Blumele,« antwortete er nach einer kleinen Pause plötzlich mit fester Stimme, und blickte mit seinen großen, dunkeln Augen gerade in das faltige Gesicht der Tante, deren bisher düstere Züge sich allmälig aufzuklären begannen.

»Du wärest kein Schlemiehl?« sagte sie, noch immer Schwanken und Zweifel in der Stimme. »Gott soll gelobt sein, wenn es wahr ist und Nachbar Schlaume gelogen hat! Zu Tode hätt' ich mich gekramt und hätte das Unglück nicht sehen mögen, wenn du wirklich ein Schlemiehl wärest. Denn dem Schlemiehl verwandelt sich Gold in schlechtes Blei unter den Händen und der Dalles (das Gespenst der Armuth) heftet sich, wo er geht und steht, an seine Sohlen. Sei Alles, was du willst, Moschele! nur kein Schlemiehl! Ich bitt' dich!«

Moschele saß sinnend da, und blickte auf seine Bibel nieder. Bei den Worten der Tante, die ihn so zärtlich liebte, fühlte er lebhafter als je, daß er in der That auf dem Wege sei, durch sein schüchternes, unentschlossenes und blödes Wesen endlich dasjenige zu werden, was die Tante so sehr fürchtete, und ein Entschluß keimte in seiner Seele auf, der, plötzlich entstanden, auch plötzlich zur Reife kam.

»Was red'st nur, Tante Blumele?« sagte er. »Ich bin kein Schlemiehl, ich will keiner sein, und nur allein der ist es, der ein Feigling ist und keinen Muth hat!«

»Aber, Moschele-Leben, warum bist du denn nicht wie andere Bocherl (Jungen), die auf der Straße spielen und fröhlich sind, derweilen du hier in der Kammer sitzest und träumst von Gott weiß was?« fragte Blumele.

»Ich will nicht länger allein sitzen,« antwortete Moschele. »Ich will Alles thun, was du verlangst, Tante. Du sollst sehen, daß ich kein Schlemiehl bin!«

»Soll ich sehen, Moschele? Soll ich sehen?« rief Blumele hoch erfreut aus. »So geh' und zeig' dem Nachbar Schlaume, daß du kein Schlemiehl bist, sondern ein Barjen, ein tüchtiger Bursch! Geh' auf die Gass', Moschele! Die Buben spielen lustig! »Geh' und misch' dich unter sie! Dann will ich sehen, ob mein Moschele kein Schlemiehl ist!«

Einem jungen Soldaten, der zum ersten Male in die Schlacht und den feindlichen Kugeln entgegen geführt wird, mag vielleicht zu Muthe sein, wie jetzt dem Moschele zu Muthe war, als er von Tante Blumele aufgefordert wurde, den Neckereien, dem Spotte und der Verhöhnung seiner Altersgenossen und Kameraden Trotz zu bieten. Die glühende Röthe verschwand von seiner Stirn und verwandelte sich in Leichenblässe, aber keinen Augenblick wankte Moschele in seinem Entschlusse.

»Ich will kein Schlemiehl sein, ich will der Tante keinen Kummer machen, die mich so sehr liebt,« sagte er zu sich selbst. »Muth, Willenskraft und Geduld überwinden zuletzt jede Schwierigkeit, und sehen soll die Tante, daß es mir weder an Muth, noch an Willenskraft, noch an Geduld gebricht!«

Er klappte die Bibel zu, legte sie auf die Seite zu seinen anderen Büchern, stand auf von seinem Schemel und sagte: »Ich gehe!«

»Aber gehst du auch gern, Moschele, gehst auch gern?« fragte die Tante auf einmal ängstlich, da sie den plötzlichen Wechsel seiner Gesichtsfarbe mit ängstlichem Auge bemerkt hatte. »Zwingen will ich dich nicht, Moschele! Laß den Nachbar Schlaume sprechen, was er will, ich glaub ihm nicht, wenn du nur Ein Wort sagst gegen ihn!«

»Komm' nur, Tante Blumele,« antwortete Moschele mit fester Stimme. »Ich will dir zeigen und dir beweisen, daß ich kein Schlemiehl bin, wie die Leute sagen!«

Er schritt voran, die finstere Treppe zum Hausflur hinunter, und halb ängstlich, halb erfreut folgte die Tante ihm nach. In der kleinen, engen Gasse war Alles still und ruhig, wie sonst, aber fünfzig Schritte weiter, wo sie in die breite Hauptstraße des Ghetto einmündete, ging es lustig und lebendig zu. Dort spielten die Knaben, und ihr fröhliches Lachen und Jubeln schallte hell in die enge Gasse hinein. Einen Augenblick blieb Moschele vor seiner Hausthür stehen, und seine Entschlossenheit schien zu wanken, als nun der Vorsatz, den er gefaßt, zur That werden sollte. Aber der Gedanke an Tante Blumele flößte ihm wieder frischen Muth ein, und zugleich erwachte auch sein Trotz, als er den Nachbar Schlaume bemerkte, der mit der langen Pfeife vor seiner Thüre lehnte und ihn mit spöttischem Blicke betrachtete.

»Ich will ihm beweisen,« murmelte Moschele, und, noch einmal sich umwendend, nickte er der Tante einen kurzen, freundlichen Abschiedsgruß zu, und ging dann rasch auf die Knabenschaar los, in deren Spiel er sich mischen wollte. Er mußte an Nachbar Schlaume vorüber, der mächtige Rauchwolken in die Lust paffte und die Mundwinkel zu einem höhnischen Lachen verzog, als der Knabe herankam.

»Moschele, wohin?« rief er.

»Zu den Anderen!« antwortete Moschele keck.

Schlaume lachte spöttisch. »Was will Saul unter den Propheten?« sagte er verächtlich.

Einen anderen Knaben von Moschele's Alter hätte diese Frage vielleicht eingeschüchtert und von seinem Vorhaben zurückgeschreckt, Moschele aber in seiner gehobenen Stimmung fühlte sich eher entrüstet darüber, und blickte den boshaften Nachbar mit zürnendem Auge und gerötheter Wange fest an. »Ich bin nicht Saul, und die da sind keine Propheten,« erwiderte er. »Auch will ich nicht hingehen, um ihnen zu prophezeihen, sondern um mit ihnen fröhlich zu sein und zu spielen. Aber merkt's Euch, Nachbar Schlaume, so wenig wie ich Saul und König der Juden sein will, eben so wenig sollt Ihr mich für einen Schlemiehl halten und Euren Spott mit mir treiben dürfen.«

Mit diesen Worten ging er weiter und Nachbar Schlaume schaute ihm so verdutzt nach, daß er sogar die lange Pfeife und das Rauchen vergaß, während Blumele, die den Auftritt mit angesehen hatte, mit stolzer Freude zum Nachbar hinüberblickte.

»Was hab' ich gesagt?« rief sie ihm zu. »Ist mein Moschele-Leben nun noch ein Schlemiehl oder ein Barjen? Jetzt, Nachbar, red't Ihr!«

»Ein Wunder ist's, ein Wunder!« rief Schlaume. »Masel-Tow, gut Glück, Blumele! Mich soll's freuen, wenn noch ein rechter Barjen wird aus dem Schlemiehl!«

Mittlerweile verfolgte Moschele leichten Schrittes seinen Weg und mischte sich dreist unter die Knaben, die bei seinem Erscheinen erst stutzten, und dann unter Lachen und Spotten riefen: »Seht doch, Moschele, den Schlemiehl! Moschele, was willst bei uns?«

»Was ich will? Spielen will ich, wie ihr,« entgegnete Moschele. »Und nun wird sich 's bald zeigen, wer der größte Schlemiehl ist unter uns, Einer von euch oder ich.«

Einige von den muthwilligsten Knaben zeigten wohl Lust, Moschele noch ferner zu necken und zu hänseln, als aber Moschele ihnen nur einen Blick der Verachtung zuwarf und mitleidig die Achseln zuckte, da nahmen die Uebrigen sich seiner an und das unterbrochene Spiel begann von Neuem mit Moschele. Und siehe da, es zeigte sich bald, daß Moschele eben so geschickt sein konnte, und so lustig und gewandt, wie alle anderen, oder doch die Meisten von den Knaben, und diese vergaßen schnell, daß Moschele bisher fast wie ein Fremdling ihnen fern gestanden hatte. Selbst Nachbar Schlaume, der näher getreten war und dem Spiele zuschaute, um den Knaben zu betrachten, wiegte beifällig den Kopf und Alles schien ein gutes Ende nehmen zu wollen, als plötzlich noch ein neuer Spielkamerad auf dem Schauplatze erschien, der sogleich eine feindliche Stellung gegen den armen Moschele einnahm.

»Ich will auch mit!« rief eine helle Stimme kurz und gebietend den Knaben zu. »Hört auf mit dem dummen Zeug, wir wollen Räuberles spielen!«

Es war ein schlanker, kräftiger Knabe, mit keckem Gesicht und blitzenden Augen, der sich in dieser Weise unter die Spielenden mischte, und der Erfolg seines Auftretens bewies, daß er schon seit längerer Zeit eine gewisse Herrschaft über die Knaben aus dem Ghetto ausgeübt haben müsse. Dafür war er aber auch der Sohn des reichen, christlichen Kaufherrn Wilberg, der gerade dem Eingange zum Judenviertel gegenüber ein großes, palastähnliches Haus bewohnte und einer der reichsten Leute in der Stadt war.

»Richard!« riefen die Knaben, die bei seinem Erscheinen sogleich vom Spiele abließen und sich um den neuen Ankömmling drängten. »Richard Wilberg! Jetzt geht's von Frischem! Wir spielen Räuberles und Richard ist der Hauptmann! Das ist gut, daß du gekommen bist.«

Moschele hatte sich nicht mit den anderen um Richard gedrängt, sondern war bescheiden auf seinem Platze geblieben, und blickte fast furchtsam zu dem neuen Kameraden hinüber. Eine bange Vorahnung wollte sein Herz beschleichen, denn Richard war immer einer von denen gewesen, die ihn am meisten verhöhnt und verspottet hatten, und er fürchtete, daß dieß jetzt von Neuem wieder der Fall sein würde. Er täuschte sich hierin wirklich auch nicht, der arme Moschele, denn kaum hatte ihn Richard gesehen, als er sogleich mit Spott und Hohn über ihn herfiel.

»Gott b'hüt!« rief er in jüdischem Dialekt, »Moschele-Leben, der Schlemiehl! Komm her und küss' die Hand, Moschele! Geschwind!«

Moschele erröthete und blickte verlegen zu Boden, aber er rührte sich nicht von der Stelle, um sich vor dem übermüthigen Buben zu demüthigen.

»Nun hörst du nicht Mauschel!« herrschte Richard von Neuem ihm zu. »Herkommen sollst du und mir die Hand küssen!«

Jetzt lief dem Moschele die Galle über. »Was hast du mir zu befehlen?« entgegnete er. »Du bist nicht mehr wie ich! Wenn du küssen willst, so komm zu mir!«

Richard lachte laut auf. »Mach' keine Umstände,« sagte er. »Geh' her, oder ich hol' dich!«

Moschele blieb ruhig stehen, und nahm seine ganze Entschlossenheit zusammen, indem er antwortete: »Geh' du heim, wenn du nichts besseres weißt, als unser Spiel zu stören! Ich hab' dich nicht geholt, daß du deinen Muthwillen an mir auslassen sollst.«

»Was sagst du, Schlemiehl?« rief Richard erbost. »Ich glaube gar, er will mir widersprechen, der Judenjunge! Aber wart', ich krieg' dich Schlemiehl!«

»Schlemiehl du selbst!« erwiderte Moschele. »Ich lasse mich nicht schimpfen von dir!«

»Du willst dich nicht schimpfen lassen von mir? Ich will dir zeigen, was du sollst, schrie Richard zornig, und mit Einem Sprunge war er bei Moschele, zauste ihn bei den Haaren, warf ihn zu Boden, und setzte ihm den Fuß auf die Brust. »Jetzt küss' die Hand, auf der Stelle« sagte er, »und thu' Abbitte oder ich reiße dir die Ohren vom Kopfe!«

Der arme Moschele hatte sich überrumpeln lassen, und überdies war Richard größer und stärker als er, so daß er sich ganz in seine Gewalt gegeben sah. Dennoch blieb er fest; und entschlossen, sich wenigstens nicht selbst vor dem rohen Uebermuthe und dem Mißbrauche der Kraft zu demüthigen, blickte er, ohne mit den Wimpern zu zucken, Richard in's Auge.

»Ich thu's nicht!« sagte er. »Ich würde mich zeitlebens in meine Seele hinein schämen, wenn ich's thäte. Du hast mich beleidigt, gekränkt, gestoßen und mißhandelt, während ich dir gar nichts zu Leide gethan habe, wie soll ich dazu kommen, dich um Verzeihung zu bitten? Schlag mich auch noch, thu's, ich kann mich nicht wehren gegen dich, aber du bist', der sich schämen muß darüber, nicht ich. Jetzt mach', was du willst!«

Richard wurde durch die Ruhe und Kaltblütigkeit Moschele's, der sonst immer so schüchtern und unterwürfig gewesen war, noch mehr gereizt und erbittert. Vielleicht fürchtete er auch, daß er in den Augen der übrigen Knaben an Ansehen verlieren würde, wenn er nachgebe, ohne Moschele zu seinem Willen zu zwingen, kurz, er hob die geballte Faust auf und schien im Begriff, noch weitere Gewaltthätigkeiten gegen den schwächeren Feind auszuüben, als ein in kräftigem Basse ertönendes: »Pfui der Gemeinheit!« seinen Arm lähmte und die Blicke aller Knaben auf einen Reiter in goldblitzender Uniform zog, welcher schon seit einem Weilchen still beobachtend den eben erzählten Auftritten zwischen Richard und Moschele beigewohnt hatte, und jetzt seinen Unwillen nicht länger zurückhalten konnte. Von den Knaben war er bisher weder bemerkt noch beachtet worden, denn sie hatten nur Augen für die beiden Streitenden gehabt.

»Pfui der Gemeinheit!« wiederholte der Offizier mit strengem Blicke auf Richard, der beschämt seine Augen niederschlagen mußte. »Pfui der Schande, den schwächeren Feind noch zu mißhandeln! Herunter mit dem Fuße von dem Knaben, der mehr Ehrgefühl hat, als ihr Anderen Alle zusammen! Herunter sag' ich, oder ich helfe mit der Reitpeitsche nach!«

Richard gehorchte, fast wider Willen. Aber der Offizier, ein alter Herr mit grauen buschigen Augenbraunen und dickem, grauem Schnurrbarte, sah gar nicht danach aus, als ob er mit sich spaßen ließe, und überdies flößten auch die goldenen Epauletten und die schimmernden Orden aus der Brust den eingeschüchterten Knaben einen nicht geringen Respekt ein. Sie standen Alle stumm und verblüfft da, selbst Richard hatte seine ganze, sonst stets bereite Keckheit verloren, und nur dem armen Moschele schien der Anblick des prächtigen und stolzen Offiziers, der sich seiner so kräftig angenommen hatte, ein neues Leben einzuflößen. Er raffte sich aus dem Staube auf, stürzte auf den Reiter zu, ergriff die Hand desselben und bedeckte sie mit Küssen, ehe er sie zurückziehen konnte.

»Gnädiger Herr,« rief er mit den Thränen in den Augen, die voll heißer Dankbarkeit zu dem Offizier aufschauten, – »Gott, der hochgelobte, lohn' es Ihnen, was Sie mir armen Bocherl Liebes erwiesen! Seh' ich doch nun, daß es auch gute Menschen in der Welt gibt!«

»Armes Bürschel,« antwortete der Offizier und blickte mit freundlichem Mitleid in die feuchten Augen Moschele's, »ich seh' es dir wohl an und hab's wohl gemerkt, daß du hast schon Vieles leiden und dulden müssen in deiner Jugend. Aber halt' dich nur immer brav, wie eben jetzt gegen den übermüthigen Buben da, dann wird's schon besser werden mit dir. Ein tapferes Herz ist allezeit Goldes werth, und hilft über vieles Mißgeschick hinaus, und ein solches Herz hast du. Nun behüt' dich Gott, Adieu, Bürschel!«

Noch ein wohlwollendes Lächeln und ein leichtes Neigen des Hauptes, und der Offizier ritt davon. Moschele schaute ihm nach, so weit er ihn sehen konnte. Dann, als er um die Ecke der nächsten Straße zog, athmete er tief aus der Brust auf, und dann machte er rechts kehrt, um nach Hause zu gehen und Tante Blumele zu erzählen, was er merkwürdiges erlebt hatte. Die Knaben hielten ihn nicht auf und ließen ihn still ziehen, nur Richard, der mittlerweile das beschämende Gefühl seiner Unwürdigkeit abgeschüttelt hatte, rief ihm höhnisch nach: »Lauf' hin, Schlemiehl, mitspielen durftest du doch nicht mehr!«

Moschele hörte die spöttischen Worte wohl kaum; wenigstens erwiderte er nichts darauf, drehte sich auch nicht herum, sondern ging still seines Weges weiter. Als er heim kam, stand Blumele vor der Thür und hatte verweinte Augen, denn von weitem hatte sie gesehen, wie ihr liebes Moschele von Richard mißhandelt worden war.

»Armes Bocherl,« sagte sie mit leiser, zitternder Stimme, »ich sehe nun wohl, daß dir nicht zu helfen ist, und daß Nachbar Schlaume recht hat. Du bist ein Schlemiehl!«

Moschele sah sie ganz verwundert mit großen Augen an. »Was sprichst auch, Tante Blumele?« entgegnete er, und ergriff ihre Hand. »Schau mich an, ob ich betrübt bin oder mißmuthig. Sieht ein Schlemiehl aus, so wie ich?«

Blumele sah dem Knaben schärfer in's Gesicht. »Moschele, was ist dir begegnet?« sagte sie überrascht. »Dein Auge glänzt und du trägst die Stirn hoch, und doch hab' ich gesehen, daß er dich schlug und zu Boden warf!«

»Und weiter hast nichts gesehen, Tante Blumele?«

»Nichts, mein Kind! Das Herz that mir weh und ich konnte nicht weiter hinschauen! Was ist noch außerdem passirt? Hat sich der böse Mensch erbarmt über dich?«

»Nein, nein, er nicht, aber ein Erzengel kam mit flammendem Schwerte, der demüthigte ihn, und mich erhob er aus dem Staube und lobte mich. Ein tapfres Herz hätt' ich, hat er gesagt, und nicht vergessen will ich das Wort, so lang ich lebe! Aber der Richard, ihm will ich zeigen, was ich vermag, wenn ich einst groß und stark bin, wie er!«

»Still, still, Moschele,« besänftigte die Tante und zog den Knaben von der Straße in den Hausflur, damit Niemand seine Drohung hören möge. »Du vergißt, daß du nur ein armer Jude bist und die Hand nicht aufheben darfst gegen den Bedränger! Die in Goles (in Bedrückung) leben, müssen schweigen und still dulden manche Schmach und Beschimpfung, und dürfen nicht trotzbieten dem Uebermuth. Ein Stärkerer ist über uns, der die Wage der Gerechtigkeit hält in mächtiger Hand, Ihm, dem Schem boruch hu (dem, dessen Name gelobt sei), überlaß die Vergeltung!«

»Aber im Gesetz steht geschrieben, Tante, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, ich hab' es gelesen, und so muß auch gelten Schlag um Schlag, und Schande um Schande! So will's das Gesetz!«

»Gott behüt' uns, was sprichst du, Moschele?« rief Tante Blumele ganz erschrocken. »Steht etwa nicht auch geschrieben: »Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr!« und »du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst?« Nein, nein, Moschele, die Rache ist ein zweischneidig Schwert, das dich selbst verwundet, wenn du es schwingen willst gegen einen Anderen. Ein tapferes Herz muß auch ein edles Herz sein, Moschele, und ein edles Herz vergibt seinem Nächsten, was dieser ihm zu Leide gethan hat.«

Der Knabe sah nachdenklich zu Boden und gab keine Antwort. Den ganzen Abend war er still und in sich gekehrt. Beim Schlafengehen aber reichte er Blumele die Hand und sagte herzlich: »Ich glaube, du hast Recht, Tante, und ich bin ein zornmüthiger, böser Gesell. Doch ich will lernen, mich zu beherrschen, und an Richard will ich gar nicht mehr denken, es sei denn im Guten und ohne allen Groll. Gute Nacht, Tante Blumele!«

Damit schlüpfte er in seine Kammer. Blumele aber schaute ihm gerührt nach, und murmelte leise: »Der hochgelobte Gott segne dich, mein Kind, daß er dir dein Herz erhalte, wie es ist, aus lauter Gold. Meinen Segen hast du und beten will ich auch für dich, auf daß es dir wohlgehen möge hier und dort.«


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