Hans Hoffmann
Tante Fritzchen
Hans Hoffmann

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Die letzte Stunde.

Schon vor mehreren Tagen war ein Gerücht, daß Tante Fritzchen gestorben sei, in der Stadt aufgetaucht und erhielt sich mit Zähigkeit, obgleich der dicke Sanitätsrath ausdrücklich bekundete, daß sie immer noch lebe. Der mußte es zwar wissen: eben so gut aber wußten doch Andere, daß der Sarg in ihr Haus getragen war, denn das hatten sie mit eigenen Augen gesehen: und wo ein Sarg ist, da ist auch ein Todter; das ist ebenso gewiß, wie man vom Rauch auf das Feuer schließt.

Allein der Sanitätsrath hatte trotzdem so lange Recht behalten. Heute nun endlich eilte er mit sehr ernstem Gesicht und sehr beschleunigtem Schritte zum Hause des alten Pastors Rathke und erklärte diesem, jetzt gehe es wirklich mit ihr zu Ende; die ärztliche Kunst sei mit ihrer Arbeit fertig und könne dem geistlichen Zuspruch das Feld räumen. Der Pastor möge sich nicht täuschen lassen, wenn er sie vielleicht sehr munter und sogar lebhaft finden werde; das bekannte letzte 118 Aufflackern der Lebenskraft scheine sich bei ihrer zähen Natur besonders nachdrücklich zu zeigen.

Der alte Rathke zog seinen Talar an, setzte das Barett auf den weißen Kopf und ging, so schnell ihm seine achtundsiebzig Jahre das gestatteten; er war fast genau gleichalterig mit Tante Fritzchen.

Als er an ihr Bett trat, erstaunte er über ihr Aussehen: ihre blassen verfallenen Züge hatten anscheinend all' das Scharfe und Spitze, Grimmige, Höhnische und Boshafte, wovor sich so viele Menschen fürchteten, mit einem Schlage abgelegt und waren verklärt von Behagen und Heiterkeit, nur daß ein feiner Hauch von Wehmuth bisweilen wie ein Schleier darüberzog.

Die Wärterin verließ schweigend das Zimmer, sobald Jener eintrat; es war deutlich, daß sie vorher dazu angewiesen war.

»Es geht zu Ende,« sagte die Kranke bestimmt mit sehr kräftiger Stimme, »wir müssen uns beeilen, das zu besprechen, was ich mit Ihnen noch zu besprechen habe. Viel ist es ja nicht, aber doch immer etwas. Ich danke Ihnen, Herr Pastor, daß Sie so schnell gekommen sind. Es ist merkwürdig, man hat beinahe ein Jahrhundert Zeit gehabt, sich auszuleben, und nun werden Einem am Ende doch noch die Stunden knapp.«

Der Pastor, ergriffen und fast verwirrt durch 119 ihre Ruhe, murmelte einige Worte, es sei Gottes Gnade vorbehalten, ob er ihre Tage nicht doch noch verlängern wolle, menschliches Wissen und Vorhersagen sei trügerisch; ihr Aussehen sei heute so lebensfrisch –

Tante Fritzchen aber schüttelte gelassen den Kopf und sagte, auf die Thür des Nebenzimmers deutend:

»Werfen Sie einmal einen Blick da hinein, dann werden Sie wissen: mir brauchen Sie keine Flausen mehr vorzumachen. Ich bin reisefertig, mein Gepäck ist in Ordnung.«

Der alte Rathke öffnete jene Thür und unterdrückte nur schwer einen Ausruf des Schauders: was er dort stehen sah, war ein fertiger, sauber hergerichteter Sarg.

»Jetzt glauben Sie mir, nicht wahr?« sagte Tante Fritzchen, als er erschüttert zu ihr zurückkehrte. »Es ist mir Ernst mit dem Sterben und würde es auch sein, wenn mich der liebe Gott darnach fragte. Das Ding da habe ich in diesen Tagen schon machen lassen, um mit allen meinen Rechnungen in Ordnung zu sein. Ich habe nie Andern gern eine Arbeit aufgebürdet, die mich anging, und die ich leisten konnte. Selbst ist der Mann, und das Weib muß es auch sein, wenn es mal Wittwe ist. Und dann kontrollire ich die 120 Handwerker gern; es ist sonst selten Verlaß auf sie, und man will doch sehen, was man für sein Geld bekommt. Jetzt bin ich hierüber beruhigt; Meister Klemm hat eine tüchtige Arbeit geliefert. Sehen Sie, Herr Pastor, jetzt bleibt eigentlich nur noch eins, was ich gern sehen oder vielmehr hören möchte, nämlich Ihre Leichenpredigt. Denn Sie müssen die natürlich halten, um Gottes willen nicht der junge Herr Hülsbach, den habe ich nie verknusen können, schon nicht seine Traureden und nun gar bei der Leiche. Das versprechen Sie mir, lieber Rathke; ich sag' Ihnen, sonst klopf' ich an den Sargdeckel, und die Leute sollen zu guter Letzt noch mal Angst vor mir kriegen. Sie wissen, wie ich sein kann. Aber daß ich Sie dabei höre, das geht ja nun nicht an, eine Predigt kann man nicht im Voraus bestellen, weil es keine Handwerkerarbeit ist, wenigstens bei Ihnen nicht; bei dem Hülsbach schon eher. Aber eben darum will ich auch jetzt von Ihnen nichts Geistliches hören – thun Sie mir also den kleinen Gefallen, lieber Pastor, ziehen Sie hier den Talar aus! In der Kirche habe ich Sie immer gern damit gesehen und mit den Bäffchen auch, das wissen Sie ja: aber hier in meiner Schlafstube – das käme mir so vor, als wäre ich schon aufgebahrt, und Sie hielten die Leichenrede. Und das möcht' ich eben nicht. Die 121 paar Stunden, die mir noch vergönnt sein mögen, will ich mich auch wirklich noch lebendig fühlen.«

Und als der alte Herr stillschweigend ihrem Wunsche willfahrt und das schwarze Amtskleid von sich gethan hatte, fuhr sie fort zu bitten mit einem fast schelmischen Lächeln:

»Und nun noch eins: Sie haben A. gesagt, sagen Sie auch B.; ziehen Sie jetzt noch den Schlafrock meines seligen Mannes an, er hängt dort im Spinde; fünfundvierzig Jahre sind's her, daß er unbenutzt da hängt: so lange habe ich ihn vor den Motten gerettet. – Sehen Sie, er paßt Ihnen ganz gut, obgleich mein Mann etwas breitere Schultern gehabt hat. – Und nun stecken Sie sich eine von seinen Pfeifen an, die kennen Sie ja, und daß ich sie immer in Ordnung halte für angenehmen Besuch. – So, jetzt bin ich zufrieden, jetzt sehen Sie gemüthlich aus.«

Der Pastor hatte fast mechanisch nach ihrem Wunsche gehandelt und saß nun ihr gegenüber, wie er sonst so manchesmal als behäbiger Sonntagsbesucher gesessen. Aber ihm war doch nicht frei ums Herz; er wußte sich in die Lage nicht gleich zu schicken. Die pastoralen Trostreden, die er vorher bereit gehabt hatte, blieben jetzt gleichsam in dem Schlafrock stecken oder verflogen mit den derben Rauchwolken ziellos in die Lüfte.

122 Tante Fritzchen aber blickte ihn nunmehr unter einem langen Schweigen erst fast ein wenig neugierig und dann sehr wehmuthvoll an.

»Ja, sehen Sie, Rathke,« sagte sie endlich, »so hätte mein Alter hier neben mir sitzen sollen – wenigstens vor ein paar Jahren noch – aber das Glück ist mir nicht zu Theil geworden; er ist schon so lange, so schrecklich lange todt –«

Hier traten ihr Thränen in die Augen, und in den wachsbleichen Zügen zuckte es leise.

»So seien Sie getrost, liebe Freundin,« fiel da der Pastor schnell ein, »die Zeit des Harrens und Sehnens ist bald vorüber. Sie werden in Ewigkeit vereint mit ihm leben in Abraham's Schoß.«

Tante Fritzchen kniff plötzlich die Augen sonderbar ein und sprach mit einem beinahe drolligen Verziehen des Mundes:

»Ach, lieber Pastor, ziehen Sie doch den Talar nicht wieder an! Sie wissen ja, ich bin kein Freigeist, oder wie man das nennt, ich bin immer fleißig in die Kirche gegangen, so lang' ich noch konnte, und hab' Ihre Predigten immer gern und mit aller Andacht gehört und habe ja auch das Meiste geglaubt – bloß gerade mit dem Abraham, das ist solche Sache: zu dem habe ich nie ein rechtes Zutrauen fassen können. Es ist ja gewiß 123 sündhaft, daß ich so rede, aber noch sündhafter wäre es doch, wollte ich jetzt vor Thores Schluß anfangen zu lügen. Erstens schon der Name; es hilft nichts, ich muß dabei immer an den infamen Hallunken Abraham aus der Wiesenstraße denken, der die alten Hosen meines seligen Mannes so spottschlecht bezahlte und nachher so sündhaft theuer den armen Leuten wieder aufhängte. Dafür kann ja der alte Erzvater eigentlich nichts, und es ist dumm, dabei an ihn zu denken; aber ich kann es nicht loswerden. Und dann, sehen Sie, ist doch auch dieser Erzvater selbst daran schuld, nämlich, daß ich für ihn nicht so recht warm werden kann. Die Geschichte mit dem Isaak kann ich nun mal nicht begreifen, daß er den hat opfern wollen. Nein! Und wenn Gott das zehnmal befahl, so mußte er sagen: Nimm meinen Kopf, meinen Leib und meine Seele, aber solche Gemeinheit an dem unschuldigen Kinde begehe ich nicht! Solche Grausamkeit darf mir auch kein Gott befehlen, oder ich darf nicht gehorchen! – Aber das ist's, der Abraham kommt mir vor wie so ein ducknackiger Streber; wir haben ja solche auch, die immer nach oben sehen und Alles reden und thun, was von oben her gewünscht wird, und die dafür nachher ihren Orden kriegen oder ihren Titel, ganz wie der Abraham dafür zum Erzvater ernannt 124 ist. Unser alter Bürgermeister war auch so ein erbärmlicher Wicht – na, der mag ja jetzt wohl in Abraham's Schoße sitzen: aber ich hab' wenig Lust, mit ihm da zusammen zu treffen; da würden die Zänkereien gewiß gleich wieder losgehen. Freilich ein Vergnügen sollt' es mir sein, ihn da weiter zu zausen.«

»Geliebte Freundin,« fiel hier endlich nach mehreren vergeblichen Versuchen ihr der Pastor ins Wort, »Sie sollten in dieser ernsten Stunde Ihre Gedanken doch auf andere Dinge lenken. Lassen Sie zum wenigsten jene alten Feindschaften ruhen. Denken Sie des Gebotes: Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.«

»Aller Welt meinetwegen,« rief Tante Fritzchen kräftig, »aber dem Bürgermeister nicht. Der Kerl war ein Schubjack und ein Lügenmaul; ich weiß noch, was schon mein Mann immer von ihm gesagt hat: Der lügt sogar, wenn er's gar nicht nöthig hat. Nein, dem kann ich wirklich nicht vergeben; und ich denke auch, den Einen wird unser Herrgott mir freigeben. Ich will mich vor ihm ja gar nicht als Heilige aufspielen. Ich will bloß als Mittelgut so stille mit unterlaufen.«

Der Pastor thut einen tiefen Seufzer.

»Der Herr wird Ihnen die Unbußfertigkeit 125 nicht allzu schwer anrechnen,« sagte er betrübt, »er wird erwägen, daß Ihr Herz allezeit milder gewesen ist als Ihre Zunge. Aber dennoch gedenken Sie der Weihe dieser Stunde, liebe Freundin! Richten Sie Ihre Gedanken auf Liebe und Frieden! Suchen Sie Ihr Herz zu erweichen, indem Sie des Wiedersehens mit Ihrem Gatten gedenken, dem trefflichen Manne, der leider so frühe von uns genommen ward. Aber Gott wird ihn erhöhet haben zu seiner Herrlichkeit.«

»Das hat er! Das muß er!« rief Taute Fritzchen mit inbrünstiger Ueberzeugung; aber dann nahm ihr Antlitz plötzlich einen trüber sinnenden, ja schwermüthigen Ausdruck an.

»Und ich werde ihn nicht wiedersehen!« sagte sie leise, aber bestimmt.

»Wie reden Sie, liebe Freundin?« sprach der Pastor bewegt, »wie wollten Sie nicht hoffen auf die Gnade des Herrn, der auch den Sündern, so sie glauben und bußfertig sind, das ewige Leben verheißen hat?«

Tante Fritzchen sah mit einem sonderbaren, festen, klaren, ergebungsvollen Blicke zu ihm auf.

»Ich aber will nicht mehr leben nach meinem Tode,« sagte sie still, »und Gott wird mich nicht zwingen gegen mein Verlangen.«

»Allgütiger Himmel,« rief der Pastor 126 erschrocken, »ist es möglich, Sie sollten nicht glauben an die ewige Seligkeit? Wenn Sie aber daran glauben, wie sollte es Sie nicht darnach verlangen?«

»Ich glaube daran,« antwortete sie ruhig, »ein Jeder wird selig werden, den von Herzen darnach verlangt. Aber Gott kann Niemanden mit Gewalt dazu zwingen. Und ich will nicht. Ich mag nicht mehr leben. Ich bin müde, ich will schlafen.«

»Der Herr wird Ihre Seele erfrischen und wieder freudig machen zum Leben,« sprach der Pastor nicht ohne stilles Entsetzen. Sie aber schüttelte nachdrücklich den Kopf.

»Das darf er nicht,« entgegnete sie hastig und wie in heimlicher Angst, »und er wird es auch nicht thun; er weiß ja, ich habe in seinem Himmel nichts zu suchen und nichts zu finden.«

»Und Ihren Gatten?« rief der alte Herr verwirrt und erschüttert, »den Sie so sehr geliebt und so heiß beweint haben, den sollten Sie nicht wieder zu sehen wünschen? Liebe Freundin, wie reden Sie?«

»Nein, den eben nicht,« sagte sie scharf und schnell, indessen ihre Blicke sich seltsam verschleierten. »Das soll eben nicht geschehen, daß ich ihn wiedersehen müßte.«

»Unbegreiflich! Unmöglich!« rief der Pastor 127 ganz überwältigt von Staunen, »so hätten Sie ihn doch nicht geliebt? So hätte Ihr Herz nicht an ihm gehangen? Aber wie kann ich das glauben nach all' dem, was ich an Ihnen gesehen habe in jenen alten Zeiten und später immerfort in Ihrer langen Treue?«

»Ich habe ihn geliebt von ganzer Seele und mit allen meinen Kräften,« sprach die Sterbende feierlich, »und als er mir genommen wurde, hätte ich den Jammer niemals überstanden ohne die sichere Hoffnung auf ein Wiedersehen im Himmel. Diese Zuversicht hat mich getragen und sie allein. Aber das ist nun so lange, so unendlich lange her. Fünfundvierzig Jahre, was ist das für eine unermeßliche Zeit! Man wird sich ganz fremd in fünfundvierzig Jahren, wenn man nicht bei einander bleibt. Er war ein junger, freudiger Mann, als er dahinging, und ich war ein ganz junges Weib. Und jetzt bin ich ein uraltes Hutzelweibchen geworden und habe ganz andere Gedanken, anderen Haß und andere Liebe, als wir damals zusammen hatten. Und er weiß von alle dem Neuen nichts. Wie soll ich mich mit einem so jungen Menschen noch verständigen im Himmel? Es ist nicht anders, wir sind uns fremd geworden in den unendlichen Jahren. Ich kann so junge Leute nicht mehr verstehen, und sie mich auch nicht. Was soll er mit 128 so einer verschrumpelten Vettel im Himmel umherziehen? Wenn er mich da so ansähe mit großen, fremden, erschrockenen Augen – das könnte ich nicht ertragen. Und er würde mir vorkommen wie ein guter, thörichter Junge; ich könnte ja längst seine Großmutter sein. Nein, sehen Sie, lieber Rathke, das geht Alles nicht. Er hat die ewige Seligkeit und soll sie behalten; und darum muß ich mich hinlegen und schlafen für die Ewigkeit; ich will ihm da nicht im Wege sein. Und ich weiß ganz genau, der liebe Gott wird mir thun nach meinem Begehren. Er kann Keinem eine andere Seligkeit geben, als die er sich wünscht; und meine heißt: Schlafen. Ich bin müde vom Leben und mag nicht wieder aufwachen. Gott wird mein Gebet erhören.«

Sie schwieg und schloß die Augen und sah nun so müde aus, als wollte sie wirklich sogleich in die ewige Ruhe hinüberschlummern.

Dem alten Pastor war seine Pfeife längst ausgegangen; er mißhandelte das lange Rohr mit aufgeregten Fingern und seufzte und seufzte, doch fast ganz unhörbar.

»Seltsam! Seltsam! Seltsam!« murmelte er dann kopfschüttelnd immer wieder vor sich hin.

Endlich öffnete Tante Fritzchen die Augen wieder und fragte mit voller Stimme: »Was ist hier so seltsam?«

129 Er streichelte leise die welken Hände, die auf dem Deckbett lagen, und sagte:

»Sie sollten doch wissen, im Himmel wird nicht sein Freien und Freienlassen; wir werden das Irdische von uns streifen und in verklärten Leibern dahinwallen. Der Herr wird uns gleich machen seinen heiligen Engeln.«

»Ja,« versetzte sie ruhig lächelnd, »das weiß ich Alles; ich hab' immer ganz gut aufgepaßt bei Ihrer Predigt, besonders beim Todtenfest. Aber das mag wohl auf Andere passen, nur nicht für mich. Sehen Sie, lieber Rathke, eine solche Person, wie ich bin, zum Engel zu verklären, dazu gehört denn doch ein Stück. Zwar daß unser Herrgott' auch das fertig bringt, daran ist kein Zweifel, denn er ist allmächtig: aber dann bin ich etwas ganz Anderes, als ich hier auf Erden gewesen bin, jung so wie alt, ich bin dann nicht mehr diese wilde, dumme Person, die mein Mann lieb gehabt hat; ich bin ihm dann doch wieder ein ganz fremdes Geschöpf. Und so er mir auch. Hier auf Erden ist er ein sehr tüchtiger Kerl gewesen, aber ganz und gar kein Engel. Ich kann Ihnen sagen, lieber Rathke, er konnte ganz hanebüchen grob werden, auch gegen mich, wenn ich mich mal gar zu närrisch anstellte; und wissen Sie, wann mir der Mann am allerliebsten war? Gerade wenn er so gediegen 130 grob wurde! Da kam er mir so stark vor, und ich hätte ihm die Hände küssen mögen als meinem treuen Schützer. Und nun sehen Sie: als verklärter Engel kann er doch nicht mehr grob werden, das geht im Himmel doch nicht, und also seh' ich ihn dann nie mehr so, wie er mir am liebsten war. Und ich hab' die Angst, ich werd' ihn dann überhaupt gar nicht mehr so recht mögen; denn es ist nicht anders: sehen Sie, es gibt so Leute, die schon auf Erden so ein bißchen was Verklärtes und Engeliges an sich haben, Pastoren und Pastorsfrauen am meisten, aber doch auch manche Andre: und grade Solche hab' ich mein Lebtag nicht recht besehen können. Ich hab' mir immer im Stillen gedacht: Gute Engel mögen sie sein, aber tüchtige Menschen wahrscheinlich nicht. Und als so was soll ich meinen Mann wiedersehen? Kann ich ja nicht; das ist nicht mein Mann, so wie er gewesen ist! – Nehmen Sie's nicht übel, lieber Rathke, daß ich so rede; aber Sie brauchen sich's nicht anzuziehen: Sie sind niemals einer von der verklärten Sorte gewesen; darum bin ich auch mit Ihnen immer gut ausgekommen. – Und so, denke ich, wollen wir uns auch jetzt am letzten Ende nicht streiten über Dinge, in denen schließlich doch Jeder seine eigene Meinung behält. Manche Dinge kann man Andern glauben, besonders Pastoren, aber 131 manche wieder kann Jeder bloß in sich selbst finden. Was in der heiligen Schrift steht, daran glauben wir alle; aber wie man sich das auslegen soll, das muß zuletzt doch Jeder mit sich selbst ausmachen. Ich für mein Theil bin müde und will schlafen . . . Herr du meine Güte, aber liebster Rathke, die Pfeife ist Ihnen ausgegangen! Stecken Sie die wieder an, und dann bleiben Sie noch ein Weilchen sitzen und paffen Sie tüchtig. Aber reden Sie nicht mehr von schwierigen Geschichten; ich hab' abgeschlossen und mag nicht mehr denken; es fängt schon an, mir sauer zu werden.«

Der alte Herr setzte gehorsam die Pfeife wieder in Brand und rauchte schweigend, indem er ihr manchmal sanft über die Hände strich. Sie lag nun ganz still und sah ihm mit fröhlichen Augen zu.

»Jetzt kommt mir's doch wirklich beinahe so vor,« begann sie endlich wieder nach langem Verstummen, »als säße mein Alter selbst hier bei mir und paffte mir etwas vor. Ja, sehen Sie, wenn ich ihn im Himmel so mit Schlafrock und Pfeife sehen könnte! Aber das schickt sich da doch nicht, das ist nicht verklärt genug. – Ach, überhaupt, wenn er hätte so mit mir zusammen alt werden können, und wir dürften zusammen hinübergehen oder beinahe zusammen. Es ist schrecklich, wenn Zwei sich so fremd werden, und der eine von ihnen 132 muß das erleben und wissen. O Gott, ich bin müde und will schlafen, nur schlafen.«

Sie schloß wieder die Augen und versank in Schlummer oder Schweigen.

Die Sonne schien durchs Fenster auf die kräuselnden Rauchwolken, denn der alte Pastor paffte sehr emsig; aber es war wohl nicht von dem Rauch, daß er sich manchmal mit der Hand über die Augen fuhr.

Da rief sie auf einmal wieder besonders lebhaft:

»Aber wenn Sie, lieber Rathke, in den Himmel kommen, sehr lange kann es ja auch nicht mehr mit Ihnen dauern, dann grüßen Sie ihn mir und erzählen Sie ihm, was ich Ihnen heute gesagt habe. Er wird mich ganz gewiß verstehen; er hat mich immer grade dann am besten verstanden, wenn ich meine ganz besondern Gedanken gehabt habe, die alle andern Leute dumm und wunderlich fanden. Und so fremd kann er mir doch noch nicht geworden sein, daß er darin nun anders wäre.

Und dann sagen Sie ihm, er soll manchmal daran denken, wie wir uns damals auf dem Haff beim Hechtangeln begegneten, sechzig Jahr sind es nun her, er in seinem Boot und ich in meinem. Und wie die Boote einander immer näher und näher kamen, wir wußten nicht wie, und wie wir beide im Gesicht immer röther und röther wurden, 133 bis er plötzlich in meinem Boot saß, wir wußten auch wieder nicht wie; und dann sagten wir auf einmal Du zu einander, ganz wie von selbst, als wenn's immer so gewesen wäre; und dabei kannten wir uns doch noch gar nicht so lange. Und es schien uns, als gäb es in der ganzen Sprache kein süßeres Wort als dieses. Und aber dann – – ja, sehen Sie, lieber Rathke, an die Stunde brauchen Sie meinen Mann nur zu erinnern: und Sie sollen mal sehen, was er dann für Augen macht! Das war auch zu schön auf dem weiten Wasser so ganz allein. Da bin ich ganz sicher, so etwas vergißt man auch im Himmel nicht, wie es mich auf Erden noch warm macht mit meinen achtundsiebzig Jahren.

So, Herr Pastor, und jetzt bin ich fertig mit meinem Beichten. Und nun, nicht wahr? thun Sie mir die Liebe, und lassen Sie mich ein Weilchen allein. Ich möchte vor dem Schlafen noch ein bißchen wach träumen von diesen alten Zeiten: und das kann man nur, wenn man ganz mit sich allein ist. Aber einer wird bei mir sein – Sie wissen schon, wer. Und später grüßen Sie ihn und sagen Sie ihm Alles.

Und Sie rauchen inzwischen in der Nebenstube Ihre Pfeife zu Ende und denken sich eine neue, recht handfeste Strafpredigt aus für mich 134 alte Sünderin. Also auf Wiedersehen, alter Freund, lieber Rathke, gestrenger Herr Bußprediger!«

Der alte Pastor gehorchte und ging nach einem stillen Händedruck leise hinaus. Als Tante Fritzchen ihn vom Rücken erblickte, murmelte sie ganz glücklich: »Der alte Schlafrock! Der alte Schlafrock!« Und dann schloß sie die Augen und lächelte behaglich.

Als Pastor Rathke nach einer halben Stunde leise wieder hereinsah, war sie schon entschlafen. Das Lächeln aber war auf ihren Lippen geblieben.

 


 


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