Hans Hoffmann
Tante Fritzchen
Hans Hoffmann

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Der Schiffbrüchige.

Hier wird nichts gegeben. Für Landstreicher haben wir nichts übrig. Schiffbrüchig? Ja wohl! Die Sorte kennen wir lange.«

So sagte Rieke und schlug dem Bettler die Thür vor der Nase zu. Darauf steckte sie im Vorübergehen den Kopf in Tante Fritzchen's Stube und berichtete kurz:

»Madamchen, es war bloß wieder einer von den nichtsnutzigen Schwindlern, die ihre Geschichte vom Schiffbruch auswendig hersagen. Einer lernt sie vom Andern. Es ist die höchste Zeit, daß wir uns das Gesindel vom Halse schaffen, sonst fressen sie uns arm. Dies Bettlerpack klebt zusammen wie die Kletten, jeder erzählt dem Andern, wo etwas zu holen ist, und das durchs ganze Land. Gibt man heute einem etwas, hat man morgen zehn auf dem Halse. Das muß ein Ende haben. Diesen habe ich gründlich abblitzen lassen.«

»Das ist recht, Rieke, sehr recht! Solch' verlogenes Volk!« sagte Tante Fritzchen im Tone einer 46 hämischen Befriedigung, der sich aber auch etwas wie Bewunderung für Rieke's Heldenthat beizumischen schien.

Darauf verschwand Jene, und ihre Herrin trat ans Fenster und blickte vorsichtig durch die Gardine auf die Straße hinaus. Da sah sie den Abgewiesenen auf der Bank vor dem Hause sitzen, ganz in sich zusammengekrümmt wie in völliger Entkräftung und krampfhaft mit den Händen zuckend, als ob er große Schmerzen litte.

Tante Fritzchen wiegte den Kopf hin und her und machte ein sonderbar verlegenes und beinahe verängstigtes Gesicht dazu.

»Natürlich ist's ein Schwindler,« murmelte sie vor sich hin. »Es sind bisher noch alle Schwindler gewesen, die mit solchen Geschichten kommen. Nicht einer hat noch die Wahrheit geredet. Alles geriebene Schwindler. Es ist eine Sünde, solchem Volk etwas zu geben, man verderbt sie damit erst ganz.«

Sie ballte entschlossen die Faust, und ihr Gesicht nahm einen fast blutdürstigen Ausdruck an; sie blieb aber an ihrem Fensterplatz stehen und beobachtete den Menschen unverwandt. Bald vollführten ihre Hände fast ebenso starke Zuckungen wie die seinen.

»Wenn es aber nun wirklich einmal ein Mensch wäre, der durch Schiffbruch in Noth und Elend 47 gekommen ohne seine Schuld – möglich ist das doch immer; es kommt Alles vor. Wenn man's nur wüßte. – Ach, was, hundert Mal hat man's geglaubt und ist hundert Mal betrogen worden. Das muß ein Ende haben, Rieke hat Recht.«

Sie stand und stand und starrte, und ihre Unruhe wurde immer größer. Ein tiefes Unbehagen war in ihren Zügen zu lesen.

»Es hätte doch geschehen können, daß mein Mann bei einem Schiffbruch auf eine einsame Insel wäre verschlagen worden und hätte die Hülfe und das Mitleid fremder Leute anrufen müssen. – Dieser Mensch sieht eigentlich so sehr schäbig gar nicht aus; er ist beinahe ordentlich gekleidet, bloß natürlich sehr abgerissen, wie das nach einem Schiffbruch nicht anders sein kann. – Ach was, hier ist keine einsame Insel. Für ordentliche Leute und zumal Schiffer wird hier zu Lande von Amts wegen gesorgt. Diese Landstreicher sind ein für alle Mal Schwindler.«

Allein sie blieb immer noch stehen.

Jetzt endlich erhob sich der Mensch schwerfällig von der Bank und begann langsam seines Weges weiter zu wandern, so langsam, als ob er doch noch auf etwas warte. Sobald er sich aber trotzdem einige zwanzig Schritte weiter geschoben hatte, riß Tante Fritzchen, wie von einer jähen Angst 48 ergriffen, das Fenster weit auf und rief mit einer merkwürdig unsicheren Stimme hinter ihm her:

»Sagen Sie Ihren Spießgesellen, daß für landfremde Bettler hier nichts zu holen ist.«

Der Mensch drehte sich herum und sagte ruhig, nicht ohne eine gewisse Würde:

»Recht haben Sie damit. Aber ich habe keine Spießgesellen, und ich bin nicht so Einer. Ich bin ein ordentlicher Mensch. Und ich will ja gar nicht betteln, sondern ich wollte bloß fragen, wo hier ein gewisser Kapitän Düring wohnt: der kennt mich, weil ich unter ihm nach Bombay gefahren bin; und der wird mich nicht sitzen lassen in diesem Unglück.«

Tante Fritzchen zuckte heftig zusammen.

»Mein Mann, murmelte sie, »mein seliger Mann!« – Der wohnt längst nicht mehr auf der Erde,« fügte sie lauter hinzu, und die Thränen traten ihr ins Auge.

Der Fremdling zeigte einen so großen Schreck und eine so bekümmerte Miene, als habe er die Nachricht vom Tode seines Vaters empfangen.

»Todt!« rief er mit einer großen Gebärde der Verzweiflung, »Todt also! O wie entsetzlich! Dieser edle, herrliche Mensch! Die Zierde seines Standes! Der Abgott aller seiner Matrosen!«

Tante Fritzchen blickte ihn etwas mißtrauisch von der Seite an; das Uebertriebene in seiner Art 49 und in seinem Ausdruck machte sie stutzig. Aber die Rührung behielt dennoch in ihr die Oberhand, und sie sagte nach einigem Zögern:

»Kommen Sie ins Haus; vielleicht ist doch ein Stück Brod für Sie übrig.«

Mit wankendem Schritte und gesenkten Hauptes folgte er der Einladung. Tante Fritzchen führte ihn durch den Flur des Vorderhauses auf den Hof, an dem die Küche lag, und ließ ihn dort auf eine Holzbank sitzen. Dann trat sie in die Küche und sprach zu Rieke mit etwas scheuem Blicke und bekniffener Stimme:

»Der Mann scheint doch nicht einer von den ganz Schlimmen; und hungrig ist er jedenfalls und wahrscheinlich krank; ich denke doch, es kann eine Kleinigkeit für ihn abfallen. Trocken Brod meine ich bloß – aus keinen Fall Geld natürlich.«

Rieke machte ein weniger überraschtes als entrüstetes Gesicht. »Natürlich!« knurrte sie trotzig, »das hätte ich denken können! Und ich denke noch mehr: nämlich mit einem Stück Brod fängt er an, und mit einem harten Thaler wird er abziehen. Das kennt man allmählich.«

»Rieke, rede keinen Unsinn!« mahnte Tante Fritzchen, jedoch ziemlich kleinlaut.

Das Mädchen schnitt ärgerlich ein Stück Brod herunter und reichte es ihrer Herrin. Die übergab 50 es dem Bettler und sprach mit grimmig-strenger Miene, aber es klang wie eine Entschuldigung:

»Anderes gebe ich niemals. Es ist mein Grundsatz.«

Er nickte wehmüthig, biß ein Stück ab und kaute sehr mühsam.

»Ich kann es Niemandem verdenken, wenn er vorsichtig wird,« sagte er bescheiden, »es läuft so viel schlechtes Gesindel im Lande herum. Und Brod ist auch eine Gottesgabe, für die man dankbar sein soll. Man lernt das Alles in der Noth – ach, damals hätte ich mir so etwas nicht träumen lassen, auf dem Schiff unseres herrlichen Kapitäns Düring, wo wir's immer so gut hatten. Ja, der sorgte wie ein Vater für seine Leute, daß sie immer ihr reichliches Essen hatten. Und fein gekocht, das mußte Jeder sagen, auch wenn er ein Feinschmecker war. So beispielsweise, ich weiß noch genau, wie sich alle freuten, wenn es Erbssuppe mit Speck gab. O lieber Himmel, die schönen Zeiten bei unserem Kapitän Düring!«

Sein Gesicht war tief in Wehmuth getaucht, die jetzt sogar seinen Hunger zu unterdrücken schien, denn nachdem er ein winziges Stück Brod hinunter gewürgt hatte, machte er eine Pause im Kauen und wog den ansehnlichen Rest nachdenklich in der Hand.

51 Tante Fritzchen mußte lächeln. Es war kein Wunder, daß dem armen Lumpen solche Erinnerungen kamen: denn aus der Küche drang gar zu deutlich der würzige Duft einer kräftigen Erbssuppe.

»Das ist ein Schlauberger,« sagte sie zu Rieke in einem halb bittenden Ton, den Kopf wieder durch die Küchenthür steckend, »aber so was macht mir Vergnügen, wenn einer nicht auf den Kopf gefallen ist. Die Gelegenheit wahrnehmen, das macht den tüchtigen Schiffer, hat mein Mann immer gesagt. Weißt Du, Rieke, auf einen Löffel Suppe kann's ja nicht ankommen. Gib ihm einen Teller voll zum Lohn, daß er mich zum Lachen gebracht hat mit seiner Schlauheit.«

»Na, na,« brummte Rieke, »ich glaub' schon eher, daß er Sie bald zum Weinen bringt mit seinen schönen Lügen vom seligen Herrn. Die Rührung sitzt Ihnen ja schon um die Augen: und darum die Erbssuppe; ich werd' Sie doch kennen.«

»Warum sollen das eigentlich durchaus Lügen sein?« bemerkte Tante Fritzchen schüchtern, »es ist Alles richtig, was er von meinem Seligen gesagt hat; der ist so gütig gewesen.«

»Hab' ich niemals bezweifelt,« warf Rieke ein, »aber daß der Kerl es aus Erfahrung weiß, glaub' ich darum noch lange nicht. Fragen Sie ihn doch mal aus, wann das gewesen sein soll, daß er mit 52 unserem seligen Herrn will gefahren sein, und auf welchem Schiff?«

»Das will ich thun,« nickte die Herrin, »wahrhaftig, das will ich thun.«

Aber zunächst nahm sie der Köchin den Teller Suppe aus der Hand und reichte ihn dem Fremden, der sich mit Wucht in die duftende Herrlichkeit versenkte. Und erst als er den letzten Rest ausgekratzt hatte, während sie wohlgefällig seiner Eßkraft zusah, stellte sie jene Frage.

Er ließ sich nicht verblüffen.

»Das Schiff? Mein Gott ja, wie hieß denn doch gleich das Schiff? Wenn man so viel auf See gewesen ist, gehen einem die Namen zuletzt alle durch einander. Und es ist ja auch ziemlich lange her. Aber warten Sie, ich komme noch darauf. O mein erbärmliches Gedächtniß! Aber das ist die Sache: was kümmert man als Matrose sich viel um den Namen des Schiffes? Auf den Kapitän kommt es einem an, auf den ganz allein, und noch dazu, wenn man einen so herrlichen, guten, klugen und tapferen Kapitän hat wie unseren theuren Herrn Düring, da vergißt man alles Andere darüber und denkt bloß an ihn. Wahrhaftig, seinen Namen hab' ich behalten und behalt' ihn in alle Ewigkeit.«

»Ein Schwerenothskerl das!« rief Rieke in der 53 Küche; »den Namen werden seine Bettelkumpane ja wohl gründlich kennen, weil nämlich seine Frau Wittwe ja wohl auch so heißt und die hier ja wohl eine Suppenanstalt für verlumpte Vagabunden hält. Eine gefährliche Bande das! Wie das Pack sich unter einander aushilft mit seinen Kenntnissen!«

»Recht hast Du, Rieke,« sprach Tante Fritzchen nachdenklich, »und ich glaub' ja selbst, daß er dies Alles nur so eingelernt hat. Aber sieh' mal, möglich ist es doch immer, daß einer mal die Wahrheit spricht. Ich will ja nicht sagen dieser, und ich rede ja auch nur von der Möglichkeit. Aber die ist doch da – und weißt Du, ein Stück Speck könnten wir ihm immerhin noch gönnen – nun, nun, ich meine ja nicht so sehr viel, nur eine Kleinigkeit, weißt Du, bloß daß wir den Mann wirklich satt kriegen; nicht um seinetwillen, bewahre! bloß um meinetwillen: ich mag das nicht, wenn Einer aus meiner Küche kommt und hat noch eine Ecke im Magen leer. Besonders aber einer, der meinen Seligen gekannt hat –, das heißt, möglicher Weise gekannt haben könnte: aber eigentlich ist das doch sogar wahrscheinlich. Schiffer lernen sich meist unter einander einmal irgendwo kennen; es sind ihrer schließlich nicht gar so viele an unseren Küsten, und sie kommen doch alle so weit herum. – Sagen Sie mal, Mann, zu welcher 54 Zeit ist denn das gewesen, daß Sie mit Kapitän Düring nach Bombay gefahren sind?«

»Zu welcher Zeit?« versetzte der Fremdling treuherzig, »ja, auf die Zeit werde ich mich wohl so genau nicht besinnen können; Jahreszahlen waren immer meine schwache Seite, schon auf der Schule. Aber nein, jetzt wird mir's doch gleich einfallen! Also das war – ja, richtig, jetzt weiß ich's: das war ja in dem Jahre, wo der große Sturm war, dieser fürchterliche Sturm, und wir waren gerade mitten auf der See, ganz fern von der Küste, es war zu schrecklich –.«

»Aber das war ja doch gerade ein Glück, daß es fern von der Küste war,« fiel Tante Fritzchen verwundert ein, »auf hoher See ist's dann doch immer am sichersten.«

»Natürlich war's ein Glück!« betheuerte der Erzähler mit unerschütterlicher Fassung, »ein riesiges Glück! Sonst waren wir verloren. Es ist gar nicht zu beschreiben, was dies für ein Sturm war. Alle Segel zerrissen, und die Masten brachen ab, einer nach dem andern, und dann sogar die Raaen und hinten das Bugspriet –«

»Mensch,« fuhr jetzt Tante Fritzchen wüthend auf ihn los, und ihre sprühenden Blicke konnten wohl einen Helden entmuthigen, »was? Das Bugspriet hinten? Er nichtsnutziges Lügenmaul ist ja 55 in seinem Leben nicht auf See gewesen! Er weiß ja gar nicht, was ein Schiff ist! Er bringt ja Raaen und Masten und Alles durch einander. Rieke, behalte den Speck, der Kerl hat gelogen.«

»Aber!« rief er mit einem wehmüthigen Aufblick voll sanften Vorwurfs, »Frau Kapitän, solchen Sturm wie diesen, den kennen Sie nicht! Das ist's ja eben, der bringt ja Alles durch einander, Masten und Raaen und Bugspriet und Alles. Beispielsweise das Bugspriet: natürlich war's erst vorne, denn da ist es ja doch von Natur; aber der Wind hat es eben mit einem furchtbaren Ruck nach hinten geworfen. Das war ja die Sache. Aber da hätten Sie unsern Kapitän Düring sehen sollen! Wie der auf dem Posten war! Wie der kommandirte und anfeuerte, vorne und hinten und rechts und links, das war eine Pracht! Als ob er hundert Augen gehabt hätte. Wenn ich sage, er allein hat das Schiff und uns alle zugleich gerettet, so ist das noch wenig gesagt. Man mußte Muth und Kraft kriegen, wenn man ihn bloß ansah. Mit solchem Kapitän fahre ich Ihnen noch heute gleich mit nach dem Nordpol, wenn er es verlangt, und das rein zum Vergnügen.«

Tante Fritzchen's Augen begannen seltsam zu leuchten und dann von verdächtiger Feuchte zu blinken.

56 »Irgend etwas Wahres muß doch daran sein,« flüsterte sie Rieken zu, »er erzählt so naturgetreu. Genau so ist mein Seliger gewesen. Aus den Fingern kann er sich das doch nicht saugen!«

Der Landstreicher mochte seinen Erfolg bemerken und fuhr behaglicher fort:

»Und er that auch was dafür, uns bei Kräften zu erhalten. Das gehörte zu seinen Feinheiten; denn das muß sein in so gefährlichen Zuständen. Fleisch und Kartoffeln gab es da, so viel einer wollte, und schöne, warme Suppen, und dann von Zeit zu Zeit ein guter Schluck Schnaps durfte auch nicht fehlen. Denn der hält aufrecht. Nur niemals zu viel natürlich! Darauf hielt er streng. Und darin hatt' er am meisten Recht: zu viel Schnaps ist ein Greuel, ist widerlich und sogar eine Sünde. Aber so ein klein bißchen, so ein paar Glas für die Mäßigkeit braucht der Mensch zu seinem Gedeihen und ein Schiffer ganz besonders, hat unser Kapitän Düring immer gesagt und hat auch danach gehandelt. Es war doch eine schöne Zeit damals, trotz Sturm und Allem! Aber jetzt natürlich verlang' ich so was nicht mehr; seit mich der letzte Schiffbruch so zurückgebracht hat in meinem Verdienst und in meinen Kräften, da bin ich zufrieden mit dem nackten Essen. Zufrieden und dankbar; o, Sie glauben nicht, wie dankbar, Frau Kapitän!«

57 Er hatte während dieser langen Reden seinen zweiten Teller Suppe mit dem Speck ausgelöffelt und blickte mit treuherziger Schwermuth der gütigen Spenderin ins Gesicht.

»Merkwürdig,« sagte diese, »auch das ist bloß die Wahrheit! Ein Gläschen Schnaps hat mein Seliger seinen Leuten immer gegönnt. Es ist besser so, als mal gar nichts und dann wieder zu viel, pflegte er zu sagen. Und weißt Du, Rieke, ich hab' jetzt Lust, mal so zu thun, als ob ich dem Menschen das Alles glaubte. Daß immerhin etwas Wahres an dem ist, was er sagt, kann man doch nicht leugnen. Bring' doch mal die Schnapsflasche und das kleine Glas.«

Das Mädchen that mit einem derben Grinsen nach diesem Befehl; sie fing jetzt schon an, die Sache von der heiteren Seite zu nehmen.

»O, bitte, auf ein Glas hat so ein armer Schlucker wie ich ja gar keinen Anspruch,« sagte der Bettler mit einer Miene dumpf entsagender Bescheidenheit, setzte die Flasche an den Mund und nahm ein Schlückchen, das Tante Fritzchen nicht controlirte; Rieke behauptete nachher, ein reichliches halbes Liter fehle an dem Inhalt. Rieke hatte aber wirklich die Unart, oft etwas zu übertreiben.

»Jetzt bin ich wieder Mensch,« sagte er mit fröhlichem Aufblick, »und kann auch wieder denken. 58 Gott, wie ist es traurig, daß mein herrlicher Kapitän Düring nicht mehr lebt! Ich kann's gar nicht verwinden. Dem werd' ich nachtrauern bis an mein seliges Ende. War das ein Mann! Jetzt, wo ich bei Kräften bin, fällt mir noch allerlei ein, so kleine Erinnerungen. War das ein guter Mann! Noch kurz vor unserm Scheiden – mein Gott, wie schwer ist mir der Abschied geworden! – hat er mir ganz aus freien Stücken einen von seinen Anzügen versprochen, den er nicht mehr tragen wollte, obgleich der noch recht gut war; du lieber Himmel, für mich viel zu gut! Aber Kapitän Düring hielt immer ein bißchen was auf mich; verdient hab' ich das gar nicht, aber er that es doch aus der Güte seines Herzens. Das mit dem Anzug aber muß er dann rein vergessen haben. Und ich natürlich mochte nicht daran erinnern; das wäre ja unbescheiden gewesen. Lieber in Lumpen gehen, als mich unverschämt zeigen, war immer mein Grundsatz. Und die Hauptsache bleibt mir, daß der Kapitän die edle Absicht gehabt hat; das ist mir die schönste Erinnerung an ihn und seine herrliche Güte. Das Vergessen war ja nur ein Zufall.«

Eben erschien Rieke in der Küchenthür. Ihr Gemüthszustand war jetzt gänzlich umgewandelt: keine Spur mehr von Grollen und Murren; ihr 59 rundes Gesicht strahlte von Vergnügen, und ihre kleinen Augen blitzten von heiterer Neugier.

»Der Kerl ist gediegen! Jetzt bin ich bloß begierig, ob sie auf den Leim geht. Dann mag er thun mit ihr, was er will; dann verdient sie's nicht besser. Wer so dumm ist, der ist nun mal zu dumm. Ich möcht' beinah' sagen, der Lump gefällt mir, so ein gerissener Fuchs, wie das ist. Der kennt seine Leute vom bloßen Ansehen. Ich will drauf wetten, daß er sie auch dazu 'rum kriegt!« Das waren so ungefähr Rieken's neue Gedanken. Der Landstreicher schien sie zu verstehen; seine Haltung wurde fortan noch etwas treuherziger, zutraulicher, selbstbewußter. Sogar eine feine Spur eines überlegenen Lächelns zuckte um seine Mundwinkel.

Aber die Dritte, die lächelte, war Tante Fritzchen. Was dieses Lächeln besagte, wer konnte es wissen? Ihre Worte stimmten nicht so recht zu diesem Lächeln.

»Ja, ja,« sagte sie ganz ruhig und nüchtern, »daran erkenn' ich meinen Seligen; so ist er gewesen. Eine Seele von Mensch; in Kleinigkeiten manchmal ein bißchen vergeßlich. Dafür muß ich natürlich einstehen; er ist doch mein Mann gewesen. Was er versprochen hat, muß ich natürlich halten. Bloß von ihm selbst einen Anzug kann ich Ihnen 60 nicht geben. Was ich davon noch habe, darf kein anderer Mensch tragen, am wenigsten so ein – ich meine, mit einem neuen wird Ihnen besser gedient sein. Hier – dies wird genügen. Aber gehen Sie nicht zu dem nichtsnutzigen Abraham! Der zieht dem Schlauesten das Fell über die Ohren.«

Sie zog ihre Börse und drückte ihm etwas hastig und verlegen ein Goldstück in die Hand.

Trotz ihrer Vorsicht aber sah Rieke es doch. Allein sie lachte auch jetzt nur selbstzufrieden mit dem Gesichtsausdruck: »Also richtig!« Und dann platzte sie los:

»O nein, der geht ganz sicher nicht zu Abraham, sondern zu Spilke; und da kriegt er reelle Waare, das Liter zu vier Groschen; und was er kriegt, das hält warm, und nicht bloß so von außen.«

Tante Fritzchen schien nichts von diesen räthselvollen Reden zu hören. Sie blickte etwas träumerisch und fragte auf einmal wie in schnellem Selbstbesinnen mit einiger Bosheit: »Haben Sie sonst noch Bedürfnisse?«

Denn der Mensch stand da wie angewurzelt, als ob er noch etwas erwarte.

»Bedürfnisse?« antwortete er unverwirrt, »o nein! Ich bin ja überschwenglich beschenkt, genau so, als hätte ich meinen herrlichen Kapitän noch am Leben getroffen. Ich würde mich schämen, hier 61 noch ein Stück Brod anzunehmen. Und überhaupt ist es das letzte Mal, daß ich irgend eines Menschen Wohlthätigkeit angerufen habe. Jetzt hab' ich das Ziel meiner Sehnsucht erreicht, mich wieder auf eigene Füße stellen zu können. Gott segne Sie dafür, Madamchen! Sie haben Großes an mir gethan. Und es wird eine Zeit kommen, und sie ist gewiß nicht zu fern, wo ich dies Geld Ihnen mit allen Zinsen zurückerstatte. Ich werde arbeiten, daß mir das Blut aus den Fingernägeln springt. In diesem Augenblick aber habe ich bloß einen Wunsch: ich möchte ein Stündchen schlafen: ich bin todtmüde. Wenn ich mich hier auf den Hof legen dürfte, bloß so auf die Steine; sie sind mir nicht zu hart, ich bin jetzt solche Kissen gewöhnt. Bloß daß ich nicht auf der Straße vor den Menschen so daliege – daran allein kann ich mich nicht gewöhnen. Ich schäme mich noch immer, denn ich habe bessere Tage gesehen – o mein Gott, welche Tage zur Zeit Kapitän Düring's!«

Er wischte sich die Augen mit dem Rockärmel und spähte dann nach einem passenden Winkel umher.

Tante Fritzchen aber sagte, jetzt hülflos gerührt:

»Da hinten im Stall habe ich ein paar Strohsäcke liegen; die können Sie benutzen. Die liegen da noch von der letzten Einquartierung her. Der 62 Stall ist schon längst nicht mehr in Gebrauch; gleich nach dem Tode meines Seligen habe ich die Pferde abgeschafft. Es ist kein Vergnügen, so allein zu kutschiren; überhaupt kein Vergnügen, so allein –«

Hier brach sie ab, von Wehmuth übermannt.

Sie ging ihm voran und öffnete selbst ihm die Thür zu dem Stallraum, in den er unter demüthigen Dankesworten eintrat.

Als sie in die Küche zurückkam, sagte Rieke mit unschuldsvoller Miene:

»Wir könnten dem fremden Herrn ja auch Madamchens Schlafsopha einräumen, weil er doch bessere Tage gesehen hat. Madamchen könnte unterdessen in meiner Kammer ihre Mittagsruhe halten –«

Tante Fritzchen lachte unbefangen.

»Recht hast Du mit Deiner Bosheit,« antwortete sie. »Aber sieh' mal: dieser Mensch ist klüger als ich. Und das ist doch immer was Rares, wenn ein Mensch so klug ist; es gibt so viel Dummheit in der Welt, daß man sich immer freuen muß über eine kleine Ausnahme. – Und, höre mal, Rieke, wenn er ausgeschlafen hat, laß ihn noch mal zu mir herein kommen – nein, nein, keine Angst. Ich schenk' ihm nichts mehr. So ganz dumm bin ich denn doch auch nicht. Wenn ich durchaus noch was schenken will, kauf' ich Dir ein neues Kleid, 63 Rieke; weißt Du, ein feines Sonntagsausgehekleid – dieser Mensch soll mir bloß noch ein bißchen erzählen von – na, Du weißt schon, – von seinen Seefahrten. – Mach' nicht solch' boshaftes Gesicht, Rieke: denkst Du denn wirklich, ich glaub' ihm ein Wort? Aber nicht so viel! Es ist Alles erlogen von Anfang bis zu Ende. Aber das ist bei den Leuten, die so die Geschichten in Kalendern und Büchern schreiben, doch ganz dasselbe: sie lügen Alles, und man glaubt ihnen kein Wort und liest es doch weiter und hat seine Freude dran. Und so hör' ich auch diesem Landstreicher gern zu. Ein Hallunke ist er, das weiß ich; aber das sollen diese Bücherschreiber ja auch meist sein; und er erzählte doch sehr hübsch.«

»Das kann ich nun grade ganz und gar nicht finden,« bemerkte Rieke verächtlich.

»Dann verstehst Du davon nichts,« beschied Tante Fritzchen sie streng und drehte ihr den Rücken.

Als es fast Abend wurde, und der Schläfer immer noch nicht zum Vorschein kam, beschloß Rieke, trotz des Verbotes ihrer Herrin, ihn gewaltsam zu wecken. »Sonst bleibt er am Ende die Nacht da,« sprach sie zu sich selbst, »und ich danke dafür, solches Volk die Nacht über im Hause zu haben.«

Als sie den Stallraum betrat, fand sie ihn 64 leer. Ein Fenster der Rückwand war offen. So hoch es war, da war er offenbar hinaus gestiegen.

»Herr du meine Güte!« schrie Rieke entsetzt, »durch die Kammer, wo das Pelzwerk hängt! Na, das kann gut werden!«

Sie lief und holte die Herrin mit dem Schlüssel zur Kammer. Und richtig, die war auch leer, nicht bloß von Landstreichern, sondern auch von Pelzen. Aus der hinteren Holzwand war ein ansehnliches Quadrat kunstfertig herausgeschnitten; von da kam man ins Waschhaus und weiter durch den Garten auf die Wiese – und da war die Welt offen.

»Ich laufe zur Polizei,« rief Rieke eifrig, »den Schuft müssen sie noch fassen können. Schon allein der Kamphergeruch muß ihn verrathen.«

Tante Fritzchen lächelte mitleidig.

»O ja,« sagte sie ruhig, »wenn's der Polizei verschwiegen bleibt und die nichts verbruddeln kann, ist manches möglich. Wahrscheinlich ist es allerdings nicht; schade ist's um das schöne Pelzwerk. Aber schließlich, wenn man's recht überlegt, gebraucht habe ich es meistens doch nicht mehr. Und dann, wer weiß, ob der Mann, wenn er dadurch ganz aus der Noth kommt, nicht doch wieder ehrlich wird und mir den Werth mit Zinsen zurückzahlt. Solche Fälle sind vorgekommen, wahrhaftig. Ich glaub' es ja nicht, Rieke, nein, ganz gewiß 65 nicht; aber man muß auch mit einer Möglichkeit rechnen. Es kommt oft im Leben so ganz anders, als man glaubt. Und wenn ich einen Menschen wieder ehrlich gemacht hätte, der meinen Seligen gekannt hat – ich meine, gekannt haben konnte; es ist doch immer möglich; so in dem Alter ist er –«

»Jawohl, ja,« unterbrach Rieke sie mit offenem Hohn, »ich für mein Theil glaub' es sogar bestimmt: er wird den seligen Herrn auch wohl schon bestohlen haben.«

»Ach, meinst Du?« rief Tante Fritzchen erschrocken; »ja, dann allerdings – Rieke, es kommt kein Bettler mehr über meine Schwelle! Nie, nie mehr, sag' ich!«

»Bis morgen früh,« bemerkte Rieke kühl.

 


 


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