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7

Vor dem Portal des Doms standen zwei alte Damen. In ihren Kapotthüten, deren Flitterschmuck einen schwärzlichen Glanz versprühte, ihren langen Mantillen, die, ebenholzschwarz die Gestalt säulenförmig umschlossen und bis auf die Galoschen reichten, die man auch beim schönsten Frühlingswetter nicht zu Hause ließ, waren sie vollkommen gleich gekleidet und auch sonst kaum voneinander zu unterscheiden. Sie gehörten zur Garde derer, die bei keiner Taufe, Hochzeit und Beerdigung fehlen. Der Trauung hatten sie in möglichster Nähe des Altars beigewohnt, waren dann aber vor Schluss der Zeremonie hinausgeeilt, um sich an jenen Platz vor der Kirche zu stellen, der, wie sie aus alter Erfahrung wussten, der strategische Punkt war, von dem aus sich alles am besten überblicken ließ: die Hochzeiter, der Pastor, junges Paar und Eltern, Marschälle und Brautjungfern, Gäste und Zuschauer und die Menge derjenigen, die ebenso neugierig waren wie sie selbst – nicht zu vergessen der vornehmen Wagen, gallonierten Diener, Kutscher und schönen Pferde, die ungeduldig das Pflaster vor der Kirche stampften. »Ein hübsches Paar«, sagte die eine. »Er sieht schon etwas verlebt aus«, meinte die andre.

»Und sie so unerfahren.« »Wenn das nur gut wird!« »Geld haben sie beide.« »Das will ich meinen.« »Nun, dann wird es so schlimm schon nicht werden.«

Hinter die beiden alten Frauen war, von ihnen unbemerkt, mit schnellem, leisem Schritt ein Mann getreten, wie jemand, dem nichts daran gelegen ist, in vorderster Reihe erblickt zu werden. Wenn es aber seine Absicht war, sich hinter ihnen wie hinter einem Busch zu verstecken, so konnte ihm das schon darum nicht gelingen, weil er sie um mehr als Haupteslänge überragte. Auch trug er einen Zylinderhut, womit ein Mann, auch in der größten Volksmenge, immer auffällt. Er war auch sonst feierlich gekleidet. Man hätte annehmen können, er gehöre zu den Hochzeitsgästen, wenn nicht der Umstand, dass er sich vor statt in der Kirche aufhielt, dieser Annahme widersprochen hätte. An der Art, wie er von einem Fuß auf den anderen trat, kleine ungeduldige Bewegungen machte und immer wieder den Hals vorstreckte, um durchs Portal ins Innere zu spähen, war zu bemerken, dass er mit Spannung auf den Augenblick wartete, da der Hochzeitszug die Kirche verlassen würde. »Jetzt kommen sie«, flüsterte die eine der Frauen.

»Hat sie geweint?« fragte die andere. Als Michel, seine junge Frau am Arm, durch das dunkle Portal ins Helle trat, sah er, wie zwischen zwei schwarzen Mantillen ein Mann im Zylinderhut sich hervordrängte, offenbar in der Absicht, sich ihm bemerkbar zu machen.

»Ein Gratulant«, dachte Michel, »aber wer ist es?«

»Verzeihen Sie«, sagte der Mann und seine Stimme klang heiser, aufgeregt, gehetzt, als wäre er eben schnell gelaufen und noch nicht wieder zu Atem gekommen. »Sehr ungewöhnliches Benehmen meinerseits. Muss tausendmal um Entschuldigung bitten. Frau Gemahlin gnädigst Nachsicht üben. Mich sehr beeilt, um Augenblick nicht zu verpassen. Bin glücklich, dass ... doch noch...« Der Hochzeitszug stockte. Die Nachkommenden stauten sich im Portal. Aber was war die ganze gute alte Dorpater Studentenerziehung wert, wenn sie diejenigen, die ihrer teilhaftig waren, nicht in den Stand setzte, sich auch bei größter Überraschung augenblicks zu fassen, die ungewöhnlichste Lage blitzschnell zu durchschauen und auch dem schwierigsten Fall nicht ratlos gegenüberzustehen, sondern sofort zu handeln. Ein Blick der Verständigung genügte, und schon wollten der Rechte und der Linke, die den Herrn im Zylinderhut schneller wiedererkannt hatten als Michel – er trug keinen Bart mehr und sah auch sonst verändert aus –, den Rackelhahn von zwei Seiten packen und ihn als eine unliebsame Störung des Festes schnell, gewaltsam und möglichst geräuschlos vom Platz entfernen, wozu sie sich durch sein jedenfalls nicht einwandfreies Benehmen durchaus berechtigt glaubten, als das Dazwischentreten einer bis dahin gleichfalls unbemerkt gebliebenen Erscheinung sie an diesem Vorhaben hinderte. Der Sekundant des Rackelhahns, eine, wie man annehmen darf, stadtbekannte Persönlichkeit, war plötzlich auch zur Stelle, zog die beiden, sie an den Händen fassend, beiseite und redete schnell, leise, liebenswürdig und etwas von oben herab auf sie ein. Die Umstehenden entnahmen seiner Rede nur die Worte: »Friedliche Erledigung.« Der Rackelhahn hatte inzwischen einen kleinen goldschimmernden Gegenstand, den man für irgendein Schmuckstück halten konnte, Inge in die Hand gedrückt und dazu nur gesagt: »In Ihre Hände, gnädige Frau.« Dann hatte er mit beiden Händen nach Michels Hand gegriffen und sie heftig und lange geschüttelt. Es schien, dass er noch etwas oder noch vieles sagen wollte, aber es kamen aus seiner Kehle nur einige sonderbare Laute, die fast wie ein Krähen oder Gackern klangen. Dann, Michels Hand endlich freigebend, wandte er sich ab, blickte um sich, wie jemand, der fliehen will und nach einer Öffnung zum Entweichen sucht, stürzte, da ihm sonst kein Ausweg blieb, auf die Mantillen los, die vor Aufregung flatterten, zwängte sich zwischen ihnen wie durch eine zu enge Pforte hindurch und war im nächsten Augenblick spurlos verschwunden. Die Mantillen machten, wie vom Winde gedreht, mehrere schnelle Wendungen, da sie einerseits sehen wollten, wohin der fremde Vogel entfloh, andererseits aber natürlich auch nichts versäumen durften von dem, was es in der Gegend um das junge Paar herum zu sehen geben könnte.

Dies alles ging so schnell vor sich, dass sowohl Michels Eltern als auch Inges Vater, wie auch der Pastor und die ganze übrige Menge nicht Zeit fanden, sich aus einer Erstarrung des Staunens zu lösen, bis zu dem Augenblick, da Inge den von dem fremden Vogel empfangenen Gegenstand mit einem fragenden Blick Michel in die Hand gab, der ihn prüfend betrachtete. Sein Antlitz wurde strahlend. So strahlt ein Kind, wenn es ganz unerwartet ein großes Geschenk bekommt. Michel sah sich nach dem Geber des Geschenkes um. Er schien ihm nacheilen zu wollen, besann sich aber und sagte zu Inge nur: »Behalte das, mein Herz, und hüte es wohl.« Damit zog er sie fort zum Wagen. Die anderen folgten. »Er hat ihr einen Ring geschenkt«, meinte die eine Mantille.

»Oder ihm etwas, das man an der Uhrkette trägt«, vermutete die andere. »Jedenfalls ein Andenken«, beschloss die erste.

Und darin hatte sie nicht geirrt. Es war ein Andenken: eine kleine durchbrochene goldene Kapsel. Wenn man sie öffnete, lag lose darin ein verschrumpftes Kügelchen – wie von Brot.


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