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5

Michel setzte seine Studien fort. Es kam über ihn eine unruhige Zeit. Wir werden ihm nicht bis in alle seine Unruhen hinein folgen, als spürten wir jedem seiner Schritte nach. Wir lassen uns genügen an den Beobachtungen, die seine Freunde an ihm machten. »Was ist mit Michel los?« fragten sie sich des öfteren. Er zechte, er paukte, er sang mit ihnen, er saß mit ihnen am Tisch. Und plötzlich war er aus ihrer Mitte verschwunden, niemand wusste wohin. Man hatte bemerkt, dass er jedesmal, so oft das »Ännchen von Tharau« angestimmt wurde, aufstand, hinausging und so bald nicht wiederkam. Das »Ännchen« wurde von der Liedertafel der Studenten abgesetzt. Hatte Michel irgendwo ein Ännchen, das er vor seinen Freunden geheim hielt? Man wusste es nicht. Es kam vor, dass die besorgten Freunde sich auf die Suche nach ihm begaben. »Eine Rettungsexpedition« nannten sie das. Und dann kam es vor, dass sie ihn gerade dort wiederfanden, wo sie ihn am wenigsten vermutet hatten: im Kolleg, mit übernächtigtem Gesicht, aber mit zähem Fleiß den Vortrag eines Professors nachschreibend. Er sah zerstreut zu ihnen auf und murmelte etwas über »Römisches Recht«. Zuweilen schien er ganz in Trübsinn versunken, zuweilen wieder voll ausgelassener Lustigkeit. Er konnte wie der jüngste Fuchs Streiche aushecken, die die Polizisten zur Wut und die Bürger zum Kopfschütteln brachten. Zwei Hähnen, die miteinander kämpften, sah er lange zu und duldete nicht, dass man sie trennte. Den Unterlegenen kaufte er dem Besitzer ab und trug seiner Zimmerwirtin auf, ihn gesund zu pflegen. Sie missverstand den Befehl und schlachtete den Hahn. Erst war Michel zornig, dann lachte er und lud seine Freunde zum Schmaus. Bei diesem »Heldenmahl«, wie er es nannte, betrank er sich sinnlos und ging seinen Freunden wieder verloren. Als sie ihn wiederfanden, stellte es sich heraus, dass ihm seine goldene Uhr, das letzte Weihnachtsgeschenk des Vaters, abhanden gekommen war. Die Freunde wollten nach dem Verbleib der Uhr forschen, sie ihm zurückschaffen, aber Michel meinte: »Lassen wir es. Es ist doch wohl im Leben so, dass man für alles zahlt, und vielleicht wäre das Wiederfinden noch hässlicher als das Verlieren.«

Zuweilen, wenn sie allein miteinander waren, tauschten die Freunde ihre Gedanken über Michel aus. – »Ich fürchte«, sagte einmal der Linke, »unser guter Michel ist ein bisschen verrückt.« – »Mag sein«, entgegnete der Rechte. »Ein lieber Kerl, aber verdreht. Viel

leicht gibt sich das mit der Zeit.«

»Erinnerst du dich«, sagte der Linke, »an unsere Beratung damals? Was war es, das Michel nicht zu Ende aussprach? Er sagte, solange der Rackelhahn im Besitz der Brotkugel sei, habe er über ihn – – was hatte er sagen wollen?«

»Gewalt«, ergänzte der Rechte. »Wie kommt Michel darauf?« »Er hat mir einmal erzählt, bei einigen wilden Völkern sei der Aberglaube verbreitet, ein Mensch, der einen Gegenstand von einem andern besitzt, habe damit Gewalt über jenen.« »Wie das?«

»Ich gebe dir zum Beispiel meine Uhr. Du bringst die Uhr zum Stehen und mein Herz steht still.«

»Aber das ist ja Wahnsinn! Zauberei!« »Wie man's nimmt.« »Glaubst du daran?« »Keine Spur.«

»Wie könnte man ihn nur davon abbringen?« Der Rechte zuckte die Achseln, hin anderes Mal wollte es der Zufall, dass Michel ein Gespräch der beiden anhörte, ohne dass sie von seiner Gegenwart wussten. »Weiß der Teufel«, sagte der Linke. »Ich hätte, wenn der Rackelhahn sich jemals wieder im Land zeigt, die größte Lust, ihn, noch bevor er uns seine Rückkehr meldet, zu ermorden. Was würdest du dazu sagen, wenn ich's täte?«

»Ich würde«, erwiderte der Rechte, »es außerordentlich nett von dir finden. Aber...« »Was aber! Michel ist fest davon überzeugt, dass die dritte, die letzte Kugel sein Tod wird.«

» Nicht zu verwundern nach den Erfahrungen der ersten beiden.«

»Nun also. Da hilft nur Meuchelmord.« »Kann ich als Unparteiischer nicht billigen«, sprach lächelnd der Rechte. »Und übrigens, ich bin nicht einmal sicher, ob du Michel einen Gefallen damit tätest.« »Wieso denn nicht? Auf andere Weise ist Michel von seinem Aberglauben doch nicht abzubringen.«

»Ja, so ist es. Aber... Du erinnerst dich, es war hier einmal die Rede davon, gerüchtweise, der Rackelhahn jage in Indien auf Tiger, als Gast irgendeines Maharadschas. Als ich daraufhin zu Michel äußerte, ich empfehle den Rackelhahn der besonderen Obhut aller Tiger Indiens, sah er mich seltsam an und sagte nichts. Ich hatte aber nicht den Eindruck, als ob er meinem frommen Wunsch beistimme.«

»Begreife«, sagte der Linke. »Hat sich auf seinen frühen Tod eingedacht, kann sich nicht wieder umdenken. Muss scheußlich sein. Aber weißt du, manchmal könnte ich Michel geradezu darum beneiden.« »Um was?«

»Um die Gewissheit eines frühen Todes.« »Bist du lebensmüde?«

»Nein, aber lebensgierig. Ich würde – wenn ich mich so in Michels Lage hineindenke – ein Fest aus meinem kurzen Leben machen. Rausch, besinnungsloser Genuss. Ich würde toben vor Vergnügen darüber, dass nichts, was ich täte, irgendwelche Folgen für mich hätte. Sich keine Gedanken darüber machen, was später aus einem wird. Keine Rücksicht darauf zu nehmen brauchen, dass man ja auch einmal alt wird – ein grauenhafter Gedanke, unvorstellbar wie der eigene Tod.« »Du möchtest dir also, um es kurz zu sagen, eine üppige Henkersmahlzeit bestellen dürfen.«

»Ja, meinetwegen! Die aber dann wirklich genießen!«

»Du würdest eine Enttäuschung erleben: Unsere Fähigkeiten, zu genießen, sind begrenzt. Man ist von nichts so schnell übersättigt wie von Genüssen.« »Also auch der Trost versagt. Das ganze Leben ist eine Enttäuschung. Gott – wenn man erst anfängt, darüber nachzudenken, da möchte man sich die Kugel bald selber geben.«

»Die Mühe können wir uns sparen«, sagte nachdenklich der Rechte. Er stand auf, ging einige Schritte auf und ab, blieb stehen und sah vor sich hin. – »Es scheint mir fast dasselbe«, sagte er, »für Michel wie für uns. Er erwartet es bald, wir wissen nicht wann. Das ist der ganze Unterschied. Die letzte Kugel – die gilt für jeden.«

Eine Weile war es still zwischen den beiden. – »Gehen wir ein Bier trinken«, sagte der Linke.

Michel wartete, bis die beiden hinaus waren. Dann ging er ihnen nach. Er schämte sich ein wenig, dass er, wenn auch ohne Absicht, zum Belauschter ihres Gesprächs geworden war. Es hatte ihm darin etwas gefehlt, und er hatte gewartet, ob es noch käme. Aber es war nicht gekommen. Irgendein großes Wort war unausgesprochen geblieben. Er kannte das Wort nicht, oder es fiel ihm nicht ein. – »Das Leben wäre schon auszuhalten«, dachte er. Ich lebe gern. Wenn nur die Furcht nicht wäre! Gibt es denn dagegen kein Mittel? Ich habe schon alles versucht. Plötzlich fiel ihm Inge ein. Er hatte lange nicht mehr an sie gedacht. Ob sie an ihn dachte? Er suchte sich ihr Gesicht vorzustellen. Es wollte nicht in Erscheinung treten. Inge war weit. Ganz Riga war weit, mit Elternhaus und Kindheitserinnerungen. Nur das Wäldchen hinter der Stadt, das war immer in der Nähe. Solche Wäldchen gab's überall in der Welt, und in jedem stand ein Rackelhahn mit geladener Pistole.

Nachher, mit den Freunden zusammen, war er heiter und aufgeschlossen. Dass er ihr Gespräch belauscht hatte, verschwieg er. Sie sahen sich aber erstaunt an, als er, ihre Gedanken erratend, unvermittelt sagte: »Ich weiß, dass ihr mich für etwas verrückt haltet. Ja ja, das spürt man, macht aber nichts. Stört mich gar nicht. Und darum will ich euch noch eine weitere Verrücktheit von mir mitteilen. Ihr erinnert euch, wie damals der Rackelhahn am Tisch – nun, nun, ihr braucht nicht gleich so besorgte Gesichter zu machen –, also ihr erinnert euch, dass er ein kleines Notizbuch hervorzog und etwas da hineinschrieb. Und jetzt – das ist das Verrückte – habe ich manchmal die Vorstellung: er schreibt immer noch, dauernd. Das heißt, natürlich nicht fortwährend, aber immer wieder, von Zeit zu Zeit. Und das, was er schreibt, das handelt alles von mir. Er schreibt da alles von mir hinein, alles.« »Wie meinst du das? Was schreibt er?« »Nun, eben alles. Zum Beispiel, wie ich jetzt hier mit euch sitze und spreche, das schreibt er auch. Und was ich denke, wenn ich allein bin. Und alles, was ich tue. Das steht nachher alles in seinem Notizbuch.«

»Aber Michel, das ist ja ein entsetzlicher Gedanke. Da müsste man ja sein ganzes Leben nur darauf einstellen, dass der Rackelhahn nichts Schlechtes in sein Notizbuch schreibt. Grauenhaft!«

»Durchaus nicht. Es ändert sich dadurch nichts. Ich unterlasse deshalb nichts, ich tue deshalb nichts. Nur dass ich eben weiß, es wird aufgeschrieben.«

»Jetzt, eben in diesem Augenblick frisst in Indien ein Tiger den Rackelhahn«, sagte der Linke. »Ich höre seine Knochen knacken.« »Und das Notizbuch wird mitgefressen«, meinte der Rechte. Ich höre seine Blätter rascheln. – Prosit! Auf das Wohl des Tigers!« »Prosit!« antwortete Michel. »Auf das Wohl des Rackelhahns!«


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