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4

Man hatte Michel nicht erst in die elterliche Wohnung, sondern gleich in die Klinik des Chirurgen geschafft. Die Kugel war an einem Knochen der Schulter steckengeblieben. Sie musste herausgeschnitten werden. Was es dabei an Schmerzen auszuhalten gab, ertrug Michel mannhaft.

Gleich am selben Tag meldete sich auch wieder der fremde Arzt: Ob man seiner bedürfe? Das sei, wurde ihm bedeutet, nicht der Fall. Er hinterließ seine Visitenkarte mit der Angabe des Hotels, in welchem er abgestiegen sei. »Auf alle Fälle«, bat er. Michel erfuhr von dem Besuch, und obwohl sein Befinden keinen Anlass dazu gab, verlangte er, von dem fremden Arzt untersucht zu werden. Der Chirurg wollte daraufhin die Behandlung niederlegen, überwand aber, offenbar von anderer Seite her beeinflusst, seinen Ärger. Man schickte ins Hotel. Der Spitzbart kam.

»Alles in Ordnung«, sagte er. »Wird«, fragte Michel, »keine Schwäche im Arm zurückbleiben? Werde ich ihn gebrauchen können? Links habe ich doch schon diese Erinnerung.«

»Es wird nichts davon zurückbleiben«, sagte der Spitzbart. »Sie werden den Arm gebrauchen können wie vorher. Nach menschlichem Ermessen«, fügte er hinzu. »Denn immer ist unser ärztliches Ermessen menschlich und darum nicht unfehlbar.« »So, so«, sagte Michel. »Ich danke Ihnen. Aber sagen Sie mir bitte, wie lange bleiben Sie noch in Riga? Oder wo sind Sie sonst, wenn man Sie braucht, zu erreichen?« »Ich bleibe so lange, bis Sie mich entlassen«, antwortete der Arzt.

Es war kein Grund, Michel noch länger in der Klinik zu behalten. Er durfte aufstehen und, den Arm in der Binde, umhergehen. Als man ihm sagte, er könne nun nach Hause, machte er kein erfreutes Gesicht. »Besucht Ihre Tochter niemals mehr die Kranken?« fragte er den Chirurgen.

»Aha«, antwortete dieser. »Aber meine Tochter kann Sie ja auch zu Hause besuchen. Ich habe nichts dagegen.« Michel kehrte heim. Es ging ihm aber noch nicht recht gut, das merkte man ihm an. Die Mutter, die wohl beobachtete, dass er unausgesprochene Dinge mit sich herumtrug, machte sich Sorgen. Sie freute sich, als das »Neue Jahr« sich wieder einmal in ihrem Haus blicken ließ. Auch Michel freute sich, und sie fingen an, sich mit Vornamen zu nennen: Michel und Inge. Inge zeigte, entgegen ihren bisherigen Neigungen, eine plötzliche Vorliebe für feine Nadelarbeiten. Die Mutter war darin Meisterin. Das gab einen hübschen Grund ab, die Besuche recht häufig zu wiederholen. Und so beim Perlenfädeln und Fädchenknüpfen fädelte und knüpfte sich allerlei an. Männer sehen gerne zu, wenn Frauen Handarbeiten machen. Sie denken dabei immer: »Es ist für uns.« Als aber auf Michels Geburtstagstisch ein kleiner perlengestickter Beutel lag, schien er sich über das Geschenk nicht richtig zu freuen. Er blieb, auch für das Mutterauge, undurchsichtig.

Über seinen Arm, den er dauernd in der Binde trug, klagte er nicht, obwohl er, da ja auch der linke geschwächt war, in allen Hantierungen sehr behindert war und sich bei vielen Dingen helfen lassen musste wie ein kleines Kind. Ob er Schmerzen habe? Nein, er habe keine mehr.

Eines Tages verlangte er, den fremden Arzt noch einmal zu Rate zu ziehen. Der schien in seinem Hotel nur darauf gewartet zu haben. Er kam sofort.

Michel wünschte, ihn unter vier Augen zu sprechen. »Ich habe Vertrauen zu Ihnen«, sagte er. »Freut mich. Werde versuchen, es zu rechtfertigen.«

»Sagen Sie bitte«, begann, nachdem der Arzt die Schulter untersucht hatte, Michel zögernd, »Sie sind also der Meinung, mein Arm wird völlig gesund?« »Völlig. Werfen Sie die Binde fort. Bewegen Sie den Arm. Jedes Glied, das lange geruht hat, muss erst wieder an seine Tätigkeit gewöhnt werden. Fangen Sie gleich damit an!«

»Ich möchte nicht«, sagte Michel. »Wie?«

»Was ist mehr wert«, fragte Michel, »der Arm oder das Herz?« Der Arzt sah ihn, ohne zu antworten, lange an. Er schien es gewöhnt zu sein, die Gedanken seiner Patienten mehr durch Erraten als durch Ausfragen zu erfahren. Dieser Patient hatte sich bereits zur Genüge verraten.

»Sie möchten«, sagte er, »dass ich Ihnen den Arm unbrauchbar mache. Nichts leichter als das. Ich brauchte bloß den einen Nerv zu durchschneiden. Schmerzlos, ich verstehe mich auf die Behandlung. Um meinen Ruf als Arzt brauchte ich hier auch nicht besorgt zu sein. Denn ich habe ja nicht die Absicht, meine Praxis dauernd nach Riga zu verlegen. Auch – mich unauffindbar zu machen, würde mir nicht schwer fallen. Es steht also von meiner Seite dem nichts entgegen – als allenfalls mein Gewissen. Ich verstehe: Der linke Arm geschwächt, der rechte gelähmt. So kann man freilich nicht zum Duell antreten. Und ist es nicht meine Pflicht, das Leben meiner Patienten zu erhalten? Den Arm zu behalten, ist für Sie lebensgefährlich. Also – Amputation oder doch so etwas Ähnliches. Habe ich Sie verstanden?« »Ich danke Ihnen«, sagte Michel, »dass Sie mich verstanden haben.« Ks blieb eine Weile still zwischen ihnen. Dann sagte Michel, der zum Fenster hinaus wie ins Leere geschaut hatte:

»Ich danke Ihnen tausend – tausendmal. Sie haben die Entscheidung mir überlassen. Ich habe mich entschieden. Nun werde ich Sie nicht mehr nötig haben. Reisen Sie, lieber Doktor, lieber kluger Mensch!« »Ich bin also entlassen?« Es verschlug Michel die Stimme: »Leben Sie wohl«, sagte er tonlos. Als Michel nach dieser Konsultation in das Zimmer trat, in welchem seine Eltern und Inge saßen, war Inge die erste, die es bemerkte: Er hatte die Armbinde nicht mehr um.

»Michel«, rief sie, »ich gratuliere!« Die Mutter umarmte ihn. »Ein Wunderdoktor!« rief der Vater. »Dem Kerl schenk ich ein Vermögen.« Er glaubte, der Arzt stehe irgendwo draußen im Vorzimmer. »Warum holst du ihn nicht herein?« Aber der Spitzbart war, ohne sich von der Familie zu verabschieden, gegangen. Als man ins Hotel schickte, war er auch dort nicht mehr. »Abgereist«, hieß es. »Wohin?« – »Unbekannt.« –

Am nächsten Tag erhielt der Linke vom Sekundanten des Rackelhahns einen Brief, worin ihn dieser um eine Unterredung bat. Sie trafen sich am verabredeten Ort. Die Sache sei, erklärte der Sekundant, äußerst peinlich. Sein Parte nämlich müsse – es sähe ja fast schon wie Absicht aus – wieder verreisen, in allernächster Zeit. Da nun Michel, wie er gehört habe, noch nicht so weit wieder hergestellt sei, müsse er also auch diesmal wieder für den dritten und letzten Gang um Aufschub bitten. Leider auf ganz unbestimmte Zeit. Es könne sich um Monate, vielleicht aber auch um Jahre handeln. Absolut zwingende Gründe, Dinge, von deren Regelung das Wohl, ja die Existenz anderer, seiner Obhut anvertrauter Menschen abhinge. Persönliche Anwesenheit unersetzbar. Lebhaftes Bedauern. Untröstlich sozusagen. Was tun? Parte mache Vorschlag: wolle sich mit Entschuldigung zufrieden geben. Ja selbst wenn diese nicht ausdrücklich ausgesprochen würde, wolle er sie doch, gewissermaßen im Sinn eines stillschweigenden Einverständnisses, für angeboten halten und mit Freuden annehmen. Ob es beliebe, auf diesen Vorschlag einzugehen?

Michel und seine beiden Freunde fanden sich /ur Beratung des Falles zusammen. »Selbstverständlich gehen wir auf den Vorschlag ein«, sprach der Rechte. »Dieser Meinung bin ich, unabhängig davon, dass ich als Unparteiischer die Pflicht habe, jede Versöhnung zu begünstigen. Natürlich nur eine solche, bei der die Ehre keiner Partei leidet. Michels Ehre wird aber dabei nicht leiden, denn niemand kann es ihm zumuten, eine völlig unbestimmte Zeit lang auf den Austrag des Duells zu warten. Das gibt's überhaupt nicht. Meiner Meinung nach ist Michel unter diesen Umständen auch gar nicht verpflichtet, irgendeine Entschuldigung abzugeben, weder eine ausgesprochene noch eine unausgesprochene. Gegenwärtig ist er nicht imstande, sich zu stellen, aber in einer Woche, längstens in zwei, wird er soweit sein. Und dann kann er verlangen, dass die Sache nun endlich ihren Abschluss findet. Einmal haben wir Aufschub gewährt. Nun auch noch ein zweites Mal und auf unbestimmte Zeit – das wird mir zu viel. Was denkt sich denn der Rackelhahn dabei? Sollen wir vielleicht bis an sein oder unser Lebensende darauf warten? Wenn ihm seine Reisen wichtiger sind...« »Erlaube mal«, unterbrach ihn der Linke. »Wie wichtig sie ihm sind, wissen wir nicht. Er wird seine Gründe haben. Soweit wir den Rackelhahn kennengelernt haben...« »Soll ihn der Teufel holen!« rief der Rechte. »Du bist mir ein schöner Unparteiischer«, lachte der Linke.

»Also hört«, sagte der Rechte. »Mein Vorschlag ist, wir lassen ihm sagen, für uns sei der Fall erledigt. Mag er sich das als Entschuldigung oder als sonst was deuten, uns kann's egal sein.«

Der Linke schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht deiner Meinung«, sagte er, »du redest die ganze Zeit in einem Ton, als hätten wir's mit keinem Ehrenmann zu tun. Wie kommst du dazu? Und wie kämen wir dazu, uns überhaupt mit dem Fall zu beschäftigen, wenn wir ihn nicht für einen Ehrenmann hielten? Geben wir ihm eine ungenügende Antwort – und deine Antwort wäre ungenügend – so haben wir ihm beides, Entschuldigung und Genugtuung, verweigert. Ich frage noch einmal: wie kämen wir dazu, oder: wie käme er dazu, sich in dieser Weise von uns behandeln zu lassen? – Was sagst du dazu, Michel? Dich geht's |a schließlich in erster Linie an.« »Ich möchte euch erst ausreden lassen«, sagte Michel.

Der Linke klopfte ihm auf die Schulter. »Dir, lieber Michel, würde ich es gar nicht übel nehmen, wenn du nachgerade von der ganzen Geschichte genug hättest. Obwohl, da du zweimal Pech gehabt hast, die Chance, das nächstemal Schwein zu haben, für dich geradezu glänzend steht. Es tut mir ja auch sehr leid, auf den Rackelhahn in deinem Jagdbuch verzichten zu müssen. Aber höre, was ich vorschlagen will: Eine gute alte, bei uns leider in Vergessenheit geratene Sitte wollte es, dass nach den eigentlichen Partnern sich auch noch die Sekundanten schössen. Es wird auch allgemach langweilig, wenn wir nicht mal der Abwechslung halber die Rollen vertauschen. Also: Ich fordere den gegnerischen Sekundanten. Bin überzeugt, dass er sich für seinen Freund stellen wird. Und das gilt dann als die dritte und letzte Kugel. Das ist mein Vorschlag.«

Nun warteten die beiden darauf, was Michel sagen würde. »Ich habe euch angehört«, begann er. »Weder der eine noch der andere Vorschlag gefällt mir. Ich möchte zwei Vorschläge zur Wahl stellen. Entweder: wir lassen ihm sagen, dass wir keine Veranlassung hätten, von den zu Anfang getroffenen Vereinbarungen abzugehen. Das heißt, wir warten, bis er uns seine Rückkehr meldet – und wenn darüber das ganze Leben verginge. Oder zweitens...«

Michel war aufgestanden und hatte begonnen, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Lasst mir etwas Zeit«, sagte er nach einer Weile. Sie warteten, bis er weitersprechen würde. »Also zweitens: Ich mache ihm meine Entschuldigung, in aller Form, persönlich. Aber nur unter einer im voraus ihm durch den Sekundanten mitgeteilten Bedingung.« »Eine Entschuldigung unter Bedingungen – ich weiß nicht, ob das angängig ist«, sagte der Rechte. – »Was wäre denn deine Bedingung?« fragte der Linke.

Michel zögerte. Dann sagte er, und seine Stimme klang wie die eines kleinen ungezogenen Jungen: »Dass er mir meine Brotkugel zurückgibt. Eine hat er ja noch.« Die beiden Freunde sperrten die Münder auf. Dann brachen sie in ein schallendes Gelächter aus. »Ja, glaubst du denn, dass er sich die zum ewigen Andenken aufhebt?« »ja, das glaube ich«, schrie Michel. Die beiden sahen sich an. »Wir müssen zum Schluss kommen«, sagte der Rechte. Der Linke sah verlegen auf seine Fußspitzen. »Ich hab mir's schon gedacht«, sagte Michel, »dass ihr das nicht verstehen könnt. Ich weiß aber, solange er die Brotkugel hat, hat er über mich...«

Er schwieg plötzlich. Dann sagte er, und seine Stimme klang wie die eines Mannes, der weiß, was er sagt: »Also dann mein Vorschlag Numero eins. Auf irgend etwas Drittes lasse ich mich nicht ein.« »Bravo, Michel«, lobte ihn der Linke. Der Hechte zuckte die Achseln: »Wie du willst.« Er sah nach der Uhr. »Hattest du nicht«, wandte er sich an den Linken, »dem Sekundanten versprochen, bis sechs Uhr... Donnerwetter, da wird's aber Zeit. Also geh, entledige dich deines Auftrags. – Ich hätte nicht geglaubt, dass man über eine Ehrensache jemals verschiedener Meinung sein könnte.«


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