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6

Es kam, wie es kommen sollte. Als wieder einmal eine schöne Ferienzeit zu Ende ging, die Michel zu Hause in Riga verlebt hatte, merkte er, dass ihm der Abschied von Inge schwer wurde. So wurde denn kein Abschied daraus, sondern eine Verlobung. Und da war niemand, der damit nicht einverstanden gewesen wäre, ausgenommen einige uns ganz gleichgültige junge Leute, die in Inge verliebt und darum eifersüchtig waren. Aber darauf kann ja nicht Rücksicht genommen werden. Wer sich verlobt, der muss ans Heiraten denken. Und wer ans Heiraten denkt, der darf sich über die Frage nicht hinwegsetzen, womit er denn einen Hausstand begründen und sich und die Frau und – Gott gebe sie – die Kinder ernähren, kleiden, wohnen lassen und durchs Leben bringen will. An alles dieses dachte Michel. Darum nahm er sich fest vor, sein Studium der Rechte so schnell wie möglich und auch so gut wie möglich zu beenden. Und was Michel sich vornahm, das führte er auch aus.

»Ich glaube, der Rackelhahn kommt niemals wieder«, sagte eines Tages der Linke zum Rechten. »Es wäre auch eine Gemeinheit«, meinte der Rechte.

Der Tag der Hochzeit wurde festgesetzt. Er fiel in die Zeit zwischen Ostern und Pfingsten, also in den Teil des Jahres, der im Norden mehr noch als im Süden ein Stück Herrlichkeit auf Erden ist. Michel ging mit sich zu Rate: Sollte er es Inge sagen? – Dass das Duell, das viel von sich reden gemacht hatte, noch nicht beendet war, davon wusste man in der Öffentlichkeit nichts. Die Bedingungen waren ungewöhnlich, und die Nächstbeteiligten hatten darüber, wie überhaupt über die Einzelheiten des Falles, Stillschweigen bewahrt. Man hielt den Fall nach dem zweiten Gang für erledigt, wie man ihn schon nach dem ersten dafür gehalten hatte. An eine nochmalige Überraschung dachte niemand. »Soll ich es ihr sagen? – Aber wie? – Liebe Inge, du musst dich darauf gefasst machen, dass du bald eine junge Witwe sein wirst.« Aber – wieso denn bald? Der Zeitpunkt war ja nicht bestimmt. Jahre waren vergangen, weitere Jahre konnten vergehen, Jahrzehnte. In einem geheimen Winkel seines Herzens setzte Michel seine Hoffnung doch auf die Tiger Indiens.

Aber die Frage: »Soll ich es ihr sagen?« kam damit noch nicht zur Ruhe. Es war nicht nur die dritte Kugel, es war da im Schattenspiel von Michels Erinnerungen auch sonst noch manches Ding und manche Gestalt, bei deren Erscheinen auf der Bildfläche seines Bewusstseins er sich fragen konnte: »Soll ich es ihr sagen?«

»Ich bin nicht schlechter als andere«, versuchte Michel sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Aber er fühlte wohl, dass darin keine Entschuldigung lag, allenfalls eine Mitbeschuldigung, die aber niemals zum Freispruch führt. »Was hast du?« fragte ihn eines Tages Inge.

»Ich möchte dich etwas fragen.« »Frag nur.«

»Stelle dir vor, es gäbe einen Menschen, der alles von mir weiß, alles, Gutes und Schlechtes. Und der hätte das in ein Büchlein geschrieben, alles über mich, Gutes und Schlechtes. Würdest du, wenn du das Büchlein in die Hand bekämest und merken würdest, was es enthält, es lesen? – Möchtest du das?«

»Darüber muss ich erst nachdenken«, sagte Inge. »So schnell kann ich darauf nicht antworten. Lass mir Zeit.«

Am nächsten Tag sagte sie ihm die Antwort: »Ich würde das Büchlein ungelesen bei mir verwahren. Vielleicht sagst du mir eines Tages: Verbrenn es. Dann würde ich es verbrennen.«

»Mit dir hat der Teufel noch nicht die Hölle gefegt wie mit mir«, sagte Michel. Sie lächelte die Falte fort, die sich auf seiner Stirn gebildet hatte.

Der Tag kam. Michel fand, er käme zu schnell. –

»Wie ist das?« fragte er sich. »Freue ich mich denn nicht?« – Doch, er freute sich. Aber zuweilen war es ihm, als hörte er eine Stimme dieselbe Frage an ihn richten, die er schon zweimal gehört und zweimal beantwortet hatte: »Seid ihr fertig?« – Und er wollte darauf, wie es von ihm nicht anders erwartet wurde, auch zum drittenmal wieder mit »fertig« antworten und brachte es nicht heraus. – »Nein, nicht fertig«, antwortete es in ihm. Auf dem Weg zur Kirche, Inge im Wagen neben sich, glaubte Michel, in der Menge der Neugierigen, die den Hochzeitszug an sich vorüberfahren ließen, den Rackelhahn zu erkennen. Aber er hatte sich getäuscht. Viele Gesichter sah er, bekannte und unbekannte. Das Gesicht des Rackelhahns war nicht unter ihnen.

Noch ein zweites Mal täuschte er sich. Er sah eine hohe Stirn, ein scharfgeschnittenes Profil, einen Spitzbart. – »Was will denn der noch in Riga?« dachte er. »Den habe ich doch längst entlassen. Oder sollte ich ihn noch einmal brauchen?« Aber auch der Arzt war es nicht, sondern irgendein Fremder. Das dritte Mal, dass er vor einem Gesicht erschrak, war keine Täuschung: Der rausgeschmissene, der gewesene Korpsbruder. – »Ich sah ihn vor der ersten und auch vor der zweiten Kugel«, erinnerte sich Michel. »Er ist mir beide Male begegnet wie ein Vorläufer des Rackelhahns. Es ist nicht ohne Bedeutung, dass ich ihn hier in der Menge sehe.« – Michel beugte sich zum Fenster des Wagens vor, griff an seinen Zylinderhut und grüßte. Der »Gewesene« machte erstaunte Augen und grüßte wieder. Michel sah, wie sein bleiches Gesicht sich rötete. – »Wer war das?« fragte Inge. – »Jemand aus dem Büchlein«, antwortete Michel.

Michel, mit Inge vor dem Altar stehend, hörte die Worte des Textes, den der Pastor zu seiner Traurede gewählt hatte, aber sie gingen an ihm vorüber wie alte Bekannte, die man grüßt, ohne viel Aufhebens von der Begegnung zu machen. Er fühlte sich durch sie nicht angeredet. – »Wahrscheinlich«, dachte er, »nimmt der Pastor den Text öfters zu seinen Traureden. Er passt ja auch gewiss sehr schön. – Gott ist die Liebe – nun ja, ich will ein anderes Mal darüber nachdenken. Jetzt schauen mich alle an. Dabei kann man nicht denken. Es kommt auch bei dieser Gelegenheit vor allen Dingen auf die Haltung an. Meine Haltung muss tadellos sein, das bin ich Inge schuldig.«

Als dann die Predigt begann, fiel es ihm schwer, aufmerksam zuzuhören. Der alte, gute Pastor hatte eine schleppende Art zu sprechen, die von Anfang an ermüdete. -

»Die Predigt gehört zur Zeremonie«, sagte sich Michel. »Ich darf es mir nicht anmerken lassen, dass ich unaufmerksam bin.« – Aber plötzlich horchte er auf. Da war ein Wort, das hatte er an sich vorübergehen lassen, aber das Wort war zu ihm zurückgekehrt, und diesmal hatte es ihn angeredet: »Denn die Furcht hat Pein.«

Ja, das wusste er, das hatte er erfahren. Er konnte es bestätigen, dass es so sei: Die Furcht hat Pein. – Furcht hatte er gehabt schon vor der ersten Kugel. Und weil er sie sich nicht hatte zugestehen wollen, darum hatte er, herausfordernd, die linke Schulter vorgekehrt und war an ihr getroffen worden. – Noch mehr Furcht hatte er vor der zweiten Kugel gehabt. Sie zu überwinden, hatte er den Vorsatz gefasst: früher schießen als der andere. Die Freunde hatten ihn ja als einen Schnellschützen gerühmt. Aber der andere hatte eben noch schneller geschossen. »Pech gehabt« nannten das die Freunde. Aber das war es nicht, sondern jener war der Meister, und das Glück ist bei denen, die ihre Sache verstehen. Er hatte gehofft, der Arm werde ihm lahm bleiben. Er hatte den Arm opfern wollen für das Herz. Welch ein feiges Herz! Und feigen Herzens hatte er gelebt bis auf diesen Tag, immer in Furcht, in Furcht vor der letzten Kugel. Aber die Haltung, die hatte er doch bewahrt, und die würde er auch der dritten Kugel gegenüber bewahren, und Haltung – das war es ja, worauf es ankam. Nach der Haltung misst man die Helden, wenn man sie außen misst, nicht innen. – Aber was war das jetzt für ein Wort, das zurückgekommen war, ihn anzureden? Hatte der Pastor nicht eben etwas von einer Freudigkeit gesagt? – »Auf dass wir eine Freudigkeit haben am Tage des Gerichts.« War denn das eine Freudigkeit, dass er hier mit seiner Inge vor dem Altar stehen durfte – in Erwartung der dritten Kugel? Und würde er darum freudiger antreten zum letzten Gang, weil er dazu von ihr erst Abschied nehmen musste? Es drängten sich mehr und mehr Worte herzu, ihn anzureden. – »Furcht ist nicht in der Liebe... Wer sich fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe.« – »Ja, ich weiß auch das«, antwortete es in Michel. Völlig – heißt das nicht so viel wie vollkommen? Mein Mut war nicht vollkommen, meine Liebe ist's auch nicht. Ach, was sollte denn an mir Unvollkommenem Vollkommenes sein? Vollkommen – wer ist es? Der Rackelhahn, ja, der ist vollkommen im Schießen! Plötzlich schien es Michel, als kniffe der Pastor das linke Auge zu. Das rechte allein starrte ihn an wie über Kimme und Korn, ein zielendes Auge. Die gerade, edel geformte Nase wurde kurz und spitz. Die Haare sträubten sich zum Schopf. Der Bart... es war der Rackelhahn, der ihm die Predigt hielt. Und in der Hand auch hielt er das Notizbuch. Gleich wird er es aufschlagen und daraus vorzulesen beginnen. Oh, da wird niemand mehr bei der Predigt schlafen, wenn es so feine Sachen zu hören gibt wie die zum Beispiel von der abhanden gekommenen goldenen Uhr, deren Verbleib man lieber nicht nachforscht. – »Ich kann ihn nicht daran hindern«, sagte sich Michel. »Er hat ja noch die eine Brotkugel von mir, die dritte. Die Rechnung ist noch nicht ausgeglichen. Ich bin in seiner Gewalt.«

Aber es war nicht sein Sündenregister, das er zu hören bekam, sondern eine viel sanftere Musik mit ganz anderen Registern. Zwischen dem Prediger und dem Organisten bestand die Abmachung, dass auf ein gegebenes Zeichen hin die Orgel ganz leise zu spielen anfangen sollte. Er wandte diese Wirkung gern zum Schluss seiner Predigten an. Für die Gemeinde war es das Zeichen: Nun dauert's nicht mehr lange.

Aber was war heute nur in den Organisten gefahren? War denn das ein Kirchenlied? – Michel erkannte deutlich die Melodie, und er glaubte auch die Worte zu verstehen: »Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut, du, meine Seele, mein Fleisch und mein Blut.«

Den Umstehenden fiel es auf, dass der Bräutigam blass geworden war. Der Rechte und der Linke, die das Gesicht ihres Freundes in allerlei Veränderungen kannten, tauschten einen besorgten Blick und machten sich darauf gefasst, ihn aufzufangen, wenn er fallen sollte. Er hatte eine Bewegung gemacht mit der linken Hand nach dem Herzen. Und einen Augenblick lang hatte er geschwankt, wie jemand, den es getroffen hat. Aber dann straffte sich seine Haltung wieder. Inge hatte seine Rechte gefasst und hielt sie fest umschlossen in ihrer Linken. Kleine blanke Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Aber er fiel nicht, er stand. Die Freunde sahen sich beruhigt an.

Was war es, das ihn getroffen hatte wie eine Kugel ins Herz? – Ein Wort. – Es war in dieser langen Predigt schon mehr als einmal an ihm vorübergegangen. Er hatte es kaum beachtet. Nun war es zurückgekommen und hatte ihn angeredet. »Die völlige Liebe treibet die Furcht aus.« – Es kam aus dem Raum hinter der Leinwand. Es hatte sie durchschlagen wie ein Schuss. Großmutters altes Tischtuch hatte ein Loch bekommen, von Kugelgröße, und durch die winzige Öffnung drang eine Garbe von Licht. Das Licht strahlte ins Herz. Das Herz wurde hell davon. – Die völlige Liebe – also dort war sie, nicht hier, wo er mit Inge stand, nicht bei ihm, nicht bei ihr, nicht bei den Menschen. Das Menschliche ist nicht das Völlige und kann die Furcht nicht austreiben, die selber nicht von den Menschen ist. Aber die völlige Liebe kann es. Von ihrem Licht ein Strahlenbündel – Dank der Kugel, die das Loch in die Bildwand schlug! – trifft das Herz, und vor solch hellem Widerschein weicht etwas, das vorher groß und dunkel, umrisslos, nah und furchtbar war, zurück und wird, indem es Gestalt annimmt, klein und nichtig, ist nicht mehr bedrohlich, hat keine Gewalt, ist wie eine Kugel, die ausgespielt hat. Man kann sie in die Hand nehmen und fortwerfen. Michel hatte die Augen geschlossen. »Hindurchschauen« dachte er. »Hindurchschauen, sehen, was dahinter ist, das Licht selber sehen!« Aber da hatte ihn jemand etwas gefragt und er sollte antworten. – »Fertig!« wollte er rufen. Ein leiser Druck von Inges Hand ließ ihn die Augen aufmachen. Da stand der alte Pastor vor ihm und lächelte freundlich und wartete darauf, dass Michel endlich sein ›Ja‹ sprechen sollte. Die Ringe hielt er schon bereit. Und da Michel immer noch schwieg, begann er, der mehr Geduld hatte als seine ganze Gemeinde zusammengenommen, die Frage, als sei sie nicht verstanden worden, zu wiederholen: »Willst du...« »Ja!« rief Michel schnell dazwischen, und indem er es aussprach, hatte er damit mehr kundgetan als nur den Willen, die Jungfrau Inge zu seinem ehelichen Weib zu nehmen. Er hatte ja gesagt zu allem: zur Liebe, zum Leben und zum Tod.


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