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Achtundzwanzigstes Kapitel

Der Weg ist frei

Am folgenden Morgen hatte man sich schon früh am Kaffeetisch zusammengefunden, Gräfin Viktoria noch ein wenig verschlafen und mit scharf geröteten Wangen, Blanka in rosiger Frische und Frau Agnes endlich sichtbar glücklich im Besitz des Gatten und der Enkelin. Der ›Junker‹ freilich war noch nicht da. Er hatte, wie immer, auch heut seinen Kaffee gleich nach dem frühen Aufstehen getrunken und sich dann alsbald, während im Hause außer dem bedienenden Mädchen noch alles schlief, zu einem weiten Spaziergang durch die Stadt, über die Wälle und am Hafen entlang aufgemacht. Nun kam er aber auch schon wieder zurück und schob vor sich her Alfred lachend ins Zimmer. Den habe er unterwegs aufgesammelt, berichtete er, und so gottsjämmerlich aussehend gefunden, daß es ihn erbarmt und er ihn zu einiger Stärkung mitgenommen habe. »Geschenkt wird dir darum doch nicht, was ich dir zugedacht,« fügte er, mit dem Finger drohend, launig hinzu. »Vor dem Frühstück aber soll man mit keinem Menschen ins Gericht gehen, man darf ihm doch nicht den ganzen Tag verderben! Und nun gebt mir noch einen Augenblick Urlaub. Wilhelm steht draußen zum Rapport. Nachher setz' ich mich zu euch.«

Die Erscheinung des unvermuteten Gastes brachte keine besondere Störung mit sich. An guter Aufnahme fehlte es gleichfalls nicht. Denn wiewohl Frau von Gunsleben für den jungen Mann auch bei weitem nicht mehr die frühere Herzlichkeit empfand, vielmehr sehr viel an ihm auszusetzen hatte, so konnte das alles dennoch die gütige Frau nicht bis zur Unfreundlichkeit erkälten. Und zwar um so weniger, als das, was sie heut morgen an und zwischen den jungen Menschen beobachtete, ihre Besorgnis entschieden verringerte. Die Begrüßung war anscheinend völlig ungezwungen gewesen. Blanka zeigte sich, nach dem ersten flüchtigen Erröten, unverändert belebt und heiter, und Alfred schien mit jedem Augenblick sich mehr in jene muntere und vertrauliche Weise zurückzufinden, die ihm vordem diesen guten und herzlichen alten Freunden gegenüber so wohl gestanden hatte.

Jetzt kam der ›Junker‹ wieder herein. »Wilhelm erinnert mich sehr vernünftig daran,« sagte er, »daß wir die Verspätung zu Menkendorf anzeigen und einen andern oder wenigstens einen Packwagen bestellen sollen. Denn wie ist's,« wandte er sich in dem leicht boshaften Ton, den er Viktoria gegenüber meistens anschlug, zu dieser, »werden gräfliche Gnaden uns die Ehre ihrer Begleitung gewähren oder vorziehen, hier zu bleiben?«

»Wenn Sie es mir erlauben, Großvater, gehe ich lieber mit Ihnen.«

»Nun, das ist ja schön!« Er schien wirklich recht erfreut.

In diesem Augenblick sank Frau Agnes lautlos zusammen und glitt, bevor ihr jemand zu Hilfe springen konnte, von ihrem Stuhle auf den Teppich hinab.

Die beiden Mädchen schrien auf. Der Alte und Alfred aber waren zugleich an der Seite der Hinabgesunkenen; sie hoben sie auf, sie trugen sie zum Ruhebett und legten sie dort nieder. Das Gesicht war völlig erblaßt, die Augen zeigten sich geschlossen, der Körper schien von allem Leben verlassen zu sein.

»Viktoria, rufe die Karoline. Alfred, laufe nach dem Arzt.«

»Papa, der Medizinalrat ist seit einigen Tagen lebensgefährlich erkrankt. Soll ich den Doktor Frühberg holen oder –«

»Den Frühberg? Den Hanswurst? Nein, den will ich nicht, erwiderte der alte Herr, die Stirne runzelnd. »Sonst, wen du zuerst findest, daß sie uns nur nicht unter den Händen stirbt. Tot kann sie ja doch noch nicht sein, die Alte.« – Was man durch seine Haltung nicht erfuhr, das erhorchte man aus der Stimme. Sie bebte.

Alfred eilte fort. Als er nach wenigen Minuten wiederkam, hatte er seinen alten Freund Leopold an der Hand. »Doktor Busch, Papa; – ein alter Freund von mir. Er kam mir gerade entgegen, und da griff ich zu.«

»Alles recht. Junge. Treten Sie heran, Herr Doktor!« sagte der ›Junker‹, ohne sich von seinem Platze am Fußende des Ruhebettes zu entfernen und ohne sein Auge auch nur für einen einzigen flüchtigen Blick von der noch immer regungslosen Gattin abzuwenden.

Der junge Arzt stellte die sorgfältigste Untersuchung an. »Die eine Beruhigung kann ich Ihnen geben, mein Herr, der Tod ist das nicht, sondern nur eine Ohnmacht, von freilich ungewöhnlicher Tiefe. Wann sie endet und wohin sie führt, darüber kann ich, zumal da ich durchaus unbekannt mit der sonstigen Gesundheit der Dame bin, selbstverständlich noch kein Urteil aussprechen. Wollen Sie sie vor allen Dingen ins Bett schaffen. Dann will ich versuchen, was in meinen Kräften steht, um sie zu erwecken.« Der ›Junker‹ machte eine heimlich einladende Bewegung mit der Hand gegen das Nebenzimmer und folgte ungeduldig dem Vorausgehenden. »Nun, Herr Doktor, ein offenes Wort. Ich kann die Wahrheit hören, mag sie sein, welche sie will.« Und Doktor Busch zögerte nicht. »Sie haben schon mein offenes Wort, Herr von Gunsleben! Es ist kein Tod, sondern Ohnmacht; ich habe bisher keinen Grund, die schlimmsten Folgen zu fürchten. Darüber würde der Hausarzt allerdings sicherer urteilen können, als es mir jetzt möglich ist. Ich setze natürlich voraus, daß Sie diesen Ihren Arzt so bald wie möglich berufen werden.« Worauf der ›Junker‹, nachdem er das Mißgeschick des Hausarztes erwähnt hatte, um weitere Behandlung bat. »Ich werde Ihr Vertrauen zu rechtfertigen suchen,« versetzte Doktor Busch einfach. »Und nun haben Sie die Güte und sagen mir Genaueres über das, was diesem Zufalle vorausgegangen ist und ihn veranlaßt haben kann.«

Während diese Worte gewechselt wurden, fand in einem wenig betretenen Raum des Hauses ein nicht minder vorsichtiges Gespräch statt:

»Wer ist dieser Doktor? Ich habe ihn noch nie gesehen. Ist's ein Fremder? Kann man Vertrauen zu ihm haben? Was sagt er – hat er noch Hoffnung? Machen Sie keine Umschweife, Herr Alfred, sondern sagen Sie mir alles.«

»Wie kann ich das, Komtesse, da der Arzt selber es noch nicht kann?« »Machen Sie sich meine Lage einmal klar. Sie sind ja in alles eingeweiht; weshalb sollte ich mit Geheimnissen spielen, die für Sie keine sind? Ich habe nie recht zu den anderen gehört, und seit dem vorigen Sommer sind wir einander vollends verloren gegangen. Sie wissen, wie ich zurückkam, und vielleicht auch, welche Aufnahme ich fand. Sie waren dumm, diese Menschen, und erbarmungslos. Hatten sie meine Lage vernünftig angesehen und meine Stimmung berücksichtigt, so hätten sie mich eher gewinnen können, als jemals früher. Es wäre für mich gut gewesen und auch für sie. Nun kam ich nach dem widerlichen Winter nach Menkendorf und bald darauf mit der Großmutter hierher. Sie hat mich besser verstanden als alle anderen, – seien Sie nicht ungläubig, Herr Alfred, es ist wahr! Und wenn ich bei ihr bleiben könnte, es möchte vielleicht noch alles gut werden.«

»Sie können es doch, Komtesse!«

»Aber wenn sie stirbt –.« Die Stimme brach ab, als lausche man. Und wirklich, in der anstoßenden Stube war eine Tür geöffnet und Schritte vernehmbar geworden. »Sagen Sie mir schnell noch, wo ich Sie treffen kann, es müßte aber bald sein, sehr bald!« – –

Die neuesterdings geäußerten Befürchtungen Doktor Buschs schienen sich rechtfertigen zu wollen. Frau Agnes lag jetzt meistens in unruhigem Schlaf; wenn sie einmal erwachte, schien sie allerdings klar zu sein und die Ihren zu erkennen. Abends aber lag sie stets in betäubendem Fieber, das von einem lauten Irrereden begleitet war. Der junge Arzt ging ruhig und augenscheinlich ganz klar und sicher seines Weges schweigsam weiter. Er war hier am Krankenbett nicht wieder zu kennen. Hinter dem noch jugendlichen Gesicht und den luftigen Augen barg sich, wie man hätte sagen mögen, ein ernster, besonnener und fester Wille.

Als an einem Morgen in aller Frühe und unerwartet das Freundespaar aus Menkendorf anlangte, da kamen dem Alten zum ersten Male in seinem Leben wohl die Tränen ins Auge, und er drückte beide fest ans Herz. Aber dann hielt er sich wieder so still wie zuvor. Man sah es gut: die Axt des großen Fällers lag auch an seiner Wurzel und es bedurfte nur eines Streiches, um den wuchtigen Stamm zu stürzen. Und dieser Streich schien näher und näher zu drohen, denn Doktor Busch, da er die Kranke heut morgen beobachtete, preßte die Lippen zusammen und schied ohne irgendwelche Äußerung...

Alfred, der am späten Abend noch einmal vorgesprochen und auch keine bessere Nachricht empfangen hatte, fand daheim auf seinem Schreibtisch einen Stadtbrief, der mit dem letzten Postgange eingetroffen und dieses Inhalts war:

Verehrter Herr –, erlauben Sie mir, der ich Ihnen unter anderem Namen bekannt wurde, zugleich mit der Angabe des wirklichen einen Versuch der Erklärung und Rechtfertigung. Ich bin der Rechtsanwalt Joseph Martens, von dessen Stellung zu der Gräfin Viktoria Sie unzweifelhaft gehört haben. Was die Gräfin seinerzeit zurücktreten ließ, war ihre Sorge, durch unsere Verbindung meine damalige Lage noch mehr zu gefährden, und ich fügte mich mit blutendem Herzen, weil ich allerdings nicht imstande war, ihr ein friedliches Glück und eine friedliche Heimat zu bieten. Jetzt haben sich meine Verhältnisse auf das günstigste verändert: ich bin völlig frei. Ich liebe die Gräfin allzu sehr und weiß mich auch von ihr zu innig geliebt, als daß ich ihr ohne die zwingendsten Gründe zu entsagen vermöchte. So kam ich her, und zwar unter fremdem Namen, damit der eigene mir nicht von vornherein alle Türen verschlösse. Ich hatte gehofft, mich Ihnen, dem Freunde aller, entdecken und alles besprechen zu können. Die schwere Krankheit der Frau von Gunsleben änderte dies leider. In einer Unterredung, die uns durch eine gütige Freundin ermöglicht wurde, erklärte Gräfin Viktoria, was sie seit dem vorigen Jahre daheim zu erdulden gehabt; daß auf eine Nachgiebigkeit ihrer Familie nicht zu rechnen und daß sie, zumal da ihre Großmutter, die einzig ihr Freundliche, sterbend sei, auch ohne mich nicht länger hier zu bleiben vermöge. Ich solle sie zu einer Familie begleiten, die schon vordem sich ihrer auf das freundlichste angenommen habe. Daß mich dieser Entschluß betrübt, gestehe ich zu, allein ich muß der Gräfin zustimmen, daß man ihr kaum etwas anderes übrig gelassen hat. Erlauben Sie auch, daß ich Ihnen so bald wie möglich weitere Nachrichten gebe. Bis dahin verdammen Sie uns nicht. Mit besonderer Hochachtung! – Rechtsanwalt Joseph Martens. Der Leser versank in schwere Gedanken. Wie flüchtig der Brief auch geschrieben war und wie wenig er auch erklärte, es sprach aus ihm etwas an, das mehr zu Teilnahme und Mitleid, als zum Zürnen bewegte. Wenn man sich vor Augen hielt, was Viktoria erduldet, so konnte man an den schweren Kämpfen nicht zweifeln, die sie zu bestehen gehabt hatte. Ihre jetzige Entscheidung, – durfte man sie wirklich ganz verdammen? Wenn Frau Agnes starb, so fand sich für Viktoria hier in der Stadt in der Tat keine Stelle mehr. Und in Menkendorf würde sie bei aller Liebe selbst doch nur verkümmern. Und wenn es schon einmal zur Trennung ging, so war dieser Zeitpunkt gewiß der beste: Gegenwärtig hatte niemand für sie einen Gedanken übrig. Trotz alledem machte sich Alfred nun bittere Vorwürfe, daß er den letzten Wunsch einer Verzweifelten zu erfüllen versäumt hatte.

Sein Großvater aber, dem er am nächsten Morgen – Viktorias Abwesenheit war im Hause noch gar nicht bemerkt worden – das Geschehene mitteilte, sagte fast wie erleichtert: »So gehe sie hin. Möge ihr nur die Reue erspart bleiben. Vielleicht verstehen die Spatzen auf den Bäumen das Leben doch besser als wir –.«


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