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Sechstes Kapitel

Wenig Licht

Wer mit der ländlichen Bauart und der Lebensweise bei den Bewohnern des von uns besuchten Ländchens bekannt ist, muß die Frage des alten Pfarrers: »Wer kommt hinter den Stall?« – durchaus gerechtfertigt finden. Die »Höfe«, ob klein oder groß, sind bei ihrer ursprünglichen Anlage mitten aus der Feldmark herausgeschnitten und werden durch das eigentliche Wohnhaus und von den Wirtschaftsgebäuden gebildet. Diese liegen links und rechts nebeneinander, durch Zwischenräume von einem oder ein paar Dutzend Schritten getrennt, so daß einerseits einer drohenden Feuersgefahr wenigstens einigermaßen begegnet wird und andererseits die Gebäude nicht bloß von vorne, sondern auch von den beiden Giebelseiten vollkommen zugänglich sind. Nach innen zu begrenzen und bilden sie so den »Hof«. Vorn mündet dieser fast ausnahmslos auf eine Landstraße oder einen Landweg. Hinter dem Wohnhause zieht sich ein Garten hinaus; hinter den übrigen Gebäuden aber schließt sich, wiederum mit seltenen Ausnahmen, unmittelbar die Feldmark an oder etwa noch ein Stückchen unbenützten Landes, wo das Unkraut wuchert und sich im Laufe der Zeit vielleicht allerhand Plunder ansammelt, den man aus dem Wege haben will. Die Gebäude haben nach dieser Seite keine Eingänge und fast niemals Fenster. Der Pfarrhof zu Menkendorf zeigt einen solchen Platz, und er ist womöglich noch öder und einsamer als sonstirgendwo. Wir haben schon berichtet, daß der Pfarrhof ganz nahe bei der Kirche liegt, und zwar ist diese Nähe eine so große, daß die beiden, Stallung und Schuppen enthaltenden Gebäude, links vom Hause, bis auf zehn oder zwölf Schritte an die alte Umfassungsmauer des Kirchhofes herantreten. Das gibt einen schmalen Streifen Landes, der vollständig unbenützt ist und von niemand betreten wird. Kleine Kinder gibt es seit vielen Jahren weder im Pfarrhause, noch in der drüben liegenden Küsterei, und die Dorfjugend sucht und findet ihre Spielplätze anderwärts. Die Erwachsenen aber haben noch weniger Veranlassung, den abgelegenen Platz aufzusuchen.

Nachmittags, als die Hitze abzunehmen begann und die Pfarrerin schon daran dachte, mit ihrer Enkelin dem Gatten zur Laube zu folgen, war die alte Magd Christine um irgendeines Geschäftes willen zum Stall hinübergegangen. Davon wurde sie durch das außerordentlich lebhafte Gackern eines Huhnes abgerufen, welches, da die Alte sich nach ihm umsah, gerade um die Stallecke hervorgelaufen kam und durch seinen Lärm alle seine, auf dem Hof sich umhertreibenden Gesippen in Aufregung versetzte. Nun wußte Christine als erfahrene Züchterin seit langem, daß die Hühner, in Erinnerung gleichsam an den Naturzustand ihrer Freiheit, noch heute eine unbesiegliche Neigung haben, ihre Eier nicht auf die bestimmten Stellen und in die vorsorglich bereiteten Nester zu legen, sondern sich zu diesem Geschäft ihre eigenen, abgelegenen und versteckten Plätze zu suchen, zum nicht geringen Verdruß und Schaden ihrer Besitzer. Christine machte sich daher auch ungesäumt auf den Weg, um zwischen Stall und Friedhofsmauer nach dem wilden Nest zu suchen; dazu war das eben geschilderte, einsame Stückchen Landes ja so geeignet wie nur denkbar. Dort erblickte sie zwar dann nicht das Nest, dafür aber den Körper eines Menschen, der lang hingestreckt, ganz nahe an der Mauer, zwischen den Nesseln, ›Nachtschatten‹ und anderen wilden Kräutern lag, die sich an dieser einigermaßen lichteren Stelle angesiedelt hatten. Er war in eine nicht vornehme, aber anständige Sommertracht gekleidet. Der Strohhut war beim Sturz vom Kopf geflogen und lag ein paar Schritte entfernt. Vom Gesicht war wenig zu sehen, da es fast ganz in das Kraut gedrückt war. An der linken Schläfe aber und an der Wange unter ihr zeigte sich etwas Blut. Als sich die Magd vom ersten Schreck erholt hatte, näher herangetreten war und keinerlei Bewegung an dem Körper wahrnahm, machte sie sich rasch auf den Rückweg und brachte die böse Kunde ins Haus. Die Pfarrfrau hatte sich bald gefaßt, und bevor noch die nach dem Großvater ausgesandte Enkelin wieder zurückgekehrt war, schon die von dieser mitgebrachten Aufträge zum Teil selber ins Werk gesetzt: zum alten, vertrauten Küster und zum Wirtschafter des Gutes auf den Hof geschickt und ein Gemach zur Aufnahme eines Kranken oder Verwundeten in Aussicht genommen – denn an einen Toten glaubte sie nicht: es war ja ganz undenkbar, das; auf jener Stelle, so nahe beim Hause und am hellen Tage, jemand hilflos zu Tode gekommen oder gar erschlagen worden sein sollte.

Als die beiden alten Herren jetzt anlangten, sahen sie daher alles schon vorbereitet und auch den Küster Stahlberg bereits eilig von seiner Wohnung herüberkommen. Sie gingen ohne Aufenthalt, nur in Begleitung der Pfarrfrau, die sich mit alter Leinwand, frischem Wasser und der Rumflasche versehen hatte, zum Schauplatz des Unglücks hinüber und fanden den Körper in der Lage und auf der Stelle, wie Christine es beschrieben hatte, unverändert, und erkannten jetzt bald, daß man es mit keinem Verwundeten und Betäubten, sondern wirklich mit einem Toten zu tun hatte. – Der Wann war vornüber und in das hier üppig wuchernde Unkraut hineingefallen. Dieses war in größerem Umkreise niedergedrückt, als durch den Fall allein erklärt wurde: der Körper mußte sich entweder noch gewälzt haben oder von einer fremden Hand hin und her gezogen worden sein. Das Blut an der linken Schläfe und Wange rührte augenscheinlich von einer Wunde an der Stirn her, die stark geblutet, aber kein tödliches Aussehen hatte; sie war offenbar dadurch entstanden, daß der Mann bei seinem Fall mit der Stirn auf einen ziemlich scharf gekanteten Stein gestoßen war, der hier im Kraute lag und sich auch jetzt noch blutig zeigte. Dagegen fand sich hinter dem rechten Ohr gleichfalls etwas Blut und unter dem verdeckenden Haar eine aus der Tiefe geöffnete Wunde, wie sie nur durch eine herausschlagende Kugel hervorgebracht werden kann. Und als der Wirtschafter des ›Junkers‹, den der Bote glücklicherweise sogleich gefunden und rasch herübergeschickt hatte, jetzt noch einmal die linke Seite untersuchte, bemerkte er eine von dem anklebenden Stirnblut anfangs übersehene, erbsengroße, blaue Stelle, wo die tödliche Kugel eingedrungen war. Von Verbrennung fand sich nicht die leiseste Spur, und der Schuß mußte daher aus einer nicht ganz unbedeutenden Entfernung abgefeuert worden sein. Und da von einer solchen gegen die Stallwand zu keine Rede war, so konnte der Mörder nur hinter der Kirchhofsmauer gestanden haben, und der Getroffene mußte sich im Todeskampf vollständig umgedreht haben. Auf dem Kirchhof entdeckte man dann von fünf bis sechs Schritt, neben einem alten, versunkenen Grabe in der Tat eine Stelle, wo das Gras niedergetreten war. Auch die Richtung stimmte. Doch war die Möglichkeit allerdings nicht ausgeschlossen daß das Gras durch irgend jemand sonst oder irgend etwas anderes niedergedrückt war. Nur mußte der Druck vor kurzem stattgefunden haben; denn ob das Gras sich auch nicht wiederaufzurichten vermocht hatte, so war es doch noch ganz frisch. Dem entsprach auch der Zustand der Leiche: so weit die gegenwärtig Anwesenden dergleichen verstanden, mußte der Tod vermutlich erst vor wenigen Stunden, jedenfalls aber am heutigen Tage eingetreten sein.

Der Tote war ein kaum mittelgroßer, wohlbeleibter Mann und wurde von allen Anwesenden augenblicklich als der Handelsmann Willmanns erkannt, eine in diesem Teile landkundige Persönlichkeit. Er durchzog zweimal im Jahr, im Frühling und Herbst, die Gegend kaufte von größeren und kleineren Besitzern alles Mögliche: Häute, Knochen, Talg, Wolle und was dergleichen mehr ist, zusammen, vermittelte auch größere Geschäfte für bedeutendere Häuser, besorgte daneben alle möglichen Aufträge und hatte sich durch seine Dienstwilligkeit, Umsicht, Erfahrung und Ehrlichkeit den besten Ruf erworben. Nun war es von vornherein auffällig, daß er erstens so ganz und gar außer der gewohnten Zeit sich auf die Reise begeben, und zweitens, daß er dieselbe ohne sein gleich ihm selbst allerwärts bekanntes Gefährt angetreten hatte. Dazu fehlte, wie man auf den ersten Blick bemerkte, die wiederum altbekannte lederne Geldkatze, welche Willmanns unter der langen Weste um den Leib zu tragen pflegte, und als der ›Junker‹ unter dem offenen Rock darnach sah, auch die, gewöhnlich von Papieren strotzende dicke rote Brieftasche in der Brusttasche. Dagegen ging die alte, zweigehäusige silberne Uhr noch unverändert ihren ruhigen Gang. Demnach hatte hier augenscheinlich neben dem Morde auch ein Raub stattgefunden; denn daß der Händler sich, auch wenn er keine bestimmten Geschäfte vor sich hatte, ohne jede Katze und Brieftasche auf irgendeinen Ausflug begeben haben sollte, war für jeden, der ihn kannte, völlig undenkbar. So häuften sich die Fragen oder vielmehr Rätsel, denn auf die Fragen gab es keine Antwort. Was hatte Willmanns zu dieser ungewöhnlichen Reise vermocht und gerade in diese Gegend geführt? Wie war er hierher gelangt? Mit seinem Gefährt, das er dann irgendwo eingestellt haben mußte? Oder zu Boot? Woher war er gekommen und wohin wollte er? Ins Pfarrhaus, wo er alljährlich sich wohl aufgenommen fand? Aber, was kam er dann nicht geradezu auf den Hof und ins Haus, sondern betrat den abgelegenen Platz, wo er unmöglich etwas zu tun haben konnte, und wohin kein Weg führte? War er durch Zufall dahin geraten, in irgendeiner Absicht oder etwa auf Bestellung von dem Mörder? Und nun begann eine neue Reihe! War dies ein Feind – hatte Willmanns Feinde? War es ein beabsichtigter Raub oder war's die Tat eines Landstreichers gewesen, der nur eben die gute Gelegenheit mitnahm? Und dann endlich – wie war ein solcher zu einer Waffe gekommen und – wieder eine Frage! – zu was für einer? Eine Schußwaffe war es allerdings gewesen, aber ersichtlich von merkwürdig kleinem Kaliber! Doch ein Schuß war, wie es in dieser Nähe doch hätte der Fall sein müssen, von keinem Bewohner des Pfarrhauses vernommen worden.

Langhans, der Wirtschafter, versuchte nunmehr eine Erklärung. »Als ich im März in der Stadt war und auch unseren jungen Herrn Robert besuchte,« sagte er in einer Art von geheimnisvoller Weise, »zeigte er mir ein winziges Pistölchen, jedoch von solcher Tragkraft, daß der junge Herr damit vor meinen Augen eine Taube vom Dach herunterschoß. Die kleine Kugel hatte das Tier durch und durch geschlagen; die Wunde war ganz wie diese hier, der Blutverlust nicht der Rede wert und endlich der Knall nur ein Aufpuffen, das man kaum im Nebenzimmer hören konnte. Ein verflixtes Ding, sage ich, für den Liebhaber von dergleichen!«

Der ›Junker‹ schüttelte den Kopf. »Das ist nichts, Langhans,« meinte er, »das Ding können Sie jetzt bei mir sehen; der Junge ließ es mir hier. Das ist nicht für solche Bursche, wie hier doch wohl einer gearbeitet haben wird. Ich begreif' es nur nicht, wie einer von dieser Sorte durch unser Ländchen kommen soll, ohne bemerkt zu werden? Denn an einen von unseren Leuten denkt doch wohl keiner von uns?« Er sah sich dabei im Kreise um.

Der Pfarrer schüttelte leicht das weiße Haupt. »Keiner!« versetzte er ruhig. »Also, Langhans,« begann der Gutsherr nun seine Anordnungen zu treffen, »gehen Sie sogleich zum Müller und erkundigen Sie sich genau nach dem Burschen, der vor einer Stunde etwa auf dem Steige gegen den Mühlbusch zu hinabging. Mittelgroß, breitschulterig, etwas vom Seemann, auch im Gange; lange grauleinene Beinkleider, dunkle Jacke, Soldatenmütze – ich meine, von der Artillerie. Endlich blondes, krauses Haar. Nehmen Sie ein paar Leute mit und noch einige von der Mühle dazu und lassen alles ordentlich abstreifen. Schicken Sie auch jemand nach Drömnitz. Wir gehen derweil ins Dorf, Stahlberg sorgt hier für Ruhe. Ich hoffe, die Herren vom Gericht werden sich ein bißchen eilen. An uns soll's nicht liegen, wenn diese Schandtat ungestraft bleibt!«

Man trennte sich, um den Weisungen zu folgen, und die beiden alten Herren machten sich auf den Weg zum Dorf, im ernsten Gespräch den unglücklichen Fall überlegend und beleuchtend. »Ich muß immer an den armen Warneck denken,« sagte Herr von Gunsleben grübelnd, »der wurde auch auf einer Stelle gefunden, wo weder er noch sonst jemand etwas zu suchen hatte; meine Arbeiter waren den ganzen Tag über keine Viertelstunde weit entfernt, und sie hörten keinen Schuß und von einem Fremden hatte damals gleichfalls kein Mensch etwas gesehen!« –

»Du vergissest, Detlef,« entgegnete Silberg ernst, »daß es niemals festzustellen war, ob dein Schwiegersohn dort auch gefallen oder nur der Leichnam dahin geschafft worden sei. Hier ist von dem letzteren kaum die Rede.« In der Nähe des Dorfes kamen ihnen die Bewohner schon in ganzen Scharen entgegen, da die Kunde inzwischen auch zu ihnen gelangt war. Sie wurden ernstlich zurückgewiesen, denn den Schauplatz des Verbrechens sollte vor der gerichtlichen Untersuchung niemand betreten.

Die Fragen der beiden Herren führten zu nichts. Willmanns war weder im Dorf noch sonst wo erblickt worden, und auch einen Fremden hatte niemand wahrgenommen. Die Glut des Tages hatte allerdings die meisten in ihren Häusern gehalten, aber es waren trotzdem noch manche da, die auch draußen zu tun gehabt hatten und irgend etwas, vom gewöhnlichen Lauf der Dinge Abweichendes unbedingt wahrnehmen hätten müssen. Von der Mühle her erhielt man zwar keine viel ausgiebigere Nachricht, aber immerhin Mitteilungen, welche wenigstens eine Art von Spur erscheinen ließen. Ein Sohn des Müllers, ein Junge von zehn bis elf Jahren, hatte, als er um elf Uhr aus der Schule gekommen und, dem sogenannten »Herrensteige« folgend, durch den Mühlbusch gesprungen war, auf einem andern, vom Strande heraufsteigendem Wege durch das Gebüsch einen Mann erblickt, den er für Willmanns hielt. Als er daheim hiervon gesagt, wies man ihn ungläubig ab: der Händler sei nicht anwesend, noch niemals zu dieser Zeit auf Reisen gewesen und werde, wenn dennoch ausnahmsweise anlangend, sicher nicht an der Mühle ohne einzusprechen vorübergegangen sein. Ebenso war auch der Fremdling vom Nachmittag mehrfach von Kindern gesehen worden. Er kam aus dem Busch unterhalb der Mühle hervor – hieß es – und schritt eine Strecke weit am Bach entlang. Bevor er wieder im Gebüsch verschwand, hatte ihn übrigens auch noch der gerade aus der Tür tretende Müller gesehen, allein schon in einer Entfernung, die selbst dem besten Auge eine irgendwie genaue Musterung unmöglich zu machen pflegt. Trotzdem, meinte der Mann, sei in der Gestalt und den Bewegungen des Menschen etwas gewesen, das ihn an einen alten Bekannten, den Peter Ahrens von Drömnitz, erinnert habe, einen wilden Kerl, der seinerzeit unausgesetzt mit den Gerichten zu tun hatte. Aber der sei ja schon seit sechs, acht Jahren außer Landes und solle, wie man zu Drömnitz sage, auch bereits vor Jahr und Tag in Amerika gestorben sein.

Bei den Nachforschungen, welche die Leute des ›Junkers‹ jetzt anstellen mußten, entdeckten sie am Strande, links, etwa hundert Schritte von dem Ausgange der Schlucht, eine Stelle, wo unter dem klaren, seichten Wasser der Einschnitt eines Bootkiels in den Seegrund deutlich zu erkennen war, und auf dem seinen Uferrande fanden sich auch Fußtapfen eingedrückt von einem Gehenden und einem Zurückkehrenden.

Die Gerichtsabordnung, die schon in der Morgendämmerung anlangte, nahm alles sorgfältig in Augenschein und brachte gewissenhaft die verschiedenen Angaben zu Papier. Neue fanden sich darunter keine, und auch von anderweitigen Spuren wurde nichts entdeckt. Man mußte von der folgenden ernsten Untersuchung bessere Ergebnisse erhoffen.


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