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Gustav von Succo war im Garten vor dem Menahouse auf und nieder gegangen. Er wußte, er fühlte, daß man ihn beobachtete. Soweit es ihm möglich war, suchte er darum nach außen hin den Gleichgültigen zu spielen. Er wollte Frau von Druhsen und den anderen ›Eingeweihten‹ kein amüsantes Schauspiel bieten.

Dabei war die Erregung derart in ihm angewachsen, daß er merkte: seine Stimme würde ihm jetzt total versagen, wenn er sprechen müßte.

Solange er auf seinem Spaziergang das Gesicht nach Osten hatte, auf Kairo zu, klammerte sich sein Blick immer so krampfhaft an all die Wagen und Karawanen, als könnte er eines der Gefährte zwingen, endlich seine Frau herzubringen. Schlug er die entgegengesetzte Richtung ein, so umschwebte ein lässiges, hochmütiges Lächeln seine Lippen.

Im Augenblick, da das Shepheardsche Auto mit kurzem Ruck vor dem Tor hielt, befand sich Succo gerade dicht am Eingang zur Hotelhalle. Er besaß noch soviel Herrschaft über sich, daß er den Weg an den verschiedenen Gruppen vorbei in ganz ruhigem Schritt nahm. Sobald er aber das Zimmer erreicht hatte, fühlte er eine solche Schwäche und Abgeschlagenheit in seinen Knien, daß er sich setzen mußte.

Jutta war ein wenig erstaunt darüber, daß ihr Mann, als sie mit herzlichem Gruß, noch unter dem Eindruck des Wiedersehens mit ihrem Vater, angeregt von der Fahrt, flott eintrat, den Kopf nicht nach ihr wandte und auch nicht aufstand, ihr nicht entgegenkam. Aber sie hatte sich fest vorgenommen, die Verstimmung nicht fortzuführen, sondern von vornherein einen versöhnlichen Ton anzuschlagen. Also ging sie auf ihn zu, legte ihren Arm um seinen Nacken und küßte ihn auf die Backe.

»Papa läßt Dich grüßen, Gustl. Er erwartet uns also zum Frühstück um eins. So ist Dir's doch recht? Nun, und wie war Deine Tour?«

Er hatte den Arm erhoben und schob sie ziemlich bestimmt von sich. »Laß das, bitte. Ich habe zuerst über etwas anderes mit Dir zu sprechen.«

Sie hatte ihre Jacke geöffnet, um sie auszuziehen, behielt sie aber in der Bestürzung über seinen Ton an. »… Ja?«

»Du hast bis zum heutigen Tage immer mein Vertrauen gehabt, Jutta. Sehr viele haben Dir eine gewisse Leichtigkeit der Sitten nachgesagt – bitte, laß mich ausreden – eine gewisse Leichtigkeit der Sitten, die sich mit Deiner Stellung, der Stellung an meiner Seite, durchaus nicht vertragen wollte. Ich habe auf die Redereien nie ein größeres Gewicht gelegt, obwohl sie mir peinlich genug waren. Das hat Dich, scheint's, in Sicherheit gewiegt. Du hast es toller und immer toller getrieben. Und heute – weiß ich tatsächlich nicht, ob die Frau, die meinen Namen trägt, noch überhaupt würdig ist …« Er ließ seine Faust auf den Tisch fallen und sprang auf. »Du sollst mich ausreden lassen, das verlange ich!«

»Gustl – ja, sag' mal, ist denn das ernst? Was willst Du denn nur?«

»Du treibst hinter meinem Rücken Dinge, die – die – die eine ehrbare Frau … Jawohl, die Schamröte muß einem ins Gesicht steigen … So erbärmlich ist das, so niedrig, so unsagbar niedrig …«

Der Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er hatte bis jetzt halb von ihr abgewandt gesprochen. Nun stieß er den Stuhl, an dessen Lehne er sich bisher festgehalten hatte, von sich und starrte sie grimmig, nein haßerfüllt an.

»Hör' mal, Gustav, ich weiß nicht, wo das hinaus soll … Wenn das etwa wegen Fritz von Succo …«

»Jawohl! Jawohl!« Er schrie es fast. »Da sagst Du's ja gleich selbst! Wie kommst Du denn gerade darauf? He?!«

»Aber ich bitte Dich um alles in der Welt, Gustav, mäßige Dich doch. Das ist ja fürchterlich. Man kann doch viel eher in aller Ruhe …«

»Ich habe keine Ruhe mehr. Meine Geduld ist zu Ende. Ich bin keiner von den rückgratlosen, schwächlichen, verliebten Dummköpfen, verstehst Du, die sich durch ihre Frau zum Gespött von aller Welt machen lassen. Du sollst mich nun kennen lernen.«

»Mein Gott, mein Gott! – Du sprichst ja, als ob – als wäre … Oh, wie furchtbar häßlich ist das, wie furchtbar häßlich! Ich weiß ja gar nicht, was ich sagen soll …«

»Du hast jetzt nichts zu tun, als Dich zu verantworten. Ob Du mir die Wahrheit sagst oder nicht: den Sachverhalt kenne ich schon. Und ich werde nicht lange fackeln. Ich hab's satt. Bis hierher. Im ganzen Hotel wissen sie's schon. Ich bin natürlich der letzte, der es erfahren hat. Die Ehemänner sollen's ja stets erst ganz zuletzt erfahren.«

»Gustav – überlege Dir – ich zweifle ja noch immer …«

» Ich zweifle nicht mehr. Still jetzt. Du hast mir nur zu antworten. Du bist in Bedracheïn gewesen?«

»Ja.«

»Bei Herrn von Succo?«

»Ja.«

»Du hast ihn auch hier empfangen?«

»Ja.«

»Vorn in der Halle vor allen Leuten – und dann hast Du Ausflüge mit ihm gemacht – und schließlich … Schweig! Leugne nicht!« Er stürzte plötzlich auf die Verandatür zu, riß sie auf und zeigte auf die Spuren von Kies und Gartenerde. »Und er ist auch hier im Zimmer bei Dir gewesen. Heimlich. Da über die Mauer ist er gekommen. Während ich fort war. In der Nacht … Und die Blumen da hat er Dir gebracht, Briefchen geschickt, und Du hast Dich betragen wie – wie … O pfui Teufel, pfui Teufel!« Er hatte mit seiner zitternden Hand in die Blumen gefaßt, die Dornen stachen ihn, er packte in seiner Wut noch fester zu, riß den Strauß aus der Vase und schleuderte ihn in die Ecke der Veranda. Das hohe Glas war umgefallen, und das Wasser lief aus.

Jutta hatte ihn zuerst nur ganz verdutzt, ganz verblüfft angesehen. Die volle Größe des Schimpfes, den er ihr antat, war ihr bei seinen ersten, kurzen Fragen noch gar nicht aufgegangen. Ohne daß sie wirklich nachdachte, erkannte sie sofort: irgendwer hatte gestern abend das Eindringen des Schlesiers beobachtet, es lag eine absichtliche Verdrehung der Tatsachen in dieser Darstellung.

Aber erwidern konnte sie nicht darauf.

Sie schüttelte nur immerzu ganz verwundert den Kopf.

Succo stand mit blassem, verzerrtem Gesicht an der Tür. Es war ihm nach all der Qual des letzten Tages und der schrecklichen, einsamen Nacht eine wahre Erlösung, daß er sich's endlich von der Seele wälzen konnte. Ja, es erfüllte ihn etwas wie ein Triumph darüber, daß er hier Streich um Streich erteilte und daß Jutta stumm und kleinlaut sich all das von ihm sagen lassen mußte.

»So. Nun weißt Du's. Das hättest Du wohl so rasch nicht erwartet gehabt, wie? Aber rede Dich nicht aus. Versuch es gar nicht erst. Schon an Bord hat es angefangen. Man hat Dich beobachtet. Alle Welt hat Dich beobachtet. Auch drinnen in Kairo – wie Du da mit ihm konspiriert hast. Und mir führst Du eine Komödie auf. Mitleid – Großmut – Humanitätsduselei – die ganze verlogene Wirtschaft … Weißt Du, was ein Mann an meiner Stelle jetzt tun könnte? Weißt Du das?«

Immer schwerer und dumpfer hatte sich's auf sie gelegt. Sie war langsam ein paar Schritt zurückgewichen. Wieder schüttelte sie den Kopf. Es erschien ihr so abenteuerlich, daß diese Worte an sie gerichtet sein sollten. Und daß ihr Mann sie sprach. Auch jetzt fand sie noch keine Erwiderung. Es war ihr gar nicht möglich, zu sprechen.

Ihr Verstummen steigerte nur seine Wut.

»Ich könnte Dich töten, wenn ich wollte. Ja. Jetzt auf der Stelle. Denn Du leugnest ja nicht einmal. Du leugnest ja nicht einmal. Das ist die Quittung für alles, was ich an Dir getan habe. Sieh mich nicht so an. Du hast kein Recht dazu. Oder sage: es ist nicht wahr. Sieh mir ins Auge und sage: es ist nicht wahr.«

Sie hielt beide Hände gegen die Kehle gepreßt. Als körperlichen Schmerz empfand sie dies Zusammenschnüren, diese Ohnmacht, die sich ihrer bemächtigt hatte.

»Sage: es ist nicht wahr!! Jutta! Du sollst sagen: es ist nicht wahr!«

Sie ließ schlaff die Arme sinken und schüttelte den Kopf.

»Sage: es ist nicht wahr! – Oder es geschieht etwas, Jutta!«

Wieder wartete er. Sie maß ihn nur mit ihrem verwunderten, immer kälter und immer trotziger werdenden Blick.

»Weißt Du, was Stangenberg getan hat? Weißt Du, wie das damals abgeschlossen hat? Die Reitpeitsche hat er genommen … Jutta, ich stehe für nichts, wenn Du fortfährst, mich so zu reizen. Mustere mich nicht so. Dazu hast Du kein Recht. Ich sage Dir, Du hast kein Recht dazu, Jutta! Kannst Du leugnen, daß Du bei ihm warst? Und daß er hier bei Dir war? Hinter meinem Rücken? Ja, kannst Du das leugnen? … Sprich ein Wort, oder es geschieht etwas! … Kannst Du's leugnen?«

Sie war nun ganz eisig geworden. Heftig schüttelte sie den Kopf.

»Du sollst es aussprechen, Jutta. Rede. Leugnest Du, daß Du bei ihm warst?«

Wieder eine Pause. Endlich sagte sie in mattem Ton, aber dabei fast verächtlich: »Nein!«

Er hatte Fäuste gemacht. »Also. Also.« Nun stampfte er mit dem Fuße auf. »Aber nein, nein, nein – das soll mich doch nicht zum Proletarier machen. Nein. Es ist besser so. Wenn eines fällt, braucht das andere nicht mit herunter. Ich bleibe, was ich bin. Aber Du – Du …«

Jutta hatte sich an den Schrank gelehnt. Die Hände hielt sie im Rücken verschränkt. »Tobe, Gustav. Es berührt mich nicht. Du wirst ja wieder zu Sinnen kommen und bereuen. Jetzt bist Du nicht bei Verstand. Sonst würde ich Dir erklären, wie das gekommen ist.«

Er lachte laut auf. »Erklären? So? Bedarf es dafür noch einer Erklärung? Daß Du mich wochenlang betrogen hast – schon an Bord – und während ich nun weg war … daß Du – daß Du – daß Du dirnenhaft gehandelt hast!«

Eine Sekunde lang schien's, als wollte er sich auf sie stürzen. Sie war jäh zusammengefahren. Er hielt es für Angst. Aber da begegnete er ihrem Blick. Eine eisige Starrheit lag darin. Er wollte sich durch ihre Verstocktheit nicht noch mehr zur Wut reizen lassen, steckte die Fäuste in die Taschen und gab sich gewaltsam einen Ruck.

»Geh mir aus den Augen!« befahl er kurz. »Alles weitere wird sich finden.«

Damit stellte er sich an die Verandatür, ihr den Rücken zukehrend.

Er nahm an, daß sie einsehen würde: es war alles verspielt. Natürlich würde sie sich nun aufs Bitten verlegen. Vielleicht lag sie in der nächsten Sekunde hier neben ihm und küßte seine Hand.

Ein physischer Ekel erfaßte ihn. Wie er derlei ›Szenen‹ haßte. Er schämte sich. Selbst in dem Ausbruch seines gerechten Zornes hatte doch etwas gelegen, was seiner innersten Natur ganz fremd war. Es quälte ihn, es demütigte ihn, daß ihn irgendeine fremde Macht zwang, sich selbst zu beobachten. So – als ob hier Komödie gespielt würde.

Wie tief man doch gleich sank!

Das hätte ihm vor ein paar Wochen jemand prophezeien sollen!

… Er kannte sich selbst nicht mehr …

Eine geraume Weile war es totenstill im Zimmer geblieben. Jetzt endlich hörte er das Rauschen seidener Röcke. Er drehte sich nicht nach ihr um. Näherte sie sich ihm? Blieb sie nun wieder stehen? Was wollte sie – was plante sie?

Da ging die Tür.

Jutta verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu sagen.

Sah sie etwa nach ihm her, während sie in der offenen Tür stand? Wollte sie ergründen, ob es ihm auch wirklich todernst war?

Leise, fast unhörbar war die Tür hinter ihr wieder ins Schloß gesunken.

Aber er fühlte ihre Nähe doch noch. Eine dumpfe, drückende Schwüle – etwas Hitziges, Sinnliches.

Plötzlich wandte er sich um. »Jutta –!« stieß er aus.

Das Zimmer war leer.

Er eilte auf die Tür zu. Als er die Klinke schon in der Hand hielt, zögerte er wieder.

›Nein, nein, nur jetzt keine Schwäche, keine sentimentale Anwandlung! So etwas kann nicht mit Tränen gesühnt werden. Nur mit Blut!‹

Nun fuhren seine beiden Fäuste in ohnmächtiger Wut jäh empor – er schüttelte sie – und ein unartikulierter Aufschrei entrang sich seiner Kehle.

Wie er sie haßte!

*

Als Plaschke von seinen Geschäftsbesuchen nach dem Hotel zurückkehrte, fand er Jutta in seinem Zimmer.

Sie war ruhig, sprach in so gefaßtem, kühlem Ton, daß Plaschke den Widerspruch zwischen Form und Inhalt ihres abenteuerlichen, ja ungeheuerlichen Berichts gar nicht begreifen konnte.

»Hör' mal, Jutta, das ist ja kompletter Unsinn,« sagte er dann kopfschüttelnd. »Verzeih Deinem altersschwachen Herrn Papa – aber das geht ganz einfach über seinen Horizont hinaus.« Er führte sie zum Fenster und sah ihr prüfend in die Augen. »Vor allen Dingen wirst Du mal ein Brausepulver oder so was nehmen. Kreideweiß bist Du. Und hast eiskalte Finger.«

»Laß, Vatting,« bat sie unter einem hilflosen, matten Lächeln, »das ist ja jetzt Nebensache. Du siehst, ich bin gar nicht aufgeregt. Es ist mir bloß so eigentümlich leer zumute. Als wäre in mir etwas gestorben. So zwecklos erscheint mir alles – so überflüssig. Nein, ich kann Dir's gar nicht schildern, wir mir ist.«

»Na, Kindchen, es wird ja keine Suppe so heiß gegessen, wie sie gekocht ist. Aber Junker Gustav hat sich da was Schönes angerichtet. Unglaublich. Unglaublich. Natürlich fahr' ich gleich zu ihm hin. Selbstverständlich, Jutta. Wie denkst Du Dir's sonst? Das ist doch so ein unhaltbarer Zustand.«

»Ich kehre unter keinen Umständen zu ihm zurück, Vatting. Nein, nein, dazu wirst Du mir im Ernst auch nicht zureden.«

»Zu ihm zurück – so meine ich's nicht wörtlich. Natürlich muß er Dir folgen. Herr meines Lebens, man sollt's aber wirklich nicht für möglich halten. Wie kam er bloß dazu? Da muß einer doch schon Scheuklappen tragen. Es ist, um an seinem Verstand zu zweifeln.«

Wie ihr Mann zu dem Verdacht gekommen war, das konnte Jutta bloß ahnen. Bestimmte Anhaltspunkte hatte sie ja nicht. Nichtsnutziger Klatsch schien da zusammengetragen worden zu sein. Daß man ihren Verkehr mit Fritz von Succo falsch einschätzte, das war ihr ja allerdings schon an Bord zu Bewußtsein gekommen. Sie gab zu, sie hatte nichts getan, um dieser Nachrede zu begegnen. Aus dem einfachen Grund, weil sie himmelhoch darüber stand. Das Benehmen Stangenbergs und Schneiders hätte sie warnen müssen. Statt dessen hatte das alles nur noch mehr ihren Trotz herausgefordert. Aber daß ihr Mann sich von vornherein auf die Seite dieser Menschen stellte, die sie mit Schmutz bewarfen …

»Und Du hast es Gustav nun ausführlich geschildert – ihm auseinandergesetzt, wie das mit seinem Vetter so gekommen ist – und trotzdem?!«

»Nein, Vatting. Ich habe kein Wort darauf erwidert.«

Verblüfft sah er sie an. »Wieso?«

»Einmal hatte ich gar nicht die Gelegenheit dazu, Vatting. Er ließ sie mir nicht. Und dann: selbst wenn er sie mir gegeben hätte – war denn das, was er zu mir gesagt hat, rückgängig zu machen?«

»Hmhmhm. Mädel, nu aber mal ganz erdhaft gesprochen: man darf auch sein Ehrgefühl nicht überspannen. Gewiß war es maßlos dreist von ihm, dabei unsagbar töricht – nein, platterdings dumm – daß er so was überhaupt voraussetzt, Dich ohne weiteres gleichstellt mit … Ei, es ist ja unglaublich … Aber schließlich muß man sich doch auch wieder sagen: der Klatsch war da, man hatte ihn aufgehetzt, hatte allerlei Tatsachen verdreht, der Schein sprach gegen Dich – ja, den Teufel auch, da konnte er sich doch nicht so ohne weiteres zufrieden geben? Da mußt' er's doch wenigstens zur Sprache bringen! Kindchen, darin mußt Du gerecht sein. Bißchen Schuld hast Du selbst an der Geschichte.«

Jutta saß in sich zusammengesunken da. »Wie soll ich ihm Beweise dafür beibringen, daß ich nicht insgeheim verworfen bin? Er hat keinen Glauben an mich, – den kann ich ihm nicht geben.«

»Aber Du kannst doch die sinnlosen Anklagen entkräften, Jutta.«

»Ich weiß nicht, Vatting. Einem Manne, dessen Beruf es ist, bei dem Angeklagten das Verbrechen als das Selbstverständliche vorauszusetzen?«

»Jutta, Kind, wohin verirrst Du Dich?«

»Er hat mit dem einen Wort alles vernichtet, was zwischen uns war.«

»Erlaube! Du denkst doch wohl nicht etwa, daß Ihr nun – – wie soll ich sagen – – daß Ihr jetzt auseinandergehen müßtet?«

»Doch, Papa. Für mich ist das die einzige Lösung.«

»Mein Mädel! Du! Wie Du doch immer gleich mit dem Kopf durch die Wand willst. Das ist nun wirklich übertrieben. Wirklich und wahrhaftig.«

»Ach, Vatting, zank' mich nicht aus. Da gibt's doch keinen Katechismus, nach dem sich Recht und Unrecht abwägen läßt. Das Gefühl sagt mir: hier ist alles zerbrochen. Und durch Worte läßt sich das nicht heilen.«

Plaschke ging aufgeregt im Zimmer auf und nieder. »Aber das schließt doch nicht aus, daß er zunächst einmal sein Unrecht einsieht? Er muß das sogar. Denn so oder so: Du wirst doch diese niederträchtigen Verleumdungen nicht unabgewehrt lassen? Ei, das wäre ja noch schöner. Nee, mein Töchting, den Gefallen werden wir den verehrten Landsleuten hier denn doch nicht tun. Daß sie hernach in Deutschland mit pikanten Geschichtchen über Dich hausieren gehen. Dein Name, Dein Ruf, Deine Frauenehre – das wirst Du ihnen doch nicht wie einen Raub zur Teilung lassen?«

»Ich habe mich nie darum gekümmert, wie Fremde über mich urteilen.«

»In diesem Falle ist's Deine Pflicht. Stell' Dir mal vor, es käme wirklich zu einem Scheidungsprozeß. Das Urteil der Welt würde dann auch das Urteil des Gerichts.«

Nun sah sie ihn groß an.

»Wenn Du Dich nicht wehrst, Jutta, und zwar energisch und sofort, so glaubt man nicht etwa, daß Du bloß zu stolz bist, Dich gegen die Anklagen zu verteidigen, sondern man hält es für ein stummes Eingeständnis der Schuld.«

Endlich raffte sie sich auf. »Gut. Also sag' mir, rate mir: was habe ich zu tun?«

»Es mag Dich ja peinigen, aber wir müssen alles noch einmal bis ins einzelne durchsprechen. Du mußt mich über jede Begegnung, die Du mit dem Vetter da gehabt hast, unterrichten. An Bord, hier in Kairo, in Bedracheïn – draußen im Menahouse. Ich muß über alles Bescheid wissen, was in Gustavs Abwesenheit vorgegangen ist. Denn fordere ich von ihm Rechenschaft, so muß auch ich sie ihm ablegen können.«

Als ihre ernste und gründliche Aussprache endigte, zeigte sich Plaschke voll besten Mutes, denn allein schon Fritz von Succos Brief an seine Mutter, den Jutta besaß, bildete seiner Meinung nach einen vollgültigen Beweis für die durchaus harmlosen Beziehungen. Er nahm das Schreiben an sich.

»Ich werde zunächst im Menahouse anfragen, ob Gustav noch draußen ist. Dann fahre ich hin. Und die feste Versicherung kann ich Dir geben: in ein paar Stunden ist er hier und bittet Dich um Verzeihung.«

Jutta schüttelte den Kopf. »O nein, Vatting. Das ist nicht das Amt, um das ich Dich bitte.«

»Nicht das Ziel, Jutta. Aber fraglos das Ergebnis.«

»Wenn er kommt, klopft er an eine verschlossene Tür.«

Im Begriff, das Zimmer zu verlassen, traf Plaschke den Groom, der ihm einen Besuch meldete.

Plaschke zog die Tür sofort wieder zu und wandte sich nach seiner Tochter um. »Es ist Gustav,« sagte er halblaut.

Sie nickte bloß.

»Es war ja zu erwarten, Kind. Er hat inzwischen eingesehen … Aber sag' mal, Jutta, wär's nicht besser, die Geschichte sofort hier in Deiner Gegenwart abzumachen?«

»Nein, Vatting. Bitte. Tu' mir das nicht an. So geht es nicht. Ich will ihn nicht mehr sehen.«

Er zögerte noch ein paar Sekunden an der Tür. Dann ging er seufzend, schwer bekümmert.

*

In den unteren Empfangsräumen weilte um diese Zeit kein Mensch. Es war die allgemeine Lunchstunde. Plaschke ließ seinen Schwiegersohn also in das kleine Lesezimmer neben dem Musiksaal führen.

Succo schien die Absicht zu haben, auch seinem Schwiegervater gegenüber eine feindlich abwartende Haltung einzunehmen. Aber Plaschke entwaffnete ihn zunächst durch seinen väterlichen Ton.

»Vor allem über der Sache stehen, lieber Gustav. Daran wollen wir beide als verständige Männer von vornherein festhalten. Nicht wahr? Du hast meinem armen Mädel eine schreckliche Szene gemacht – ich bin überzeugt, daß Du ihr ein schweres Unrecht angetan hast – aber ich stelle mich Dir ohne jede Voreingenommenheit zur Verfügung. Ich urteile nicht, ich verwerfe nicht, ich will mir bloß redlich alle Mühe geben, dies scheußliche Mißverständnis aus der Welt zu schaffen. Jutta hat mir alles gesagt. Sie beteuert, daß Dein Verdacht ganz unbegründet ist. Nun sprich Du – und laß uns gemeinsam Klarheit schaffen.«

Dieses Entgegenkommen hatte Succo gar nicht erwartet. Es verwirrte ihn einigermaßen. Ja, es weckte in seiner Seele sogar einen neuen Argwohn. Es wäre ihm bequemer gewesen, seine Anklagen auch hier noch in derselben schroffen Form anzubringen. Der freundschaftliche Ton Plaschkes erschien ihm auch gar nicht der Sachlage zu entsprechen. Er vermißte die zwischen feindlichen Parteien zu wahrende kühle Zurückhaltung.

Als sie auf den Fall selbst eingingen, vermied es Succo, seinem Schwiegervater ins Auge zu sehen. Er sprach nüchtern – vielleicht etwas gezwungen nüchtern und leidenschaftslos. Es war sein Bestreben, der Sache zu Leibe zu rücken, als wenn es sich um eine fremde juristische Angelegenheit handelte.

Ohne Frage befand er sich dadurch dem anderen gegenüber bald im Vorteil.

Plaschke suchte in wohlwollendem Tone zu vermitteln und zu erklären, dabei zugleich auf die edleren Regungen im Herzen seines Schwiegersohnes einzuwirken – Succo aber blieb reserviert, bestimmt und unversöhnlich. Es hatte so fast den Anschein, als wäre Plaschke der Angeklagte, der sich verteidigen müßte, und Succo der Untersuchungsrichter.

Das ging dem alten Seemann schließlich aber doch zu weit. Vollends verlor er die Geduld, als er in den überlegenen Fragen seines Schwiegersohnes etwas wie Ironie, wenn nicht Hohn witterte.

Auf eine verärgerte Bemerkung seines Schwiegervaters hin stand Succo auf und sagte gemessen: »Ich habe die Unterredung nachgesucht, um Dir die Gründe bekannt zu geben, die mich zu meinem Verhalten bewogen haben. Eine Kritik meines Verhaltens gestehe ich Dir vorläufig nicht zu – niemand. Denn die Gründe sind auch durch das, was Du mir da über Juttas Verabredungen mit Vetter Fritz auseinandergesetzt hast, der Welt gegenüber noch in keiner Weise entkräftet.«

»Mein Gott! Dann ist Dir freilich nicht zu helfen! Aber um Deinen juristischen Scharfsinn, der in solchen Kleinigkeiten eines harmlosen Verkehrs gleich so ungeheuerliche Verdachtsmomente wittert, beneide ich Dich wahrhaftig nicht!«

Und wieder sprach er dies und das durch, was Succos Anklagen vorbrachten, und suchte es mit seiner ganzen Beredsamkeit zu widerlegen.

»Wenn das allgemeine Vertrauen eben erschüttert ist,« sagte Succo, »und es ist nur durch Juttas unverantwortlichen Leichtsinn erschüttert worden, dann kann sie sich nicht darüber wundern, daß man alle Verdachtsmomente verfolgt.«

»Aber geradezu lächerlich ist es doch – o ja, den Ausdruck muß ich schon beibehalten, lieber Gustav – wie Du da, ein zweiter Othello, die Spuren auf der Veranda gedeutet hast. Damit hast Du Dir in den Augen der Verständigen am allermeisten vergeben. Uebrigens scheidet die Person Deines Vetters aus diesem Vorfall ganz aus. Jutta hätte Dir auch darüber natürlich offen berichtet. Aber Du mußt ja völlig aus dem Häuschen gewesen sein.«

Er gab also mit kurzen Worten wieder, was ihm seine Tochter über die Begegnung mit dem jungen Schlesier erzählt hatte.

Noch während Plaschke sprach, erhob sich Succo. Seine Miene war womöglich noch kälter und abweisender geworden.

»So. So. Und das ist also gestern abend geschehen, kurz vor meiner Ankunft? So hat es Jutta behauptet?«

»Allerdings.«

Succo sah streng und doch spöttisch an ihm vorbei. »Dann behauptet sie eine Unwahrheit. Herr Eberhard Schneider hat bereits gestern nach dem Lunch das Menahouse mit Sack und Pack verlassen, weil er sich abends um neun Uhr an Bord der Cookschen ›Queen Alexandra‹ von Kairo nach Luksor eingeschifft hat. Zufällig, ganz zufällig weiß ich das nun.«

»Lieber Gustav, ich kenne meine Tochter zu genau, um annehmen zu dürfen, daß sie auch nur in der kleinsten Kleinigkeit je einer Unwahrheit fähig wäre.«

»Aber es ist doch seltsam, daß ich hier auf einen Zeugen angewiesen werden soll, den ich vor Jahr und Tag kaum erreichen kann.«

Nun stand auch Plaschke auf. »Also machen wir ein Ende. Verschaffe Dir Deine Zeugen. Und dann komme und klage an.«

»Bitte, meine Anklage habe ich bereits vorgebracht. Und es handelt sich nur noch darum, wie Jutta sich verteidigen wird.«

»Herr meines Lebens – Gustav – Menschenkind – bist Du denn so von allen guten Geistern verlassen, daß Du Deiner Frau im Ernste zutraust – daß Du auch nur in einem Winkel Deines Herzens den furchtbaren Verdacht haben kannst …«

»Von meinem Herzen ist nicht die Rede. Jutta hat vor einem guten Dutzend angesehener Landsleute so viel Verdacht auf sich geladen, daß sie dazu angehalten werden muß, sich davon wieder zu reinigen.«

»So. Also in Deinen Augen ist Juttas Ehre bloß dann wiederhergestellt, wenn der Klatsch zum Schweigen gebracht ist?«

»Ich bin kein Privatmann, der sich den Luxus einer persönlichen Auffassung von häuslicher Ehre gestatten kann. Ich muß lediglich als Beamter in so exponierter Stellung, als Offizier, als Vertreter unseres Namens, auf einen tadellos blanken Schild halten. Da darf kein Deut unklar sein. Es ist darum unmöglich, daß ich die eheliche Gemeinschaft mit Jutta wieder aufnehme, bevor nicht unzweideutig nachgewiesen ist, daß sie schuldlos ist, daß kein Makel an ihr haftet.«

»Der Leute wegen?«

»Der Leute wegen. Und – wie gesagt – meiner Stellung, meines Namens wegen.«

»Gut. Wenn Du Deine Phantasie denn durchaus den schmutzigen Vorstellungen und Andeutungen dieser Klatschmäuler folgen lassen willst – wie soll dieser Nachweis geführt werden? Gottesurteil gibt's doch in unserem Jahrhundert nicht mehr. Auch der in solchen Fällen ab und zu noch übliche Zweikampf ergibt doch wohl nicht das, was Deine Staatsbürger-Ehrenpflichten zu fordern scheinen.«

»Ein Zweikampf ist ausgeschlossen. Leider völlig ausgeschlossen. Denn Fritz von Succo ist nicht satisfaktionsfähig. Eben deshalb bleibt mir nur der Weg der Klage bei Gericht übrig.«

»Scheidungsklage. So.«

»Ja. Wo die Zeugenaussagen dann durch den Schwur zu bekräftigen sind.«

»Also der eidlichen Aussage Deines Vetters wirst Du gottlob noch Glauben schenken – trotzdem er in Deinen Augen ›nicht satisfaktionsfähig‹ ist?«

»Er ist bisher nur mit Gefängnis bestraft worden und wegen eines anderen Delikts. Meineid aber wird mit Zuchthausstrafe belegt. Auch hier in Aegypten. Denn unser Konsul, der die Justiz über die deutschen Untertanen hier ausübt, richtet nach deutschem Recht.«

Lange schwieg Plaschke hierauf. Er war in seinem schweren, arbeits- und ereignisreichen Leben schon mit vielen Leuten, vielen Verhältnissen fertig geworden, die anderen als ein Rätsel gegolten hatten. Hier aber stand er selbst vor etwas Unlösbarem. Dies war ja kein Mensch, kein Mensch, dies war bloß ein Person gewordener Gesetzesparagraph.

›Arme Jutta!‹ sagte er zu sich.

»Ich werde meinem Kinde über Deine Pläne berichten, Gustav. Mein Urteil darüber interessiert Dich nicht. Also können wir diese Aussprache wohl als beendet ansehen.«

»Gewiß. Nur möchte ich noch ein paar wirtschaftliche Dinge erledigen, mit Deiner Erlaubnis.«

»Bitte.«

»Ich habe im Hotel mein Gepäck geordnet. Jutta will das ihre wohl gleichfalls ordnen und abholen lassen. Um ihr eine Begegnung zu ersparen, schlage ich vor, daß das heute gegen Abend geschieht. Im Schreibtisch habe ich alles untergebracht, was Juttas persönliches Eigentum ist, ihr Scheckbuch, Schmuck, Briefe, Photographien und so weiter. Auch ihre Schiffskarte und das Eisenbahnbillett von Neapel nach Berlin. Hier ist der Schlüssel.«

»Danke.«

»Ich kehre wohl schon nächster Tage nach Deutschland zurück. Meine Adresse werde ich Dir von Berlin aus durch den Rechtsanwalt mitteilen lassen. Du bist dann wohl so freundlich, ihm die Deiner Tochter zu sagen?«

»Gewiß. Du weißt ja, daß ich vorhatte, meine paar Wochen Urlaub hier in Aegypten zu verleben. Natürlich begleitet mich Jutta jetzt. Voraussichtlich bleiben wir den größten Teil der Zeit in Assuan. Hernach fahre ich mit Jutta nach Bremen.«

Succo blieb höflich und korrekt bis zur letzten Sekunde. Aber in Plaschke stürmte es. Er hätte den steif und mit eisiger Miene vor ihm stehenden Mann beim Kragen packen und schütteln mögen – und doch war's ihm zugleich so weh und elend ums Herz, daß er am liebsten laut geheult hätte.

›Er nennt das wohl Seelengröße, Noblesse der Gesinnung, ein Meisterstück der Selbstbeherrschung‹, sagte er zu sich, ›und er empfindet gar nicht, wie schändlich er mir vorkommen muß! – Das ist der Mann, dem ich das Liebste anvertraut habe! – Und er scheidet aus dieser Ehe wie aus einem Hotelzimmer. Er schleudert diese Ehe von sich wie einen Handschuh. O heiliger Himmel – heiliger Himmel!‹

Succo hatte nach seinem Hut gegriffen.

»Dann wäre wohl weiter nichts mehr zu verabreden?«

Plaschke schüttelte stumm den Kopf.

»Leb' also wohl,« sagte Succo mit dem Anflug einer Verbeugung, indem er leicht die Hacken zusammennahm.

Wiederum nur ein stummes Kopfnicken.

Aber als Succo das Zimmer verlassen hatte, zog Plaschke sein Taschentuch und gebrauchte es fünf-, sechsmal hintereinander. Es würgte ihn dabei in der Kehle, und in seinen Augen stand das helle Wasser.

»Armes, kleines Ding – armes, kleines Mädel!« sagte er vor sich hin.

*

Fritz von Succo hatte Arbeit, reichlich Arbeit – das half ihm über die Enttäuschung und die Leere der nächsten Zeit hinweg.

Die Frist war verstrichen, ohne daß Jutta oder ihr Mann von sich hätten hören lassen.

Er wunderte sich nun darüber, daß er sich unter dem fesselnden, wärmenden Eindruck, den das junge Weib auf ihn ausgeübt hatte, aus seiner Resignation hatte aufscheuchen lassen. Ja – fast ärgerte er sich darüber. War er in der Abgeschiedenheit hier unter seinen Arabern denn nicht viel, viel glücklicher gewesen als jemals dort oben im Schoß der Succoschen Gesellschaft?

Es mochte wohl ein letztes Aufzucken jener seltsamen deutschen Gemütsschwäche gewesen sein, die man Heimweh nennt.

Vor sich selber wollte er über diese letzte ›Entgleisung‹ spötteln. Aber es gelang ihm doch nicht so recht. Immer klang ihm noch der warme, beseelte Ton der tapferen, kleinen Frau im Herzen nach.

Daß auf dem spröden Boden jenes kühlen, nordischen Landes eine so liebe, zarte, prächtige Wunderpflanze gedeihen konnte!

Die Begegnung mit Frau Jutta war und blieb sein schönstes Erlebnis, seitdem er die Heimat verloren hatte. Vielleicht – weil es ihm die Heimat wieder einmal in lichteren Farben vor Augen geführt hatte.

Und selbst die Erinnerung an diese Begegnung übte auf die Gestaltung seines Schicksals noch einen merkwürdigen Einfluß aus.

Das kam so.

Zweimal schon hatte die Lady Salmour ihn hier auf Bedracheïn besucht, und jedesmal hatte er ihr das Versprechen gegeben, nächster Tage in Kairo ihr Gast zu sein. Er hatte aber nicht Wort gehalten. Die Arbeitsüberbürdung hinderte ihn – und mehr noch seine wehmütig verzagte Stimmung.

Nun kam ein Telegramm der Lady: sie trat nächster Tage von Port Said aus ihre Reise nach Ceylon an. Wenn er ihr noch Lebewohl sagen wollte, mußte er sich beeilen.

Also fuhr er nach Kairo und ließ sich bei ihr im Hotel melden.

Die Jungfer erschien sofort und richtete ihm aus: Die Lady sei im Begriff auszufahren, um noch Einkäufe zu machen, und sie lasse fragen, ob er sie begleiten wolle? Andernfalls sollte beim Manager der Landauer, der schon draußen wartete, abbestellt werden.

Natürlich sagte er zu.

Und sie fuhren dann allein – die Lady nahm ihre Jungfer nicht mit.

Die Fahrt ging nach der Muski, der Hauptstraße des Araberviertels. In dem gassenreichen Basar wollte die junge Frau noch kleine Geschenke für Verwandte und Bekannte in England erstehen: Seidenstoffe, silberdurchwirkte Schleier, Straußenfedern, Elfenbein-, Perlmutter-Inkrustationen, Skarabäen.

Sie sah in ihrer hellen, sommerlichen Toilette wieder sehr jung und mädchenhaft aus. Und das wußte sie. Es ging ein eigener Reiz von ihr aus. Sie schlug den fröhlichen Plauderton an wie früher immer. Aber ein Unterton schwang darin mit, der ihrem Begleiter nicht entging.

Nur im Schritt kam der Wagen vorwärts, als sie die Muski erreichten. Ihre Unterhaltung mußte verstummen, denn ohrenbetäubender Lärm erfüllte die enge Straße. An den nach orientalischer Art marktschreierisch ausgeputzten Verkaufsgewölben drängten und schoben sich Männer im Fes oder Turban vorbei. Rücksichtslos ritten Reiter zu Pferd, zu Esel und zu Kamel mitten durch die Menge. Fellachen mit mächtigen Ziegenschläuchen, worin sie Trinkwasser feilboten, vergrößerten den Lärm durch ein fortwährendes Klappern mit kleinen Bechern. Händler mit Früchten, Geflügel, Gemüse und Backwaren liefen schreiend auf dem schmalen Fahrdamm. Auf dem turbanumwickelten Kopf balancierten sie ihre Lasten. Mitten im Getümmel fielen halbwüchsige Stiefelputzer die vorbeikommenden Fremden an. Zerlumpte Bettler flehten um Bakschisch – Krüppel wiesen dabei ihre Armstümpfe vor – dann teilte sich für ein paar Augenblicke die Menge, und eine lange, feierliche Prozession schob sich mit einem offenen Sarge vorbei. Der näselnde Klagegesang des dahinter folgenden Zuges mischte sich mit dem Marktgeschrei.

In die Sackgassen des Basars konnte der Wagen nicht einfahren. Sie mußten also eine größere Strecke zu Fuß zurücklegen. Die Lady nahm dabei den Arm ihres Begleiters, sie klammerte sich sogar mehrmals ziemlich ängstlich an ihn an, denn im Gewühl der oft kaum zwei Meter breiten Gäßchen wurden sie hin und her geschoben, und so beherzt die Lady in Sportdingen war: diese fremde Rasse flößte ihr ein gelindes Gruseln ein.

In den Warenlagern der Gewölbe und Buden, deren Schautische sich bis mitten auf die offene Straße fortsetzten, zeigte sie mehr Sicherheit. Hier war sie ganz die weltsichere, handelsgewohnte Tochter ihres Landes, die sich so leicht nicht verblüffen läßt. Bei den Käufen entwickelte sich sogar jedesmal das im ganzen Orient fast selbstverständliche Wortgefecht. Fritz von Succo gab dabei den Dolmetscher zwischen den beiden Parteien ab. Es machte ihm noch immer Spaß, dieses ursprüngliche Leben und Treiben, die kindliche Art der arabischen Verkäufer, dieses ganze, echt orientalische Bild, das so reich an Farben war, malerisch selbst im Elend des zerlumpten Volkes, erdrückend in der Fülle des Fremden, des Grotesken.

Als sie endlich wieder im Wagen saßen, der sich mit einer Unzahl von Paketen und Paketchen gefüllt hatte, äußerte sich die Lady ausführlicher über ihre Reisepläne, ließ sich von Succo, dem Vielgereisten, noch diesen und jenen Rat geben, und dann sprach sie ein paar denkwürdige Worte – Worte, die freilich mehr durch die zögernde, fragende Form als durch ihren Inhalt denkwürdig waren.

»Ich habe mich schon oft gefragt, Mr. Succo, ob Sie im Ernst die Absicht haben, Ihr Leben hier unter diesem seltsamen Volk fortzuspinnen – und zu beschließen?«

Es war ihm schon seit ihrem ersten Besuch in Bedracheïn aufgefallen, daß in ihren Augen manchmal ein leicht gekränkter Zug auftauchte. Ihr Wesen war und blieb kühl – äußerlich kühl –, aber zuweilen stimmte der fragende, fast bittende Ausdruck ihrer Miene damit nicht überein.

»Ich habe noch fünf Jahre Kontrakt mit dem Khediven. Der Wirkungskreis ist groß – ich kann hier etwas vorwärtsbringen.«

»An das fremde Volk, diese ganz fremde Rasse – mit den schrecklichen, fremden Sitten – haben Sie sich gewöhnt?«

»Wie ans Klima. Das ist Ihnen so unbegreiflich?«

»Ja. Wirklich. Das ist mir ganz unbegreiflich. Weil …« Sie zögerte. »Und es fehlt Ihnen nichts. Sie vermissen nichts?«

Da war er wieder, der feine, nervöse, ein wenig traurige Zug in dem schönen, klaren Gesicht.

Noch bevor er erwidern konnte, fuhr sie fort: »Als ich Sie so an Bord mit Ihrer Landsmännin verkehren sah – der jungen Deutschen, Sie wissen – da meinte ich manchmal, ich wüßte, was Ihnen fehlt. Fehlen muß. Trotzdem man mir früher immer weismachen wollte, Sie wären ein Weiberfeind.«

Er lächelte. »Man hat mich bei Ihnen verleumdet.«

»Ja, Sie waren's natürlich nicht immer. Mr. Smith sagte mir einmal, Sie hätten in Deutschland einen Roman erlebt.«

»Hm. Sagte Mr. Smith?« Er hob leicht die Achsel. »Mein Roman war bloß der: ich bin stets im Leben an der Rechten vorbeigegangen.«

»War das Ihre Schuld – oder die Schuld derer, die Sie für die Rechte hielten?«

»Es war das Schicksal, das uns trennte.«

Nun gab's eine Pause. Hernach fing sie wieder von seiner Schiffsbekanntschaft an. Der Klatsch war auch bis zu ihr gedrungen. Sie hatte ihm zuerst nicht Gehör schenken wollen. Aber es reizte sie doch, wenigstens das eine festzustellen: ob es auf Wahrheit beruhte, daß er im Menahouse gewesen war, in Gizeh draußen, um Mrs. Succo zu besuchen, während er ihrer Einladung nach Kairo seiner dringenden Geschäfte wegen nicht gefolgt war.

So kam es zu Frage und Antwort. Und die Stimme der Lady ward immer leiser – klang schließlich fast ein wenig verzagt.

»Oh – Sie hätten aber doch nicht nach Gizeh gehen sollen,« sagte sie, »nein, nein. Und wenn ich mir's recht überlege: auch nicht dürfen.«

Forschend sah er sie an. »Nicht dürfen?«

»Ich kann Ihnen keinen zwingenden Grund dafür angeben. Nur den einen: es tut mir leid. Sehr, Mr. Succo.«

Ihre wohlgeformte, vom Sport kräftig entwickelte, schöngepflegte Hand lag neben ihm. Der Handschuh war abgestreift.

Er fühlte die Nähe ihrer Hand. Er bemerkte auch die matte Bewegung, die sie jetzt ausführte. Es war, als verlangte sie nach dem Druck seiner Rechten.

Ein paar Sekunden der Spannung auf beiden Seiten.

Fritz von Succo wußte, daß die Lady für einen oberflächlichen Flirt nicht zu haben war. Sie war ein ernster, vornehmer Mensch. Daß sie ihm gut war, hatte sie ihn schon bei seinen letzten beiden Besuchen in England fühlen lassen. In diesem Augenblick aber ging es ihm zum erstenmal in voller Bedeutung auf: sie hatte die Reise nur deshalb ausgeführt, um Gelegenheit zu haben, ihm näher zu kommen. Und um ihm Gelegenheit zu geben, ihr zu erklären, was er in ihrem reichen Haus im Londoner Westend nie zu erklären gewagt hätte.

Es hätte genügt, seine Rechte auf die dargebotene Hand zu legen, um sein Leben mit einem Schlag von Grund aus zu ändern.

Das empfand er – und ein leichter Taumel huschte über ihn hin.

Sie hatte die Augen geschlossen, die Lippen leicht geöffnet und den Kopf etwas zurückgelehnt. Sie war ganz Erwartung.

Aber vor seinen Sinnen stand ein Bild, das sich zwischen ihn und die stolze, gekränkte, erwartungsvolle, schöne Frau schob: das Bild der tapferen, leidenschaftlichen, jungen Landsmännin, die so viel in seiner Brust geweckt hatte, so viel Inniges, Großes, Heimatliches, was der Lady Salmour fremd bleiben mußte.

Ja, wäre es Juttas Hand gewesen, die hier neben ihm lag, zum Verzeihen, zum Hingeben und zum Küssen bereit: die Spannungspause hätte nicht so lang gedauert.

Nun hob sich die Hand und verschwand, als ob es sie fröstelte, unter der Hermelinstola, die der Lady über die Schultern hing.

»Warum sind Sie nicht aufrichtig gegen mich, Mr. Succo?« kam es leise, ein wenig hilflos von ihren Lippen.

»Bin ich's nicht?«

»Sie waren's immer. Bis zu dieser Reise. Und Sie waren mir ein lieber Freund. Aber als wir durch die Straße von Messina fuhren … beim Sonnenaufgang überm Aetna damals, Sie entsinnen sich –??«

»Gewiß entsinne ich mich.«

Ein müdes, wenn nicht trauriges Lächeln huschte über ihre Züge. »Ja, sehen Sie, da ist Ihnen eben eine neue Sonne aufgegangen.«

Er hörte es gern. Nicht daß die Eifersucht, die in ihren Worten lag, seiner Eitelkeit schmeichelte. Nein, sie sprach bloß offen etwas aus, was er sich insgeheim selbst schon gestanden hatte.

»Es ist eine Sonne, die anderen scheint,« sagte er nach kurzem Schweigen. »Eine Sonne, an die ich kein Anrecht habe.«

Sie nickte und schloß sehr fein: »Also eine neue Auflage Ihres Romans, Mr. Succo: – Sie müssen wieder einmal in Ihrem Leben an der Rechten vorbeigehen.«

Damit endete die Fahrt, die so geräuschvoll begonnen hatte, still und nachdenklich.

Die Lady war um keine Schattierung kälter oder förmlicher gegen ihren Freund als früher. Nur hatte sie jetzt einen gewissen mütterlichen Zug angenommen, der ihr etwas Ueberlegenes gab. Fritz von Succo mußte noch auf der Terrasse den Tee mit ihr nehmen – die Kapelle des ägyptischen Garderegiments spielte dazu auf, zumeist die neuesten amerikanischen Tänze und Märsche – und dabei sprachen sie wieder über ihre Reise. Bloß darüber. Von der jungen Landsmännin war mit keiner Silbe mehr die Rede. In der Engigkeit, die jetzt hier herrschte – jeder Stuhl war von Hotelgästen und von Passanten besetzt – wäre auch eine andere Unterhaltung als eine ganz oberflächliche, die alle Welt mit anhören konnte, ausgeschlossen gewesen. Aber sie fühlten es beide, wie sie sich dabei Stück um Stück voneinander entfernten. Sie war mit ihren Gedanken – so wollte sie wenigstens den Anschein erwecken – schon auf Ceylon; die seinen schweiften in der Richtung nach Gizeh und zogen von dort mit der jungen deutschen Frau übers Mittelmeer der Heimat zu und suchten im äußersten Osten der Monarchie eine einsame, alte Dame auf …

»Oh, es ist schon so spät. Ich muß mich um das Gepäck kümmern. Morgen früh ist keine Zeit.«

Fritz von Succo fuhr leicht zusammen. Wahrhaftig, er war so unhöflich gewesen, auf ihre letzte Rede – sie sprach von einem drolligen Vorkommnis bei den Einkäufen im Basar – gar nicht mehr zu erwidern.

»Haben Sie Dank, lieber Mr. Succo,« sagte sie, indem sie ihm die Rechte gab, »für Ihre Freundschaft. Kommen Sie später wieder einmal nach England, dann hoffe ich Sie zu sehen.«

Er begleitete sie bis zum Lift. »Machen Sie auf der Heimreise hier in Kairo denn keine Station mehr?«

»Nein. Eben, als wir da beim Tee saßen, nahm ich mir vor, von Ceylon aus nach Indien zu reisen. Und ist man erst dort, dann will man doch auch gleich nach Japan.« Sie lachte. »Oder will man nicht?«

»Eine Weltreise. Oh –! Ich kann mir denken: dann fahren Sie auch sicher über Amerika heim.«

»Wahrscheinlich.« Ihre Augen sagten ihm ein letztes Lebewohl. »Wünschen Sie mir also gute Fahrt, Mr. Succo.«

Noch einmal kam's zu einem Händedruck. Darauf trat sie in den Lift und nickte ihm flüchtig, fast kühl herablassend zu.

» Good-bye, Mr. Succo! «

Das Gittertor fiel zu – in der nächsten Sekunde war der Lift jenseits der Hallenwölbung entschwunden.

Fritz wußte, daß er seine schöne, kühle, stolze Freundin nie im Leben wiedersehen würde.

»… Sie sind wieder einmal an der Rechten vorbeigegangen!« hatte sie zu ihm gesagt.

Ob es zutraf?


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