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Diplomatin war Jutta ganz und gar nicht. Ihr Temperament beherrschte sie – vorsichtiges, kühles Abwägen war ihr fremd.

Eine ungünstigere Gelegenheit für die Aussprache über ihre verschiedenen Begegnungen mit Fritz von Succo hätte sie sich jedenfalls nicht wählen können, als diese Fahrt nach Gizeh.

Sie selbst war noch ganz aufgewühlt, ja aufgereizt von der Darstellung, die ›Vetter Fritz‹ ihr von seiner Schuld und von seinem Unglück gegeben hatte, und ihr Gatte grollte ihm, der die Ursache dieser überstürzten Uebersiedlung war, gerade jetzt mehr denn je.

Es half ihr nun kein Versuch mehr, harmlos zu erklären, wie die ersten flüchtigen Gespräche an Bord zustande gekommen waren, die unbeabsichtigt dieses lose Band zwischen den beiden Parteien geknüpft hatten. Gustav sah nur die verblüffende Tatsache, daß seine Frau dem von der ganzen Familie verfemten, von ihm ostentativ wie Luft behandelten ›Outsider‹ die Möglichkeit zu einer Art Rechtfertigung gegeben hatte.

»Da hört ja alles auf. Da hört ja alles auf. Das hast Du ja glänzend gemacht, mein liebes Kind. Für diese Art und Weise, unser Interesse wahrzunehmen, bin ich Dir wirklich Dank schuldig. Wir alle – das ganze Haus Succo.«

»Ueber die Form läßt sich streiten, das geb ich ohne weiteres zu. Ich bin in der Hinsicht nie vollkommen gewesen. Das weiß ich. Ich will es auch nicht sein. Aber das Aeußerliche, das ist hier doch Nebensache. Die Hauptsache ist, daß Ihr ihm bitter, bitter unrecht getan habt.«

»Unrecht? Wir?!«

»Alle Succos. Onkel Bodo am meisten. Und auch Du, Gustav. Wenn Du's nicht insgeheim gefühlt hättest, daß Ihr Euch an dem armen Menschen versündigt habt, dann hättest Du mir ihn nicht verheimlicht.«

»Jutta, ich warne Dich. Hinterher werden Dir diese Worte leid tun. Aber vielleicht kann ich sie dann nicht mehr vergessen.«

»Alle Verwandten sind mir vorgeführt worden. Oder ich bin ihnen vorgeführt worden. Bloß den Unglücklichen – den habt Ihr verleugnet – warum?«

»Ich sagte Dir: er ist für uns aus der Liste der Lebenden gestrichen.«

»Dazu habt Ihr gar kein Recht. Ihr könnt niemand aus der Liste der Lebenden streichen.«

»So. Also Du, meine gute Jutta, Du wirst nun nachträglich über unsere Beschlüsse zu Gericht sitzen?«

»Ein Urteil bilde ich mir. Ja. Allerdings. Wenn auch nur für mich ganz allein. Denn Onkel Bodo wird es ja nicht weiter kümmern. Wie der Fall liegt, kann ich ja auch nichts mehr ändern an Euern Entschlüssen. Und für Fritz von Succo ist der Fall ebenso erledigt. Er hat mir wenigstens rund heraus erklärt: es lohnte ihm nicht mehr …«

»So. So. Und das hast Du Dir sagen lassen? Du? Jutta! Als meine Frau?«

»Ich habe mir ein Urteil gebildet, nicht als Deine Frau, sondern lediglich als freier Mensch.«

Er lachte laut auf. »Das ist ja köstlich. O heilige Logik. Nur soviel noch, mein liebes Kind: Du hast Dir da wieder einmal eine – nun bezeichnen wir's milde – eine so unglaubliche Inkorrektheit zuschulden kommen lassen, daß selbst Deine Jugend dafür nicht als Milderungsgrund gelten kann.«

Hauptsächlich war Succo doch in seiner männlichen Eitelkeit verletzt. Mehr als Gatte, denn als Vertreter des Namens. Er kam darüber nicht hinweg, daß dieses ›Anbandeln‹ vor sich gegangen war, während er der Seekrankheit halber eine so klägliche Rolle gespielt hatte. Daß die Tage der Ueberfahrt an Bord für Jutta nicht ebenfalls als einfach ausgemerzt gegolten hatten, das nahm er ihr gewaltig übel.

So wandelte sich das Rechtsverhältnis zwischen ihnen mehr und mehr.

Auf die Affäre des Vetters ging er kaum ein. Er brachte seiner Frau nur zum Bewußtsein, was der Gang dieses Ereignisses wieder einmal mit erschreckender Deutlichkeit darlegte: daß ihr nicht nur jedes persönliche Taktgefühl fehlte, sondern auch der Sinn für die Repräsentation des Hauses, des Namens.

Sie war seinem strengen Blick wie seiner scharfen, spitzen Dialektik nicht gewachsen. Also schwieg sie auf dem Rest der Fahrt. Und als ihr Gatte im Hotel beim Auspacken das Thema von neuem aufnahm, war sie längst nicht mehr die Anklägerin, so wie ihr das zuerst vorgeschwebt hatte, sondern sie war die Angeklagte, die sich nicht zu verteidigen wußte, ob sie auch den Frevel, den sie begangen hatte, gar nicht so wichtig einschätzte.

»Das Gefühl dafür muß eben im Blute stecken!«

Mit dieser Wendung hatte Succo schon verschiedene Zwistigkeiten in seiner jungen Ehe als für ihn erledigt abgetan. So lieb er Jutta hatte – einen Rest von Ueberlegenheit in sozialer Hinsicht ward er ihr gegenüber doch nicht los. Sie war und blieb die Tochter des Handelskapitäns Plaschke, der seine Seemannslaufbahn als Schiffsjunge begonnen hatte.

Er achtete seinen Schwiegervater, gewiß. Wie der als Siebzehnjähriger seine Ersparnisse verwendet hatte, um die Steuermannsschule zu besuchen, wie er sich von Stufe zu Stufe emporgearbeitet, wie er's aus eigener Kraft dazu gebracht hatte, als Einjähriger in der Kaiserlichen Marine zu dienen, um dann sogar das Patent als Reserveoffizier zu erlangen – das war ja aller Ehren wert. Aber um Plaschkes Schwiegersohn zu werden, galt es doch ein bißchen ›hinunterzusteigen‹. Bei aller Verliebtheit ließ sich das nicht verheimlichen. Uebrigens hatten es damals alle Succos unverblümt ausgesprochen. Onkel Bodo, der eine Gräfin Egeling geheiratet hatte, war jedenfalls der Ansicht gewesen, es wäre immerhin etwas unvorsichtig, nach einer solchen Richtung hin das Herz zu verlieren. Trotzdem Gustav damals schon vierzig Jahre zählte: er hätte noch die glänzendsten Partien machen können, deren guter Einfluß – meinte Onkel Bodo – vielleicht sogar bei den verschiedenen Beförderungen zu spüren gewesen wäre. Nun, die erste stürmische Verliebtheit pflegte ja derlei Bedenken in den Wind zu schlagen. Und zudem – war das bindende Wort inzwischen schon gesprochen. Aber daß sich Succo Herrn Plaschkes Tochter gegenüber als der Gebende fühlte, das sagten sich all seine Verwandten.

Zuerst hatte Jutta seinem großen Verwandtenkreis vorzüglich gefallen. Sie war ein bißchen › enfant terrible‹, aber man fand sie originell, lieb und nett und frisch, und seiner Wahl ward nachträglich eine freundliche Billigung zuteil.

Später erst zeigten sich Reibungsflächen.

Juttas oft recht gewagte, nicht wenig verblüffende Urteile in allerlei Debatten über familiäre, politische, kirchliche, soziale Fragen hatte man ›dem noch etwas unerzogenen Naturkind‹ zunächst lächelnd zugute gehalten. Man tröstete sich damit, daß die Atmosphäre des Hauses, des ganzen Kreises, worin sie von nun an leben sollte, ganz allmählich und ganz von selber auf sie einwirken würde.

Darin hatten sich aber sämtliche Succos getäuscht. Sie war und blieb eine Fremde unter ihnen. Sie war freigeistig – sie hatte die unkirchliche, dogmenlose Seemannsreligion ihres Vaters angenommen – sie vertrat oft sehr hitzig und respektlos ganz demokratische Ansichten, sogar gegen Onkel Bodo, der sich stark über sie ärgerte, ob er sie auch nicht ernst nahm – und in gesellschaftlicher Hinsicht erlaubte sie sich Freiheiten, die von den Succoschen Damen durchweg scharf mißbilligt wurden.

›Die Kinderstube‹ fehlte ihr, meinte Tante Ellinor, die Gräfin. Und ein wenig Mitleid mischte sich bei verschiedenen Gelegenheiten mit dem Mißmut über die Haltung der jungen Ehefrau.

Gustav von Succo merkte das und schluckte seinen Aerger hinunter. Jutta merkte es nie – und das reizte ihn noch mehr.

Es gab nun für beide ein paar verlorene Tage in Gizeh.

Stets hatte Jutta wieder eingelenkt, wenn irgendeine Aeußerlichkeit sich zwischen sie geschoben hatte, denn Aeußerlichkeiten waren es ja meist, und sie konnte gerade deswegen der nachgebende Teil sein, weil ihr im Grunde gleichgültig war, wer in Formdingen recht behielt. Taktfragen – so nannte es Gustav. Kleinlichkeit war ihr in jeder Weise ein Greuel. Wenn's nicht anders ging, nahm sie schließlich auch gegen ihr besseres Wissen die Schuld auf sich. Sie tat das mit Humor, indem sie in drolliger Uebertreibung die Zerknirschte spielte. Er fiel aus seinem Herrenbewußtsein dann auch stets heraus, denn man mußte über sie lachen, ob man wollte oder nicht, und die Streitaxt ward vergraben.

Diesmal wär's nun an ihm gewesen, das erste gute Wort zu geben.

Sie hatte sich nach Ueberwindung des ersten Trotzes geduldig von ihm auszanken lassen, hatte ihm schließlich auch eingeräumt, daß sie sich in der ganzen Geschichte in allerlei Nebendingen immerhin etwas unbesonnen benommen hatte. Aber ihre Kritik in der Sache selber verschwieg sie ihm trotz alledem nicht: daß das Haus Succo sich wieder einmal auf einen engherzigen Prinzipienstandpunkt versteift hatte, den sie durchaus nicht teilen konnte.

»Er ist ja nicht mein Verwandter – ich gewinne und verliere nichts, ob er nun von Euch anerkannt wird oder nicht. Bloß das muß ich Dir sagen, Gustav: wäre er's, dann hätten Plaschkes ihn nicht fallen lassen, sondern sie hätten ihm aus seiner Not wieder aufgeholfen. Siehst Du, das wäre unser Familienstolz gewesen.«

Succo sprach darauf das scharfe, hochmütige Wort, das sie für ein paar Tage trennte – trennen mußte. Denn es enthielt eine kränkende Herabsetzung ihres Vaters. Und darüber gab es nur ein Hinwegkommen, wenn er sie aufrichtig um Verzeihung bat.

Das fiel ihm aber nicht ein – ganz allein ihr unqualifizierbares Verhalten hatte ja den Anlaß zu dem Streit gegeben.

Sie litt unter der nun folgenden Kälte ihres Verkehrs – er nicht. Ihm war dieser höfliche, unpersönliche Ton vor fremden Zeugen sogar viel angenehmer als die temperamentvolle Art, die Jutta überall so leicht auffallen machte. Sie empfand das feierliche Schweigen bei den Mahlzeiten, das gelassene Nebeneinanderhinschlendern auf den verschiedenen Ausflügen geradezu als Marter. Er liebte auf Reisen jene vornehm zurückhaltende Haltung, so wie sie zur englischen guten Lebensart gehört, und er vermißte tagsüber durchaus nichts.

Daß Jutta ihm ihre Verstimmung abends zeigen konnte, wenn sie nach dem langen Diner und dem schweigsamen Lesestündchen ihr Zimmer aufsuchte, das wußte er zu verhindern. Er zog sich, wenn die Musik in der Halle schwieg und die Mehrzahl der Gäste verschwand, ins Rauchzimmer zurück, wo er bei Whisky und Soda, einer englischen Zeitung und einer Zigarre bis gegen Mitternacht sitzen blieb.

Die Fremdheit, die in ihrem augenblicklichen Verhältnis lag, empfand er zur Abwechslung eher als einen gewissen Reiz. Peinlich war ihm nur der Gedanke, daß die verschiedenen Deutschen, die hier im Menahouse wohnten, die Spannung wahrnehmen und auslegen könnten. Machte doch schon Frau von Druhsen ein paar scheinbar naive, im Grunde aber recht niederträchtige Andeutungen: er wäre doch wohl ein bißchen eifersüchtig geworden, wenn er sein lebenslustiges, unternehmendes junges Frauchen an Bord hätte beobachten können.

Das reizte ihn am allermeisten, daß man ihn mit solchen Reden über Juttas Freundschaft mit dem ›ägyptischen Vetter‹ hänseln durfte. Als ob ein solcher Patron auch nur in einem Atem genannt werden könnte mit ihm! – Als ob man ihn eifersüchtig machen könnte! – Es war ihm denn doch zu dumm. Aber ein Stachel blieb zurück. Und ein paarmal, wo er schon ansetzen wollte, um sich mit Jutta auszusöhnen, entsann er sich der seltsamen Wärme, mit der sie sich in ihren ersten erregten Auseinandersetzungen des Fremden angenommen hatte. Es fehlte ihr eben jeder Sinn für die Blankheit des Wappens – trotzdem es durch die Heirat doch auch das ihre geworden war.

Die Spaziergänge zu den Pyramiden, zum Sphinx, die Eselsritte in ein paar arabische Dörfer, zu einem Beduinenlager an der Grenze der libyschen Wüste hatten sie in der Gesellschaft anderer Hotelgäste ausgeführt. Sie waren dabei meist getrennt – Jutta war zu ihrer stillen Verzweiflung auf die Begleitung des ›Kohlenbarons‹ angewiesen, dessen versteckt zudringliche Hofmacherei ihr immer unausstehlicher wurde.

Auch nach Kairo war sie nur mit dem ganzen Trupp der deutschen Hotelgesellschaft gekommen. Man hatte die Fahrt gemeinsam in dem großen Hotelautomobil zurückgelegt, hatte gemeinsam das ägyptische Museum und darauf den arabischen Basar an der Muski, der Hauptstraße des Araberviertels, besucht.

Juttas Enttäuschung wuchs. Es war ihr in der nüchternen Begleitung unmöglich, in die rechte Stimmung zu kommen, überhaupt Stellung zu all dem Großen zu finden, das hier Natur und Geschichte boten.

Als am fünften Nachmittag ihres Aufenthalts im Menahouse der Rittmeister von Stangenberg, der bei ihrem Gatten telephonisch seinen Besuch zur Teestunde angesagt hatte, durch den Groom seine beiden Karten heraufschickte, zeigte sie sich nicht, sondern ließ sich mit Migräne entschuldigen. Sie hatte daran noch nie gelitten – litt auch heute nicht daran – aber sie hatte den vor Fremden lächerlich gezwungenen Verkehr mit ihrem Gatten satt. Vor allem graute ihr's vor einer abermaligen Debatte über den ›Aegypter‹. Erst als der Landsmann wieder in der elektrischen Straßenbahn saß, die ihn über die Sykomorenallee nach der Kasr en Nil-Brücke zurückbrachte, verließ sie das Zimmer.

Gustav eröffnete ihr bei Tisch, ziemlich flüchtig und von oben her und erst gegen Ende der Mahlzeit, daß er mit dem Rittmeister die Fahrt ins Fajum für den andern Morgen verabredet hätte.

Daß er sie hier in der fremden, ihr so unangenehmen Umgebung für so und so viel Tage allein ließ, das sollte vermutlich ihre Strafe sein.

»Bitte!« sagte sie kurz.

Gleich darauf erhob sie sich und suchte das Zimmer auf.

Den ganzen langen Abend über war ihr das Weinen nahe. Sie hatte Heimweh. Ende der Woche war ihr Vater hier zu erwarten. Sie empfand es als eine kleinliche Kränkung, daß ihr Mann seinen Ausflug nicht bis nach der Ankunft ihres Vaters verschob. Aber eine Bitte an ihn zu richten, dazu war sie zu stolz. Und als er endlich – es war wieder Mitternacht geworden – aus dem Rauchzimmer heraufkam, stellte sie sich schlafend.

*

Die Herrengesellschaft, die unter Cookscher Führung die Reise ins Fajum unternahm – aus dem Menahouse beteiligten sich außer dem Professor noch ein paar Engländer und Amerikaner daran – mußte gleich nach dem ersten Frühstück aufbrechen, denn der Eisenbahnzug nach Medinet-el-Fajum, der Ausgangsstation, ging schon kurz nach zehn Uhr von Kairo ab. Alle Hotelgäste interessierten sich dafür, die Baronin von Druhsen setzte ihr gewinnendes Lächeln auf und erbot sich – ohne jede Aufforderung – ›die liebe, kleine Frau solange unter ihre Fittiche zu nehmen‹.

Succo hatte von früh an einen teils väterlich wohlwollenden, teils herablassend verzeihenden Ton gegen Jutta angeschlagen. Den vertrug sie um alles in der Welt nicht. Ihre Lippen blieben schmal und kühl, als er sie im Vorgarten des Hotels zum Abschied küßte.

Die Mehrzahl der Hotelgäste wollte den schönen Tag ebenfalls zu einer Spazierfahrt benutzen. Es sollte zu den Apisgräbern gehen. Ein kalter Lunch ward vom Hotel mitgegeben. Daß die junge Strohwitwe mitkam, nahm Frau von Druhsen ohne weiteres an. Jutta wollte sich hernach auch nicht ausschließen: denn die kurze Frist ihres Hierseins verging sonst, ohne daß sie die berühmtesten Sehenswürdigkeiten kennen lernte.

Nach vielen Umständlichkeiten setzte sich die Karawane in Bewegung. Ein paar der Herren und Damen bekamen vom Hotelbesitzer hübsche Reitpferde – arabische Hengste von einer in Europa nicht gekannten Gutartigkeit. Daß Jutta, obwohl sie leidlich reiten konnte, den Ausflug zu Pferde mitmachte, hatte ihr Mann ausdrücklich verboten. So mußte sie gleich Frau von Druhsen in einem der leichten ›Sandschneider‹ Platz nehmen, einem zweirädrigen Korbwagen, dessen Zugpferd von einem nebenher laufenden Araberjungen angetrieben wurde.

Es ging am Rand des Niltals entlang. Die Karawanenstraße war durch weiße, fußhohe Steine bezeichnet. Haarscharf setzte sich das vom Nilschlamm befeuchtete grüne Tal gegen die lehmgelbe Wüste ab: links da unten war alles Leben und Fruchtbarkeit – wie rechts zur Seite Totenstille und Oede und Verlassenheit.

Das Fellachendorf, das ganz aus gebackenem Nilschlamm errichtet war, blieb am Fuße des Sphinx liegen, der bei den Pyramiden von Gizeh die Wache hielt, tief in den Wüstensand eingebettet. Von da zog man ein paar Stunden lang schweigend durch die wunderliche, wechselvolle Sandgebirgswelt. In weiten, unregelmäßigen Bogen folgte eine der gelbbraunen Sandwellen der anderen. Man hatte heute nicht den typischen Sommerhimmel Afrikas über sich, der Himmel war leicht übergraut. Aber in der wechselnden Wolkenbildung wirkte die Wüstenlandschaft noch viel geheimnisvoller. Die gelben Kuppen der Dünen, die langgezogenen Grate, die Klippen und Zacken all der Flugsandgebirge leuchteten hell auf, so oft das Sonnenlicht siegreich durchbrach und über Berg und Tal hinhuschte. In der Richtung gen Westen schien sich der Schneegipfel einer Alpenlandschaft zu erheben – bis er sich mit einemmal in eine von lauem Wind aufgewirbelte Sandwolke auflöste, die von der Sonne grell beschienen war. Und höher und höher schwang sich das Phantom, das wie ein Zaubermantel über die Wüste dahinschwebte, bis es zerstob. Je weiter die gelben Wellen des Sandmeeres sich in die Ferne schoben, desto dunklere Farbentöne nahmen sie an. Am Horizont wirkte das unentwirrbare Chaos der sich überschneidenden, sich verschiebenden, sich kreuzenden Wellenlinien als dunkelvioletter Hintergrund. Ein ewiger Wechsel – und doch lag eine feierliche, majestätische, auf die Dauer lähmende Starrheit in diesem Bild.

Jutta litt unter diesem Schweigen und dieser Verlassenheit. Sie geriet ins Grübeln – und schließlich merkte sie, daß ihre Augen feucht geworden waren.

Sie sehnte sich nach einer Aussprache.

Aber es war keine Sehnsucht nach ihrem Mann in ihr. Er hatte ihren Stolz, vor allem ihren Kindesstolz, mit Füßen getreten, und das vergab sie ihm nicht. Nein, es war wieder jene Anwandlung von Heimweh, die sie in Koblenz in der Pension manchmal überfallen hatte, die ihr dann immer so schmerzlich-süße Tränen abgerungen hatte.

Endlich war man bei den Pyramiden von Sakkarah angelangt – der charakteristischen Stufenpyramide und der ihr benachbarten Knickpyramide von Dahschur, die schon lang vorher in zartem, bläulichem Duft aufgetaucht waren. Die Reiter saßen ab, die Damen verließen die Wagen und folgten den arabischen Führern, mit brennenden Kerzen ausgerüstet, in die unterirdischen Gräber der Apisstiere. Hunderte von Metern weit wanderte man tief unter dem Wüstensand durch unheimliche Felsenschachte, in deren Nischen die kolossalen Granitsärge der Stiermumien beigesetzt waren. Aus der tiefen Grabesnacht ging es dann wieder ins grelle Tageslicht zu anderen Gräbern, deren Zugänge tief im heißen Sand verschüttet lagen. In ihrem kühlen Innern hatte die emsige Wissenschaft unzählige Reliefbilder aus dem alten Reiche der flüchtigen Neugier der Touristen bloßgelegt.

Jutta konnte den auswendig gelernten Erklärungen der Führer, die ein schlechtes Englisch plapperten, nicht folgen. Sie gab auch den Landsleuten, die sie wiederholt in ein Gespräch ziehen wollten, ganz verkehrte Antworten. Sie war mit ihrem Herzen nicht dabei, nicht einmal mit ihren Sinnen. Und doch fühlte sie's in bitterem Selbstvorwurf: sie würde sich späterhin im Leben schwer darüber grämen, daß sie an diesen großartigen Wundern einer fast schon Mythe gewordenen Kultur so stumpf und teilnahmlos vorübergegangen war.

Bei dem Frühstück, das man biwakartig aus den Hotelkörben verzehrte – es war auf der Terrasse des schmucklosen, verlassenen Mariette-Hauses bei Sakkarah – wurde der Vorschlag gemacht, für die Rückkehr einen andern Weg zu wählen. Die weite Fahrt in den ›Sandschneidern‹ durch die Wüste hatte die meisten Damen übermüdet, und Jutta fürchtete sich geradezu vor der abermaligen stundenlangen Einsamkeit. Als abgestimmt wurde, trat sie daher mit am lebhaftesten für einen Wechsel der Route ein. So wurde denn ausgemacht, die Pferde und die Wagen nach Gizeh heimzuschicken, Esel zu besteigen, an den Trümmern des alten Memphis und der Rhamseskolosse vorbei nach der nächsten Landungsstelle zu reiten und dort den Abenddampfer zu erwarten, mit dem man bis zur großen Nilbrücke und der elektrischen Straßenbahn fahren konnte.

Auf diesem Ritt ging es ziemlich ausgelassen zu. Mehrere der von Sakkarah zurückkehrenden Reitertrupps suchten einander den Rang abzulaufen. Da nicht alle an dem Marsch teilnehmenden Grautiere den Ehrgeiz besaßen, Champion zu werden, so gab es unterwegs zwischen ihnen und ihren Reitern starke Meinungsverschiedenheiten über die anzuschlagende Gangart. Die kleinen arabischen Eseltreiber, die bloßfüßig nebenher liefen, suchten durch Schläge und ihr charakteristisches ›Oah!‹ zur Erzielung eines guten Rekords und damit eines noch besseren Bakschisch beizutragen. Der Ritt endete in einem wüsten Galopp. Dicke Staubwolken beherrschten den schmalen Damm, auf dem der Wettlauf stattfand. Jutta sah schließlich überhaupt nichts mehr. Sie hätte bei einigen plötzlichen Stockungen in der wilden Jagd auch sicherlich das Gleichgewicht verloren, wenn nicht der auf der rechten Seite nebenherrennende kleine Treiber sich an den Sattel gehängt und sie – nicht ganz respektvoll – mit seinem schwarzbraunen Arm fest umklammert hätte.

Die wilde Jagd ging schließlich durch ein paar Fellachendörfer, in deren schmalen Gassen links und rechts mehrfache Reihen schreiend bettelnder Kinder Spalier bildeten. Von denen liefen dann einzelne Trupps hinterdrein, wimmernd oder mit gellender Stimme den Bakschisch fordernd. Man galoppierte noch durch ein Palmenwäldchen – und endlich blitzte die weite Fläche des ›heiligen Stromes‹ durch die Staubwolken.

Mächtige Zuckerrohrplantagen zogen sich als endloser, saftig grüner Streifen nach beiden Seiten im Niltal hin. Das Dorf, bei dem sich die Anlegestelle der Dampfer befand, war bedeutend größer als die Ortschaften, die sie bei ihrem Ritt passiert hatten. Die Häuser bestanden aber – wie überall im Niltal – nur aus braungelbem Nilschlamm, der mit zerhacktem Stroh zusammengebacken war.

Noch atemlos stieg Jutta ab und sah sich um.

Am Rande des Dorfes, von ein paar Palmen flankiert, lag ein stattliches Scheichgrab. Darüber schob sich – ganz unvermittelt, befremdlich genug in dieser malerischen, alttestamentarische Bilder auslösenden Umgebung – ein schwindelnd hoher, ziegelroter Fabrikschornstein.

In dem Tumult der Bakschisch fordernden Eseltreiber, der Händler und Bettler, die die Fremdenschar sofort umringten, in dem Durcheinanderrufen der von den Grautieren absitzenden Touristen, dem Hin und Her der verschiedenen Dragomane, die ihre Gruppen zusammensuchten, verhielt sich Jutta ganz teilnahmlos. Sie war körperlich erschöpft. Und sie fühlte, daß sie all die Bilder, die an ihrem hungrigen Auge vorübergeschwirrt waren, trotz aller geistigen Anstrengung nicht festhalten konnte. Abgespannt strich ihr Blick über die lärmende Gesellschaft hin. Einzelne der Landsleute waren ihr schon an Bord unerträglich gewesen. Als man sie ansprach, antwortete sie zerstreut, rein mechanisch.

Die Pensionäre vom Menahouse hatten beschlossen, sich hier am Nilufer bis zur Ankunft des Dampfers zu lagern und zunächst die Reste des Proviants als › five o'clock‹ zu verzehren. Einige von ihnen hockten schon auf den Bänken an der Landungsstelle und schrieben Ansichtspostkarten.

Fräulein von Wehl hatte Jutta zweimal vergeblich angerufen und kam nun, um sie zu der sich lagernden Gruppe zu holen.

Aber Jutta hörte auch jetzt noch nicht. Ihr anfangs so müder Blick, der von den ihr herzlich gleichgültigen Hotelgästen weitergewandert war, hatte sich plötzlich geweitet: neben einem langen Zug Ochsenwagen, dessen vorderster gerade hinter dem Scheichgrab an dem Fabrikgrundstück angelangt war, bemerkte sie inmitten eines Trupps dunkelbrauner Araber einen Reiter: einen Europäer in englischem Sportanzug.

… Sie kannte die Gestalt, sie kannte das junge, energische Gesicht mit den seltsam hellen Augen …

Soeben sprang der Reiter ab und überließ sein Pferd einem rasch herzueilenden Araberknaben. Flüchtig, etwas amüsiert, mit leichtem Spott blickte er über die verschiedenen Gruppen lärmender, aufgeregter Vergnügungsreisender hin. Doch mit einemmal stieß er einen hellen, munteren Ausruf aus – schob ein paar der den Lastwagenzug begleitenden Araber beiseite – und kam lebhaft auf Jutta zu.

»Das nenn' ich eine Ueberraschung, gnädige Frau!«

Es bedurfte mehrerer Sekunden, bis Jutta sich gefaßt hatte.

Fritz von Succo –!

Zuerst konnte sie sich sein Auftauchen an dieser Stelle gar nicht erklären. Doch in blitzschneller Folge reihte sich dann Glied an Glied zu einer logischen Kette. Man war ja hier in Bedracheïn – in Bedracheïn lag die vizekönigliche Zuckerfabrik, die der ›Aegypter‹ verwaltete – dieser hier so wunderlich wirkende große Gebäudekomplex hinter dem Scheichgrab und dem Palmenwäldchen stellte seine neue Heimat vor – da hauste er mit Achmed, seinem dunklen Boy mit dem weißen Gentlemanherzen.

»Oh, gnädige Frau – das ist doch dieser Mr. Succo aus Bedracheïn!« raunte ihr nun das Gesellschaftsfräulein in scharfem, hohem Tone zu.

Die ihr so unleidliche Stimme riß Jutta aus ihrem verträumten Sinnen und Verwundern. Und ein heftiger Schreck durchzitterte sie dabei. Es war ihr, als klänge in ihrem Ohr ein scharfes Wort ihres Mannes nach. Sie sah sich hastig um, wie schuldbewußt.

Aber ebenso unwillkürlich hatte sich auch schon ihre Rechte nach der ihr fröhlich gebotenen des Mannes ausgestreckt, der sie herzlich und unbefangen begrüßte – und sie fühlte den kräftigen Händedruck des verfemten Vetters, des Paria des Hauses Succo.

Ohne sich um Fräulein von Wehl weiter zu kümmern, die mit einem steifen Lächeln stehengeblieben war, berichtete sie, zunächst fast überstürzend: »Ja, denken Sie, wir hatten einen Ausflug nach Sakkarah gemacht – Hotelgäste vom Menahouse – und nun warten wir auf den Abenddampfer.«

Er sah sich flüchtig nach dem Ufer um. »Ihr Herr Gemahl –?«

»Mein Mann ist nicht mit, er ist auf der Fahrt nach dem Fajum. Wir sind schon seit früh unterwegs. Nun macht das Gros der Ausflügler die Rechnung des Tages.« Lächelnd zeigte sie nach der Landungsstelle. »Alles schreibt Ansichtskarten.«

»Es ist reichlich Zeit dazu. Ueber zwei Stunden. Der Dampfer geht erst kurz vor sieben.«

»I nein, kurz vor fünf, denk ich. Wir sollen doch zum Dinner zurück sein, hieß es.«

»Dienstag und Freitag gilt ein anderer Fahrplan. Nein, wie ich mich freue, daß Sie hier sind. Daß ich Sie treffe. Ich hab so viel an Sie gedacht. Immer hab ich mir gewünscht: wenn Du doch das Glück hättest … Aber das sag ich Ihnen alles später noch. Nun darf ich Ihnen doch zunächst mal unser kleines Spezialreich hier am Nil zeigen, ja?«

Von seiner herzlichen Wärme, seiner aufrichtigen Freude erfrischt, ging sie mehr und mehr aus sich heraus. »Das stolze Reich Bedracheïn, in dem Sie der König sind?«

»Bewahre. Alleinherrscher ist hier wie überall am Nil die englische Pfundnote. Und welterschütternde Sehenswürdigkeiten kann ich Ihnen bei uns nicht versprechen.«

»Ich weiß schon eine, die ich kennen lernen muß: Achmed.«

»Gut, den werde ich Ihnen vorführen. Wenn's Ihnen recht ist, folgen wir da dem Karrenzug. Ich kam nämlich gerade aus den Plantagen. Es ist hier jetzt Erntezeit – erste Zuckerrohrernte. Solche Stauden –! Es wird Sie doch gewiß amüsieren, das alles zu sehen, nicht? Natürlich zeig' ich Ihnen die ganze Fabrik, wenn Sie wollen.«

Sie nickte. »Ja. Bitte. Es interessiert mich mächtig. Und Sie müssen mir dabei einen hübschen Vortrag über all die Verhältnisse hier halten. Wie die arabischen Arbeiter leben.«

»Ob's noch Sklaverei bei uns gibt – und wieviel Frauen die Leute hier haben,« fiel er neckend ein. »Ja, das werden wir immer von den Besuchern gefragt.«

Nun lachte sie. »Sie mögen sich über uns neugierige Mitteleuropäer im stillen oft schön lustig machen!«


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