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Wenige Meilen südlich vom Kap Spartivento stand es bei allen Vergnügungsreisenden fest: diese Mittelmeerfahrt bedeutete einen Reinfall erster Ordnung.

Verwandte und Bekannte, die im winterlichen Deutschland froren, konnte man durch keine Renommierberichte mit dem ewig blauen Himmel und des Südens goldener Sonne ärgern. Der Februar machte hier zwischen Griechenland und der Wüste Sahara dasselbe griesgrämige Gesicht wie etwa zwischen Kuxhaven und Helgoland. Der Nordwestwind sprang nach Westen um, durch die Säulen des Herkules drängte sich das Ungestüm des Ozeans in das Bereich von Odysseus' Irrfahrten; es setzte jenes charakterlose Schmierwetter ein, das auch bei den abgehärtetsten Teerjacken unbeliebt ist, und mit der seitlichen Rollbewegung des Schiffes, die von der nordwestlichen Dünung herrührte, verband sich die noch unangenehmere des Stampfens. Das Endergebnis war das Schlingern.

Stangenberg hatte wie ein Held gekämpft, aber diese ›innerliche Korkzieherbewegung‹ ertrug er auf die Dauer doch nicht. Als Jutta aus dem Bade kam und sich zum Frühstück einstellte, fand sie also auch seinen Platz verwaist.

Die nächsten Mahlzeiten nahm sie nun nicht mehr im Speisesaal, sondern an Deck, wo sie sich in ihrem Liegestuhl servieren ließ. Das Bild da unten hatte etwas zu Trostloses: in dem mächtigen Prunksaal, wo für achtzig Gäste gedeckt war, fand sich nur eben ein knappes Dutzend ein. Es waren nicht alle Fehlenden seekrank, aber sie schienen doch die Vorsicht üben zu müssen, den Speisegerüchen in geschlossenem Raume auszuweichen. Und von den Mutigen verschwand ab und zu auch während der Mahlzeit – besonders beim Fischgang – noch der eine oder der andere. In weiten, feierlichen Abständen saß der Rest schweigend da. Das Heer der Stewards hatte keine Gelegenheit, in Tätigkeit zu treten. Wie Ironie wirkte es, daß die starke Schiffskapelle auch dem verschwindend kleinen Häuflein noch zur Tafel aufspielte.

Nebst der Begleiterin der Freifrau von Druhsen – Fräulein Tina von Wehl – blieb Jutta die einzige Dame, die während dieser Ueberfahrt kein Opfer darbrachte. Der kleine Stolz über diesen Sieg machte sie aber nicht glücklich, denn als fröhlich gesellige Natur empfand sie die Verurteilung zur Einsamkeit für mehrere Tage gar zu drückend. Auch das ziemlich schwatzhafte Fräulein von Wehl schied für sie bald aus, weil deren Herrin ihre Gesellschaft verlangte – was Jutta zwar billigte, aber nicht recht begreifen konnte. In einigen seiner ›lichten‹ Augenblicke fand sich noch ein anderer Vertreter des deutschen Tisches – Herr Eberhard Schneider, der ›Kohlenbaron‹ – bei ihr ein. Der blaßgrüne junge Mann, der unentwegt den Bonvivant spielte, hielt die Gelegenheit für so zwingend, daß er glaubte, ihr den Hof machen zu müssen. Er tat es indes so unbegreiflich ungraziös – sie nannte es bei sich ›ladenschwengelmäßig‹ –, daß sie sich seine ganze Art sehr bald verbat.

Blieb also zur Zerstreuung nur etwas Lektüre und ab und zu ein Besuch drüben in der dritten Klasse übrig.

Auch hier galt es Vorsicht zu üben, denn mit Fritz von Succo wollte sie nach ihrem Abfall natürlich nicht noch einmal zusammentreffen.

Für die kleinen Marseillerinnen war ihr Kommen jedesmal ein Fest: auch ihr Papa gehörte zu den Opfern, und sie wären mithin für die ganze Ueberfahrtszeit auf die unteren Schiffsräume angewiesen gewesen.

Jutta nahm die putzigen, munteren, kleinen Dinger aufs Promenadendeck mit, trotzdem das nicht erlaubt war. Hier spielte sie mit ihnen sämtliche Schiffsspiele – woran sich dann zuweilen auch einer der anderen Deckspaziergänger beteiligen zu dürfen bat – und sie beschenkte ihre Schützlinge bei jeder Zusammenkunft mit Früchten oder Eis.

Die Spielteilnehmer wechselten. Einmal fand sich ›zwischen zwei Schlachten‹ auch der Heidelberger Professor ein, der die kleinen Marseillerinnen in eine französische Konversation verwickeln wollte, ein Versuch, der an der Eigenart seiner Satzbildung und Aussprache scheiterte.

Fritz von Succo war sie nur ein einziges Mal begegnet – im Lesesaal, wo sie sich beim Steward neue Bücher holte – und da war der ›Aegypter‹ so ruhig und achtlos an ihr vorübergegangen, als ob er sie überhaupt nicht sähe.

Sie sehnte das Ende dieser Fahrt schon wie eine Erlösung herbei. Ordentlich eine innere Genugtuung bereitete ihr die Vorstellung, daß sie ihrem Manne, sobald er überhaupt nur irgend zugänglich war, alles beichten – und daß er sie darauf tüchtig auszanken würde.

Mit der gehörigen Standpauke (wenn er wollte, konnte er einen in Grund und Boden schmettern, das wußte sie aus Erfahrung) war dann die ganze, für sie so peinliche Geschichte aus der Welt geschafft.

Zweimal setzte sie zu einer Aussprache über ihr Erlebnis an. Das erstemal verdarb ihr die unglückliche Einleitung das Konzept – das zweitemal die gesteigerte Gereiztheit des Leidenden.

»Gustl, sag mal, hast Du eigentlich mit Tante Eveline schon je über ihren Sohn gesprochen?« fragte sie ihn, einen möglichst harmlosen Ton anschlagend, als sie mit dem neuen Buch aus der Bibliothek kam.

Er verstand zuerst gar nicht. »Ueber ihren Sohn? Welchen Sohn?«

»Fritz von Succo.«

Leise aufstöhnend drehte er sich nach ihr um. »Ach, Kind, Kind – nun ist mir's doch wahrhaftig miserabel genug – die ganze Reise schon verleidet – und nun fängst Du auch gerade damit wieder an!«

»Nun, ich seh ihn immer da oben – da beschäftigt mich's natürlich – und Du hast mir noch gar nicht recht erzählt …«

»Ein anderes Thema gibt's also nicht? Ich liege da, quäle mich, und wenn Du kommst, dann weißt Du mir nichts anderes zu sagen … Verstehst Du denn nicht, Jutta, daß mir das peinlich ist? Daß das für jeden, der unsern Namen trägt, peinlich sein muß?«

»Gustl – bitte – sei doch nicht gleich so böse!«

»Ja, nun bin ich böse; es ist unbegreiflich – wirklich unverzeihlich … Als ob Dir's Vergnügen machte … Ich verwünsche es schon, daß wir an Bord gegangen sind. Warum konnten wir nicht in Nizza bleiben? Papa hat auch immer Ideen …«

Sie setzte sich und blätterte im Buche. Eine ganze Weile schwieg sie und sann auf einen neuen Eingang. »Ich hab ihn nämlich ein paarmal an Deck getroffen – und beobachtet – hörte auch, wie er über die Verhältnisse da unten am Nil sprach – und da dacht' ich: so ein furchtbarer Menschenfresser ist er eigentlich gar nicht!«

»Ich mag nichts mehr hören von der Geschichte!« Er hielt sich die Ohren zu. »Wenn Du so da lägst wie ich, dann hätte ich wenigstens so viel Feingefühl – so viel Zartgefühl … Das ist ja zum Verzweifeln!«

Also schwieg sie.

Aber hinterher war sie kreuzunglücklich.

Hätte sie ihm doch lieber ohne jede Vorbereitung klipp und klar gestanden: der Zufall hat's gewollt, ich bin mit ihm bekannt geworden, es wäre kindisch gewesen, auszuweichen, und ich habe einen ganz, ganz andern Eindruck von ihm bekommen, als ich erwartet hatte, erwarten mußte nach der abschreckenden Schilderung –!

Der kräftigste, schärfste Tadel von ihm wäre ihr lieber gewesen als dieser ungewisse, quälende Selbstvorwurf. In der ihr ungewohnten Einsamkeit versank sie mehr und mehr ins Grübeln. Ihre ›Schuld‹ erschien ihr von einem Tag zum andern größer.

»Das da drüben ist Afrika, gnädige Frau,« sagte der Kapitän, der in Gummimantel und Gummikapuze steckte, am vierten Abend zu ihr, kurz bevor sie die Kabine aufsuchen wollte. Und er zeigte auf einen dunklen Streifen am Horizont, den sie nur für eine Wolkenschattierung gehalten hatte. »Hier mit Ihrem Goerz können Sie auch schon die Blinkfeuer von Alexandrien sehen.«

»Also wir sind da?«

»Gegen zwei Uhr früh laufen wir in den Hafen ein. Geweckt wird morgen eine Stunde früher, denn die Mehrzahl der Herrschaften will schon mit dem Neunuhrzug nach Kairo weiter.«

Er hatte bereits da und dort dasselbe gesagt, die meisten wußten es schon von den Deckstewards, aber eine Anzahl Fahrgäste scharte sich doch sofort um ihn, um es noch einmal zu hören. Herr Marcks, der magenkranke Erdumsegler, der sich wieder an die Oberfläche gewagt hatte, suchte sich auch zum zwanzigsten Male zu vergewissern, ob er von Kairo aus am gleichen Vormittag bestimmt noch Anschluß nach Heluan hätte. Fräulein von Wehl stellte dabei fest, daß der größere Teil der deutschen Gesellschaft beabsichtigte, außerhalb von Kairo, im Menahouse bei den Pyramiden von Gizeh, Wohnung zu nehmen. Und die Unterhaltung löste sich in Einzelgespräche über Hotelpreise, Zollschwierigkeiten, ägyptische Scheidemünze und Gepäcktransport auf. Jutta war diese breite Betonung des Nebensächlichen ein Greuel. Sie konnte es durchaus nicht begreifen, daß so viele Reisende all den technischen und kleinen Notwendigkeiten eine solche Wichtigkeit beimaßen und sich dadurch um jede Stimmung brachten. Freilich – ihr Mann gehörte auch dazu. Sie war überzeugt, daß er sie quälen würde, doch ums Himmels willen das Einpacken nicht bis zum andern Morgen zu verschieben, sondern lieber noch in der Nacht alles fürs Ausschiffen zurechtzulegen, wenn er erfuhr, daß ›Afrika in Sicht‹ war.

Verschweigen wollte sie's ihm wiederum nicht, denn sie wußte, daß für Seekranke oder von der Seekrankheit Ermattete die Nachricht von der bevorstehenden Landung physisch und psychisch als das einzige Heilmittel gilt.

Gustav von Succo erfreute sich eines großartigen Schlafs. Da er gleich beim ersten Anfall die Waffen gestreckt hatte, war es jetzt die Schwäche nach dem mehrtägigen Liegen, was ihn hinderte, aufzustehen. Die Bewegung des Schiffes war sehr sanft geworden. Mehr und mehr der Passagiere kamen wieder zum Vorschein: Leute, die Jutta sich gar nicht entsann, überhaupt schon an Bord gesehen zu haben.

Jutta hatte für ihren Gatten, dessen Magen noch keinerlei Anstrengung vertrug, beim Obersteward eine besondere Bestellung angebracht: trotzdem es schon nahezu elf Uhr war, versprach er ihr, für etwas Fruchteis zu sorgen. Es kam dann auch, Gustav verzehrte es mit großem Appetit – und er fand darauf sogar die Kraft, sich zu erheben und auf das zweite Lager zu legen, damit sein eigenes Bett in Ordnung gebracht werden konnte. Die Unterstützung des Kammerstewards genügte ihm, Jutta spazierte also in der ganz milde gewordenen Nacht auf dem oberen Promenadendeck auf und nieder.

An der Brüstung rechts blieb sie endlich stehen. Unverkennbar rührte der hellere Schein da drüben von Alexandrien her. Die Lichter, die den Hafeneingang bezeichnten, sah man nun schon mit bloßem Auge. Und auch der Himmel schien klarer geworden zu sein. Da und dort blitzte ein Stern durch die Wolken. Es war fast windstill, man hörte darum das Arbeiten der Schiffsmaschine um so deutlicher.

Jutta war schon im Begriff, sich ihrer so leicht enthusiastischen Reisestimmung hinzugeben, sich einzureden, daß die Nähe des fremden Erdteils ihr wirklich etwas gäbe – den berühmten historisch-geographischen Schauer – als sie plötzlich schreckhaft zusammenzuckte.

Eine Gestalt rührte sich dicht neben ihr – und sie hatte gar nicht gemerkt, daß überhaupt noch jemand hier auf dem oberen Verdeck weilte.

Fritz von Succo war's.

»Ich möchte bitten, gnädige Frau,« sprach er sie an, »Ihnen noch ein paar Worte sagen zu dürfen.«

Seine Stimme klang warm, fast herzlich.

Sie kämpfte einen Augenblick mit sich. Am liebsten hätte sie sich schroff abgewandt und wäre schnurstracks in die Kabine zurückgelaufen. Doch dann sagte sie sich: für feige sollte er sie nicht halten. Sie sah ihn also fragend an – mit etwas frostigem Hochmut in der Miene.

»Ich hab noch nie zuvor in meinem Leben etwas bereut, gnädige Frau. So kraus und kunterbunt mir's gegangen ist. Weil ich allemal meinen Trotzkopf hab durchsetzen wollen. Aber ich seh's jetzt ein: als wir da am Aetna vorbeifuhren, da hab ich mir, gelinde gesagt, eine furchtbare Dummheit zuschulden kommen lassen.«

Feierlich war er ganz und gar nicht. Er ließ sich auch durch ihre abweisende Miene nicht schrecken. Die Hände hatte er in die Taschen seines weiten englischen Paletots gesteckt; etwas breitbeinig stand er an der Brüstung. Es lag ein gutmütiger Ausdruck in seinem jungen Gesicht und seinen intelligenten Augen.

»Wissen Sie,« fuhr er leicht zögernd fort, da sie hartnäckig schwieg, »so im ersten Schreck hatt' ich gar nicht begriffen, daß Sie wirklich ganz aus eigenem Antrieb zu mir sprachen … Na ja, es ist doch erklärlich, daß ich mich nach den paar Bemerkungen da unten in so 'ne Art von Verteidigungszustand setzen mußte. Nicht?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich habe Ihnen nichts übel genommen, Herr von Succo. Und die Kapitulation einer Festung hab ich weder in der Straße von Messina verlangt – noch wünsche ich sie hier vor dem Nildelta.«

»Na ja.« Er lehnte sich an die Brüstung und sah sie mit seinen hellen Augen offen und freundlich bittend an. »Das weiß ich ja alles. Hinterher hab ich mir die unglaublichsten Grobheiten deswegen gesagt. Denn wenn ich Sie auch nicht als Friedensparlamentär ansehen durfte – das ist natürlich ausgeschlossen, beiderseits – Sie kamen doch so vom Feind dahergeschwebt wie – wie 'ne weiße Taube, möcht' ich sagen. Nein, nein, machen Sie kein böses Gesicht. Das Bild stimmt schon so ungefähr. Und statt dankbar zu sein und still zu lauschen – hab ich plump ausgeholt und mir die freundliche Botschaft verscherzt.«

Die fast drollige Art, mit der er den bildlichen Vergleich weiterführte, vor allem sein herzlicher Ton, entwaffneten sie. Sie hatte ja überhaupt nicht das Talent jener frostigen Zugeknöpftheit wie ihr Gatte. Aber ein Restchen von Spott lag doch in ihrem Ausdruck, als sie erwiderte: »Sie täuschen sich, Herr von Succo, wenn Sie in Ihrem Bild aus der biblischen Geschichte annehmen, daß die weiße Taube Ihnen etwa einen Oelzweig hätte bringen wollen.«

Ein Lächeln huschte über sein Antlitz. »Nein, nein. Das Haus Succo handelt mit so delikaten Pflanzen nicht, das weiß ich ja. Aber eine Frage könnten Sie mir beantworten, gnädige Frau.«

Wieder eine Pause. Jutta bemühte sich, so kühl als möglich zu bleiben.

»Also – sprechen Sie.«

»Sie sagten da – Sie hätten … Na ja, Sie hätten meine Mutter kennen gelernt. Ich bin absolut nicht sentimental. Wahrhaftig nicht. Das hat mir das Leben gründlich abgewöhnt. Und meine Mutter – na, allzu mütterlich hat sie wirklich nicht an mir gehandelt. Ganz in Parenthese gesagt. Aber in ihrem Alter kann ja ebensogut heute wie morgen plötzlich mal ein Fall eintreten, den – den ich dann vielleicht nur ganz zufällig hinterher aus der Zeitung erfahre … Und da wollte ich Sie fragen: wo und wann haben Sie die alte Dame zuletzt gesehen, wie geht ihr's, na – und so weiter …«

Er hatte stockend gesprochen. Ein mattes Lächeln wich dabei nicht aus seinen Zügen. Und doch schluckte er mehrmals, so daß man meinen konnte, bei einzelnen Worten störte ihn ein innerliches, krampfhaftes Zucken in der Kehle. Den Blick hatte er gesenkt. Das wirkte so, als ob er sich seiner Frage schämte.

›Was für ein seltsamer Mensch!‹ sagte sich Jutta. Es rührte da etwas an ihr Herz, ein so tiefes Mitleid, daß sie ihm am liebsten rasch die Hand hingestreckt hätte.

Aber die Furcht vor ihrem Mann ließ sie keinen Augenblick los. Sie sah sich auch plötzlich voller Hast nach der Kabinentür um, die soeben geöffnet und wieder geschlossen worden war. Hastig holte sie Atem. Dann sagte sie leise, unwillkürlich in einen rascheren Tonfall geratend, als ob sie ihm ein Geheimnis verriete:

»Tante Eveline lebt in Königsberg. Ich sah sie vor zwei Jahren in Berlin auf Herta von Schaufferts Hochzeit. Es geht ihr ganz gut … das heißt im Frühjahr ist sie immer in Nauheim, da gebraucht sie eine Kur …«

»Oh! – Ein Herzleiden?«

»Ja – aber – aber wohl nichts Schlimmes.« Sie wußte selbst nicht, weshalb und mit welchem Recht sie diese Einschränkung hinzusetzte; über den Grad des Uebels hatte ja noch niemand zu ihr gesprochen.

»Und sie wohnt allein? Oder bei den Verwandten?«

»Bei Onkel Bodo war sie noch letzten Sommer. Aber der ist Regierungspräsident geworden und versetzt worden. Seitdem lebt sie allein in Königsberg.«

Er sah sie nicht an, während sie sprach. Sie war in große Hast geraten, und nachdem sie geendet hatte, strengte sie ihr Hirn an, um sich noch an irgend etwas Bemerkenswertes über Tante Eveline zu erinnern. Aber es fiel ihr nichts mehr ein. Vielleicht wartete er noch auf etwas, denn er schwieg und lauschte angespannt; den Kopf hielt er gesenkt, seine Fäuste steckten noch immer in den Paletottaschen.

Wieder öffnete sich jetzt die Kabinentür, und im hellen Lichtschein zeichnete sich die Gestalt eines Stewards ab, der Umschau hielt und darauf etwas in die Kammer zurückrief. Jutta war's, als hörte sie die Stimme ihres Gatten erwidern.

»Mein Mann ruft!« Sie stieß das flüsternd aus. »Ich – muß gehen!«

»Ich will Sie nicht aufhalten, gnädige Frau. Das war ja wohl auch alles, was Sie mir sagen konnten.« Er nickte kurz. »Schönen Dank also.«

Noch ein paar Sekunden lang standen sie sich zögernd gegenüber, dann wandten sie sich beide gleichzeitig voneinander ab, ohne ein Wort zu sagen. Er ging auf die Kommandobrücke zu – sie huschte in die Kabine.

Gustav empfing sie so ungnädig, daß ihr gar keine Ueberlegung blieb, das, was sie nun wieder erlebt hatte, in Worte zu fassen.

»Kind, Kind, überall packen sie, und bei uns steht noch alles herum. Nimm Dich doch ein bißchen der Sache an. Ja? Ich würde gern selbst – aber mir ist noch so öde im Magen. Und ich kann gar nicht den Kopf heben – eine richtige Migräne. Wie das nur beim Ausbooten werden soll?«

Der Kammersteward stieß dazu, um beim Packen zu helfen. Zu anderen als praktischen Erörterungen war nun keine Gelegenheit. Und als alles, bis auf das Nacht- und Toilettenzeug, verstaut war, verlangte Gustav, daß endlich dunkel gemacht werde, denn das Licht tat ihm weh.

Sie kramte noch ein Weilchen im Finstern weiter, ohne rechten Zweck. Bis Gustav wieder leise aufstöhnte. Nun öffnete sie ganz behutsam die Tür und begab sich noch einmal auf Deck. Ein paar Minuten wartete sie an der Stelle, wo sie vorhin gestanden hatten. Dann stieg sie zur Kommandobrücke empor.

Fritz von Succo weilte nicht mehr hier.

Etwas enttäuscht sah sie sich überall um und kehrte jenseits des Kompaßhäuschens zwischen den Rettungsbooten wieder zur Treppe zurück.

Plötzlich schrak sie zusammen. Ein Fremder sprach sie an. Einer der deutschen Herren war es. Sie glaubte zuerst: Stangenberg. Es war aber bloß der ihr unausstehliche Herr Eberhard Schneider.

»So allein, Madame, und keine einzige Dame zur Begleitung?« zitierte er näselnd, irgendeinen Schauspieler nachahmend, aus dem »Don Carlos«.

Sie erwiderte ein paar ganz zusammenhanglose Worte und verschwand eiligst in der Kabine.

Hinterher konnte sie sich's nicht verzeihen, daß sie dem zudringlichen jungen ›Kohlenbaron‹ gegenüber eine solche Armsündermiene aufgesetzt hatte.

Und sie fragte sich: weshalb war sie denn überhaupt an Deck zurückgekehrt? Hatte sie denn wirklich vorgehabt, Fritz von Succo noch einmal zu sprechen?

*

Das Wecken, das überhastete Frühstück, das Ausbooten, die Landung, die Droschkenfahrt zum Zollhaus und zur Bahnstation – das geschah alles unter Begleitung eines wüsten, echt orientalischen Durcheinanderrufens und Durcheinanderschreiens.

Ein Dutzend Boote, die teils Hotels, teils Reisebureaus und Fährleuten gehörten, schaukelte rund um das mitten im Hafen von Alexandrien verankerte Schiff. Auf den Bänken standen Araber, Syrer und Nubier, gestikulierten und kreischten. Sobald die Fallreepstreppe zu Wasser gelassen war, stürmte die schwarze und schwarzbraune Bande an Bord: barfüßige Kofferträger, Ruderer, halbwüchsige Burschen, die einen mit glattrasiertem Schädel, die anderen mit dem roten Fes oder mit dem Turban geschmückt.

»Taschen zuhalten!« rief Stangenberg dem Ehepaar Succo zu, das er in der allgemeinen Aufbruchseile nur flüchtig hatte begrüßen können.

Die Ueberfahrt in dem tanzenden Ruderboot, dessen eine Hälfte bis zum Rand mit Gepäck angefüllt war, bedeutete die letzte maritime Prüfung für Juttas Gatten.

»Gottlob – Land!« sagte er, erleichtert aufatmend, als sie endlich festen Boden unter sich hatten.

Er hatte gleich an Bord einen der Kommissionäre von Shepheards Hotel aus Kairo angenommen. Der hielt ihnen nun auch das bakschischheischende Hafengesindel, das sie sofort lärmend umringte, vom Halse.

Im Eiltempo fuhr der hochbeladene Wagen vom Zollhaus durch die engen, volkreichen Vorstadtgassen von Alexandrien. Die Häuser waren ganz europäisch, fremdartig wirkten nur die bunten Trachten, das malerische Nebeneinander aller Hautfarben, die schwarzverschleierten Frauen.

Jutta war wieder ganz Auge und Ohr. Sie wollte nichts von all den neuen Eindrücken verlieren. Und es war eine wahre Sehnsucht über sie gekommen, nach der langen Entfremdung an Bord, sich mit ihrem Gatten über alles, was sie sah und was sie bewegte, auszusprechen.

Schmerzlich war ihr's darum, daß sie für die dreistündige Eisenbahnfahrt nach Kairo kein Coupé allein bekamen, sondern sich wieder mitten unter Schiffsbekannten befanden.

Gustav von Succo taute rasch auf – seine Migräne war bereits auf der ersten Droschkenfahrt an Land wie weggeblasen – er brachte es sogar über sich, der humoristischen Schilderung zuzuhören, die der Rittmeister an der Coupétür von ein paar tragikomischen Seekrankheitsepisoden entwarf.

Der Zug war stark überfüllt. In dem Coupé, in dem Jutta mit ihrem Mann Platz genommen hatte, kam nicht einmal Stangenberg unter. Außer Frau von Druhsen und ihrer Gesellschafterin hatte noch ein Engländerpaar Plätze darin belegt: die Lady Salmour mit ihrem Verwandten.

Frau von Druhsen gab dem Ausdruck ihrer Unlust über die Engigkeit im Coupé eine politische Spitze gegen das britische Inselvolk, was Jutta veranlaßte, ihr zuzuflüstern, die Mitreisende verstünde Deutsch.

»Die Lady muß sehr befreundet sein mit diesem Herrn von Succo aus Kairo,« setzte die Gesellschafterin darauf in scharfem Flüsterton hinzu, »ich hab sie an Bord oft zusammen gesehen.«

Flüchtig musterte jetzt die Engländerin, die bisher mit dem Verstauen ihres Handgepäcks beschäftigt gewesen war, die Coupégenossen. Als sie Jutta bemerkte, nickte sie ihr freundlich zu.

Jutta stellte fest, daß die Fremde doch jünger war, als sie an Bord angenommen hatte. Die unvorteilhafte Schiffsmütze, unter die sie ihr schönes, goldblondes Haar gezwängt hatte, war an der falschen Einschätzung schuld gewesen. Sie fand sogar, daß die Lady den vollendeten Typ der schönen Engländerin darstellte: außer dem prächtigen Haar besaß sie einen zarten, durchsichtigen Teint, schöne, ausdrucksvolle, blaue Augen, elegante Gestalt, stolze Haltung, tadellose Zähne und eine sehr hübsche, angenehme Stimme.

»Ob das ihr Mann ist?« fragte die Baronin halblaut. »Einen Ring trägt er nicht. Ihr Vater ist es doch auch nicht.«

Jutta zuckte die Achsel. »Warum zerbrechen Sie sich darüber den Kopf?«

»Ich sehe auf Reisen gern klar.«

Daß die Baronin noch irgendeine kleine Bosheit in Vorbereitung hatte, stand hiernach bei Jutta fest. Sie täuschte sich nicht. Frau von Druhsen beugte sich nämlich mit stark betonter Diskretion zu ihr herüber und sagte mütterlich: »Da die Dame doch offenbar Beziehungen hat zu diesem – diesem Kairenser Succo, Sie wissen – würde ich mich an Ihrer Stelle gar nicht erst auf den Grüßfuß mit ihr stellen.«

Succo verzog die Miene nur ganz leicht, aber Jutta merkte sofort, daß ihr Mann die Taktlosigkeit der Baronin ebenso schmerzhaft empfand. Beide überhörten die Bemerkung und vertieften sich gemeinsam in den Reiseführer. Jutta hatte es deutlich genug herausgefühlt: die Bosheit war mehr gegen sie als gegen die Reisegenossin gerichtet.

Die Lady Salmour nahm übrigens auf der ganzen Fahrt von den Anwesenden keine Notiz mehr.

Draußen jagte im dicken Staube, den der Zug aufwirbelte, eine fremdartige Landschaft an ihnen vorüber. Der Schienenstrang näherte sich dem Nil. Das Land war hier zerrissen von Hunderten von Kanälen. Auf den lehmigen Dämmen zogen ganze Karawanen von hochbeladenen Kamelen in feierlichem Tempo. Flink trabten Araber auf Eseln ein Stückchen neben dem Zuge her. Schwarzgekleidete Frauen, die hohe Oelkrüge auf den Schultern trugen, wirkten wie Ausschnitte aus der biblischen Geschichte. Im Sumpf standen Büffelherden und starrten den vorbeisausenden Zug an. Man fuhr durch einen lichten Palmenwald. Dann tauchten über dem Gestrüpp verkrüppelter Sykomoren hohe, weiße, kreuzweis ausladende Segel auf: die ersten Dahabijen, die auf dem Nil dahinglitten. Unpoetische Ziegelbauten mit hohen Schornsteinen mischten sich da und dort in das Bild: die Zuckerfabriken, die Färbereien und Webereien. Dann wieder kam man an Fellachendörfern vorüber. Niedrige, lehmbraune Hütten, aus getrocknetem Nilschlamm errichtet; in der Nähe gewöhnlich der alles überragende weiße Kuppelbau eines Scheichgrabes. Weiterhin am östlichen Horizont ein braungelber Strich: das Mokattamgebirge, die libysche Wüste. Und schließlich, schon meilenweit vor dem Ziel, drüben im Westen im zitternden Sonnenglast: die Umrisse der drei Pyramiden von Gizeh.

Der stärkste Eindruck, den Jutta nach der Ankunft in Kairo auf der Fahrt zum Hotel empfing, war der auf ihre Geruchsnerven. Die scharfe, durchdringende Ausdünstung der Kamele beherrschte die Straße; dahinein mengten sich die Zwiebel- und Knoblauchdüfte der Kutscher und Gepäckträger.

Geschrei, unentwirrbares Geschrei auch hier. Bloßfüßige, arabische Betteljungen rannten eine Strecke weit neben dem Wagen her und schlugen Räder mitten im Gewühl, immer wieder die Hand nach einem ›Bakschisch‹ ausstreckend. Wie in einem Kaleidoskop wechselten die Bilder, die Farben, die Formen, die Gestalten. Es war Mittagszeit, die helle, weiße Sonne schien, ägyptisches Militär in rotem Fes und weißen Gamaschen kam mit klingendem Spiel durch einen der mit Platanen bepflanzten Boulevards, ganz Kairo schien auf den Beinen.

Plötzlich hielt der Wagen in einer breiten, stark belebten Hauptstraße. Sie befanden sich vor der weltberühmten Terrasse von Shepheards Hotel.

Araber in blutroten Jacken, wahre Hünen, stürzten herzu und nahmen das Gepäck in Empfang.

Im Hotelvestibül herrschte ein Leben wie in einem Taubenschlag. Viele Schiffsgäste standen hier bereits in Unterhandlungen mit dem Hoteldirektor und seinen Sekretären. Auch Stangenberg traf soeben ein. Er hatte einem der Portiers bereits in der Tür ein paar Schillinge in die Hand gedrückt. Eilfertig bemühte der sich nun – es war ein Deutscher wie fast alle Hotelangestellten – die Nummer des für ihn bestellten Zimmers in Erfahrung zu bringen.

»Und das Quartier für Mr. Succo!« rief der Rittmeister dem Portier nach, die Bekannten erblickend und begrüßend.

»Mr. Succo ist bereits oben,« gab der Portier sofort zurück, »hat Nr. 37 – second floor – wie immer.«

Gustav zuckte zusammen. »Das ist nun doch geradezu scheußlich,« stieß er aus, halb zu Stangenberg, halb zu seiner Frau gewendet, »schon wieder diese leidige Verwechslung!«

Stangenberg ließ den Portier noch einmal zurückkommen. »Sie täuschen sich. Mr. und Mrs. Succo – das sind diese Herrschaften hier.«

»Zimmer ist von Marseille aus vorausbestellt!« setzte Gustav von Succo hinzu.

Es dauerte eine gehörige Weile. Endlich kam in der Begleitung des Portiers ein eleganter junger Herr mit einer großen, flatternden Zimmerliste auf sie zu.

»Pardon, da scheint ein Irrtum vorzuliegen. Ein Mr. Succo, Marseille, ist nicht vorgemerkt. Bloß Mr. Succo aus Bedracheïn, der immer hier wohnt und stets Nr. 37 hat, wenn das Zimmer frei ist.«

»Aber ich habe doch selbst aus Marseille telegraphiert …«

»Gewiß hat der Sekretär im Bureau die Bestellung nicht kopiert, weil der Name zufällig doppelt vorgekommen ist. Ich bedaure unendlich. Gedulden Sie sich einen Augenblick, wenn noch etwas frei ist, werde ich Ihnen sofort …«

Und weg war er.

Stangenberg mußte seinem Gepäck folgen. So blieb das Ehepaar allein in dem Gewühl zurück.

»Unerhört. Dieser hergelaufene Mensch drängt sich da ein. Ueberall … Es ist nicht mehr zu ertragen!«

Gustav von Succo vertrug technische Störungen auf der Reise überhaupt nicht. Er war zumeist sehr cholerisch. Sein Auftreten den Hotelangestellten gegenüber war in solchen Fällen kleinlich und unduldsam. Jutta suchte ihn zu beschwichtigen, aber er sagte kurz: »Ich habe diese Komödie nun satt. Zum Kuckuck, ich werde mir die ganze Erholungsreise doch nicht durch diesen – diesen Menschen stören lassen.«

»Wie ungerecht Du bist, Gustl. Eine Verwechslung. Mein Himmel, das ist doch kein solches Unglück.«

»Der sitzt nun oben in unserm Zimmer – und unsereiner steht hier – eine Dame läßt man in der zugigen Halle stehen …«

»Du hörst doch, daß er immer hier wohnt. Das ist direkt gesucht, Gustl, sich darüber aufzuregen, sich deswegen die Reiselaune stören zu lassen.«

Das Gewühl lichtete sich. Gruppenweise zogen die Ankömmlinge, vom Empfangspersonal geleitet, zum Lift.

»Ich bedanke mich überhaupt dafür, hierzubleiben – dem Burschen womöglich alle Augenblicke zu begegnen.«

Jutta wußte, daß er sich nun immer mehr in Zorn reden würde. Bisher hatte sie's in solchen Fällen kleiner Störungen immer versucht, ihm mit drolligem Schalk eine freundlichere Miene abzuschmeicheln. Aber jetzt verdroß sie seine unlogische Gereiztheit gegen den abwesenden Unschuldigen derart, daß sie achselzuckend in die Tür trat und ihre Blicke über die menschengefüllte Terrasse schweifen ließ. An unzähligen Tischen saß da eine bunte Gesellschaft in der Sonne: elegante Welt in höchstem Promenadenstaat, salopp gekleidete Touristen, flirtende Sportsleute beiderlei Geschlechts, englische Offiziere, geschminkte Halbwelt. Von der Straße her tönte das Wagengerassel, das Geschrei der Vorläufer, der Eseltreiber, das scharf rhythmische Händeklatschen der unter eintönigem Gesang auf dem Fahrdamm marschierenden Lastträger.

Jutta hörte hinter sich einen ziemlich scharfen Wortwechsel. Ihr Mann setzte den sich höflich entschuldigenden Hoteldirektor zur Rede. »Aber wir wünschen doch irgendwo unterzukommen.«

»Selbstverständlich. Nur ein wenig müssen Sie sich gedulden. Mittags werden immer ein paar Zimmer frei. Dann sollen Sie Vorhand haben.«

»Aber ich will sie sehen. Zeigen Sie sie mir.«

»Das geht jetzt noch nicht. Ich sage Ihnen ja: augenblicklich ist nicht ein einziges Zimmer unbesetzt. Aber in längstens einer Stunde können wir Ihnen Bescheid geben.«

»Na, das ist ja lieblich.«

»Vielleicht nehmen die Herrschaften inzwischen den Lunch. Ihr Gepäck kann ja hier stehen bleiben. Sie brauchen sich darum nicht zu kümmern.«

Jutta suchte der Aufgeregtheit ihres Gatten die größtmögliche Ruhe entgegenzusetzen.

»Nun, Gustl, wir warten eben noch ein Weilchen. Oder machen einen kleinen Spaziergang. Das ist doch weiter kein Unglück.«

»Für Dich nicht. Nein, das weiß ich. Dir ist es ja an Bord vorzüglich ergangen. Aber ich will endlich ein Unterkommen haben und mein Bad, ich will endlich in Behaglichkeit auspacken können … Und bloß wegen dieses – dieses …«

»Gustl –! Aber nun hör doch endlich mit dem zwecklosen Zanken auf. Was kann denn schließlich Dein Vetter für die Verwechslung? Du mußt doch ein Einsehn haben!«

»Nein, das hab ich eben nicht. Punktum. Basta.«

Stangenberg stieß dazu. Er hatte nur flüchtig Toilette gemacht; den Lunch nahm man hier allgemein im gewöhnlichen Straßenanzug.

»Noch immer obdachlos? … Leider würde mir der beste Wille zur christlichen Nächstenliebe nichts nützen: für mein Quartier würden Sie sich schönstens bedanken, es liegt fünf Treppen hoch, hinten heraus, eine winzige Bude. Uebrigens billiger als ich dachte. Aber eine Aussicht – geradezu himmlisch. Hinten ist nämlich ein wunderbarer Park mit Palmen. Und darüber hinweg sieht man Moscheen mit Minaretts und den Nil und die Pyramiden.«

Jutta hängte burschikos bei ihm ein. »Sie müssen mich hier ein bißchen spazieren führen. Mein Mann will sich zunächst noch ein Viertelstündchen ärgern – und dabei sind Zeugen überflüssig.«

Stangenberg lachte. »Sie sind allerliebst, gnädige Frau. Also, Herr von Succo, es hilft Ihnen kein Gott: auf allerhöchsten Befehl geh ich mit Ihrer Frau Gemahlin durch. Unter Palmen! Romantisch, was?«

Es war Succo anscheinend nicht möglich, in den scherzhaften Ton einzustimmen. »Bitte sehr,« erwiderte er kurz und wandte sich wieder dem Bureau zu.

»Brummbär!« sagte Jutta.

Sie zog in flottem Tempo mit dem Rittmeister ab.

Stangenberg spielte den Galanten. Es war aber nicht mehr jene gesetzte Ritterlichkeit in seinem Wesen wie in Marseille. Er hatte zuweilen ein listiges Augenblinzeln. Sie tat, als ob sie's nicht bemerkte, entzog ihm aber ihren Arm unter dem Vorwand, die Jacke auszuziehen. Sommersonne lag über dem wunderbar gepflegten tropischen Garten. Sie legte ein paar Schritt Zwischenraum zwischen sich und den Rittmeister. Unbefangen plauderte sie weiter. Aber als sie an einer zeltartigen, von herrlichem Granatgebüsch umrankten Laube stehen blieb und sich vorbeugte, um eine der großen, brennendroten Blüten genauer zu betrachten, merkte sie, daß er ihren Worten gar nicht folgte. Und sie fühlte gleichzeitig – fast körperlich fühlte sie's – daß er sie mit einem heißen Ausdruck betrachtete.

Sofort richtete sie sich auf und sah ihn groß an – über die Abschätzung, die in seiner Miene lag, höchst verwirrt.

»Wirklich – ganz allerliebst!« sagte er nur zwischen den Zähnen, in einem Schwerenöterton, den sie bisher noch nicht von ihm gehört hatte.

»Sie meinten, Herr von Stangenberg?«

Sein indiskret lächelnder Blick war gewandert – er brannte nun in ihrem stark erschrockenen. »Die Granatblüte meine ich.«

Mit Spott suchte sie über seine unartige Entgleisung hinwegzukommen. »Das ist ja eine furchtbar feurige botanische Huldigung.«

»Tja, wie soll man seiner Sinne Meister bleiben – solch süßem Ding im fremden Garten gegenüber?«

Sie merkte, daß er fortgesetzt seinen Worten einen Doppelsinn unterlegte. »Was ist nur in Sie gefahren?«

Er wippte sich auf den Zehen leicht auf und nieder und lächelte sie überlegen an. Dabei summte er: »Was nützt mir denn ein schöner Garten, wenn andre drin spazieren gehen?«

»Alles die Nähe des Aequators?« sagte sie erheitert, noch immer bestrebt, den Anlaß zu einer wirklichen Verstimmung auszuschalten.

Nun lachte er ebenfalls. »Daß Sie eine sehr verführerische kleine Frau sind, hab ich schon in Europa drüben festgestellt. Hier in dem heißen Afrika ist's aber doch wohl erlaubt, den Ausdruck der Bewunderung zu steigern.«

»Im Gegenteil. Die Mohammedaner bestrafen so etwas äußerst empfindlich.«

Er kniff wieder ein Auge zusammen. »Hm. Die Mohammedaner.«

»Ja. Der Attentäter wird hier mit einer Katze, einem Hund und einer Viper in einen Sack gebunden und in der Wüste ausgesetzt. Sie wissen doch?«

»Keine sehr lockende Aussicht. Jeder Attentäter, meine Gnädigste?«

»Selbstverständlich.«

Er antwortete nicht, drohte ihr aber mit den Augen. Und wieder trat der seltsame Ausdruck in seine Miene, der sie beunruhigte.

Sie zuckte die Achsel und brach die Unterredung ab. »Uebrigens hab ich jetzt Hunger. Und ich hoffe: mein Schatz auch.«

Er neckte sie damit, daß sie so ehrpußlich-spießbürgerlich ›mein Schatz‹ gesagt hatte. Ihr fiel es gleichfalls auf; denn es war sonst dritten gegenüber nicht ihre Gewohnheit.

*

Bei Tisch entwickelte Stangenberg eine so glänzende Laune wie nie zuvor. Er verführte Juttas zunächst noch recht verstimmten Gatten sogar zu einer gemeinsamen Flasche Heidsieck. Aber Jutta verhielt sich reserviert. Je mehr sie der kleinen Szene im Garten nachging, desto stärker fühlte sie sich gegen den Rittmeister eingenommen.

Man saß in dem prunkvollen Oberlichtsaal, der trotz der Marmorwände und Marmorsäulen durch die vielen Blumen, die echten Teppiche und auch die mit dem Tageslicht ringenden elektrischen Lampen, deren Schirme aus bunter Seide waren, doch einen ganz behaglichen Eindruck machte. Flinke Araber bedienten.

In Marseille hatte Stangenberg dem Oberstaatsanwalt die Zusage gemacht, daß er ihn auf der mehrtägigen Fahrt ins Fajum begleiten wollte. Die Unternehmung versprach eine schöne Jagd, war aber sehr anstrengend und für Damen nicht lohnend. Succo hatte vorgehabt, die Fahrt anzutreten, wenn Juttas Vater hier in Kairo eingetroffen war. Er kam während der Mahlzeit mehrmals auf diese Verabredung zurück. Aber Stangenberg hielt ihm entgegen: »Erlauben Sie, ist es nicht eigentlich eine Grausamkeit, daß Sie mich da in die Wüste mitschleppen wollen? Offengestanden hab ich so ziemlich alle Lust verloren. Ich möchte viel lieber unserer jungen Gnädigen als Führer hier in Kairo dienen.«

»Bis zur Abfahrt meines Mannes habe ich die Hauptsehenswürdigkeiten von Kairo wohl schon hinter mir,« sagte Jutta, »und ich werde Papa dann wohl kaum allein lassen.«

»Schade.«

Succo trommelte leicht auf den Tisch. »Uebrigens hab ich mich entschlossen, Jutta, für die nächsten paar Tage nicht in Kairo zu bleiben.«

»Wieso nicht?«

»Wir werden hier gar nicht erst auspacken.«

»Sondern?«

»Ich hab vorhin vom Bureau aus alles bestellt. Der Wagen fährt um drei Uhr vor. Telephonisch hab ich auch schon über Zimmer und Pension verhandelt. Wir siedeln nach Gizeh über.«

Beide sahen ihn überrascht an. »Gizeh –!?«

»Sie meinen das Hotel Menahouse am Fuß der Pyramiden?« fragte der Rittmeister.

»Ja. Wo ja auch verschiedene der Herrschaften von Bord hingegangen sind. Es soll dort vorzügliche Verpflegung geben. Und es ist doch höchst interessant: so dicht bei den Pyramiden.«

Stangenberg hatte sich kopfschüttelnd zurückgelehnt. »Nehmen Sie mir's nicht übel, das ist 'ne komische Idee. Sie fahren doch nach Kairo, um in Kairo zu sein. Die Umgebung nimmt man wohl gelegentlich so mit, aber Kairo selbst bleibt doch Hauptsache.«

»Das sehen wir uns dann später an.«

Jutta war sehr enttäuscht. »Später? Aber man ist doch in solch einer Spannung … Und nun kommst Du und sagst … Weshalb denn nur?«

»Ich habe meine Gründe.«

»Gustav –! Etwa wirklich bloß wegen der dummen Zimmergeschichte hier?«

»Zum Teil. Ja. Und noch aus anderen Gründen.«

»Wenn Du unser ganzes schönes Programm wegen solcher Lappalien stören willst …«

»Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe.«

Auf Stangenbergs vom Wein und vom Plaudern etwas erhitztem Gesicht war noch ein steifes Lächeln stehen geblieben. Aber die vorherige Laune war doch erloschen. Er musterte das Paar, die Augen ein wenig zusammenkneifend. Es herrschten da Unklarheiten und Unstimmigkeiten. Offenbar Eifersucht. Er besaß Erfahrung.

Beim Nachtisch versuchte Stangenberg noch einmal auf den verärgerten Ehemann einzuwirken. Er glaubte, daß er sich von Frau Jutta einen Dank damit verdiente. Es war doch geradezu absurd, diese glänzende, lockende Großstadt, die man das afrikanische Paris nannte, zu verlassen, noch bevor man sich auch nur ein paar Stunden darin umgesehen hatte.

Succo saß lässig im Stuhl zurückgelehnt. Seine Lippen hatten sich ganz schmal verzogen. Es lag ein frostiger Ausdruck in seiner Miene und in seinem Ton. »Ich habe im ganzen wenig Prinzipien,« sagte er ziemlich obenhin, um dem Tafelgenossen eine weitere Einmischung abzuschneiden, »aber die paar sind um so unantastbarer. Und das erste davon lautet: meine Entschlüsse werfe ich nicht wieder um.«

»Brechen wir also auf,« sagte Jutta, sich erhebend.

Im Restaurant war es schon leer geworden, auf der Terrasse und in der großen maurischen Halle, die sich ans Hotelvestibül anschloß, wogte das bunte, internationale Treiben um so lebhafter. Man nahm den türkischen Kaffee im Umherstehen. Von den Tischen am Rand der Terrasse aus wurde von Amerikanern eine drollige Unterhaltung mit den unten auf der Straße ihre Perlketten, Nilpferdpeitschen, Ansichtskarten und Palmenfächer feilbietenden Händlern geführt.

Jutta empfand eine geradezu kindlich stürmische Lust, sich auch gleich mit in das Gewühl zu stürzen. Aber die ganz eisig gewordene Miene ihres Gatten, der auf die Vorstellungen Stangenbergs immer kürzer, lässiger antwortete, raubte ihr die Stimmung. Sie sah nach der Uhr und sagte, mit einem gezwungen gleichgültigen Blick das noch immer in der Halle stehende Gepäck streifend: »Also um drei Uhr hier, Gustav.«

Damit wandte sie sich dem Lesesaal zu.

Sie bemerkte noch, daß Stangenberg Miene machte, ihr zu folgen. Unschlüssig blieb er dann aber doch bei Succo zurück.

Im Lesesaal befanden sich nur Herren. Sie lagen mit übergeschlagenen Beinen weit zurückgelehnt in den tiefen Klubsesseln, die mächtigen Zeitungen über sich haltend. Von der Reihe am Fenster sah man nur die leicht wippenden Stiefelsohlen unter dem knisternden Zeitungspapier. Jutta kramte zwecklos auf einem Tisch mit Hotelführern, dann ging sie ins anstoßende Schreibzimmer. Ein großes Bureau stand hier in der Mitte; die einzelnen Pulte waren durch Milchglasfenster voneinander getrennt.

Sie wollte die Zeit benutzen, um ein paar Grüße an Pensionsfreundinnen und Verwandte ihres Mannes abzuschicken. Es war nur noch ein einziger Pultplatz frei. Indem sie aber auf ihn zuging, bemerkte sie, daß den Nachbarsitz Fritz von Succo innehatte.

Noch war es möglich, auf das Fenstertischchen zuzuhalten, wo die Kursbücher lagen. Sie konnte eines davon an sich nehmen und den Raum dann wieder verlassen.

Aber in ihre augenblickliche Stimmung paßte es ganz gut, etwas zu tun, wovon sie wußte, daß es ihren Mann ärgern würde.

Sie zog also den Stuhl des leeren Platzes zurück und setzte sich.

Die übrigen elf eifrig schreibenden Hotelgäste blickten kaum auf.

Aber sie fühlte: ihr Nachbar zur Rechten hatte sie schon bei ihrem Eintritt erkannt – und beobachtete sie nun. Er hatte nach Beendigung seines Briefes seinen Stuhl ein wenig zurückgeschoben.

Sie tat, als ob sie's nicht bemerkte, und beschrieb einige der hübsch ausgestatteten Hotelpostkarten. Darauf legte sie die Karten mit der Adresse nach oben, rechts neben sich, dicht an den Rand der Trennungsscheiben. Sie wußte, daß der Blick ihres Nachbars die Adressen streifte.

Und da reizte sie's nun – sie fragte sich hernach noch oft, war's nur Opposition gegen ihren Gatten, war's eine Regung von Mitleid oder war es eine grausame Herausforderung – es reizte sie, einen der Kartengrüße zu adressieren: ›Frau Eveline von Succo, geb. von Zabell, Hochwohlgeboren, Königsberg i. Pr., Auf den Hufen 10a. Germany.‹

Plötzlich gab's neben ihr einen Ruck. Ihr Nachbar hatte seine Schreibarbeit heftig zurückgeschoben. Den Kopf in die Rechte stützend, lehnte er sich mit dem Ellbogen ganz vorn aufs Pult, wandte ihr das Gesicht zu und sah sie mit großen Augen an.

Nun mußte sie sich nach ihm umkehren. Und sie tat's ohne die kleinste Komödie: sie spielte durchaus nicht die Erschrockene. Im Gegenteil, ihre Blicke redeten: ›Sprich doch, sag', wie Du das findest.‹ Es zitterte nur wenig Angst in ihr.

Nach einer kurzen Weile Schweigens, in der sie beide Aug' in Aug' fast unbeweglich verharrt hatten – hinterher erschienen ihnen beiden die paar Sekunden wie eine kleine Ewigkeit – warf er einen flüchtig prüfenden Blick über die Reihe der andern. Keiner der Schreibenden am Tische sah auf. Leise sagte er nun endlich: »Sie geben mir ein großes Rätsel auf, gnädige Frau.«

Sie hielt seinen forschenden Blick ruhig aus. »Nein, vor dem Rätsel stehe ich, und ich will und muß es ergründen. Wenn ich heimkehre, geb ich mich nicht eher zufrieden, als bis ich Tante Eveline gesprochen habe.«

Ein fast mitleidiges Lächeln huschte über seine Miene. »Das Friedenstiftenwollen ist ja wohl eine gute weibliche Eigenschaft. Aber es ist selten dankbar.«

»Dank will ich nicht. Es ist mir nur um der Sache willen. Ich muß erfahren, auf welcher Seite die größere Schuld liegt.«

»Hat Vetter Gustav Sie nicht darüber unterrichtet?«

»Sie sollen mir's jetzt sagen.«

»Ich bin Partei, gnädige Frau.«

»Er auch.«

Da soeben einer der Herren auf der andern Seite sich ungeduldig räusperte, stand sie auf und ging durch die offene breite Flügeltür auf den Flur, der die große Halle querte.

Er folgte ihr.

Sie wunderte sich selbst über ihre Verwegenheit. Wenn ihr Gatte oder wenn Stangenberg sie nun suchte? – Es war ja fast sicher, daß einer der Herren ihr nachkam. Und was geschah dann?

Inmitten des breiten, mit Korbsesseln und Rauchtischchen ausgestatteten Ganges standen sie ein paar Augenblicke schweigend nebeneinander. Fritz von Succo traute ihr noch nicht recht. Er witterte noch immer einen Auftrag bei ihr. Und doch hatte die Erinnerung an seine Mutter ihn tiefer bewegt, als er verraten wollte.

»Wenn man Ihnen unrecht getan hat,« begann sie wieder, »warum sprechen Sie nicht mit meinem Mann? Jetzt, wo so viel Jahre vergangen sind? Ist es denn so nicht ganz unnatürlich, dies Ausweichen und stumme Grollen?«

»Es lag nicht an mir, gnädige Frau. Ich habe jahrelang ehrlich und herzlich um Verzeihung gebeten. Und um die Verzeihung und um die Liebe meiner Mutter hab ich gebettelt. Aber es hat alles nichts geholfen. Und so hab ich denn endlich verzichtet. – Sie sind das erste Wesen aus dem ganzen großen Kreis, das wieder zu mir spricht. Vielleicht deshalb, weil Sie kein Succosches Blut haben.«

»Möglich.«

»Aber sehen Sie: so ein paar Jahre Fremde färben ab. Ich habe nun nicht einmal den Wunsch mehr: noch ganz so wie früher da droben im lieben Deutschland bei den wackern Vettern zu sitzen. Also: an mir ist Hopfen und Malz verloren. Und Ihre Güte ist vielleicht doch verschwendet.«

»Es war nur ein Versuch, bevor wir von hier weggehen. Ich werde Sie wohl nicht mehr treffen. Und drum wollt' ich Sie nur noch einmal fragen: Sie haben mir nichts aufzutragen – für daheim? … Wirklich kein armes Sterbenswörtchen?«

Er zuckte die Achseln und sagte nach kurzem Zögern etwas leiser: »Es nützt ja nichts, gnädige Frau. Das arme Sterbenswörtchen würde drüben nicht verstanden werden. Denn wir sprechen verschiedene Sprachen.«

»Ja – dann – kann ich freilich nicht helfen.«

»Daß Sie das wollten, das ist sehr, sehr nett von Ihnen. Und ich werd's sobald nicht vergessen.«

»Sagen Sie mir nur noch eines, Herr von Succo. Es interessiert mich rein sachlich. Oder vielmehr: rein menschlich.«

»Bitte, gnädige Frau.«

»Was Sie zu der Affäre damals – zu dem schrecklichen Auftritt getrieben hat, das war doch nicht bloß Rauflust?«

»Weshalb nicht?«

»Sie sind der Mann nicht dafür.«

»Meine Verwandten haben's Ihnen aber sicherlich so geschildert, wie?«

»Ja.«

»Nun also.« Er sagte es fast ein wenig erheitert.

»Warum weichen Sie mir aus? Was hatten Sie mit Münchhoff? Wollen Sie mir's nicht ganz offen sagen? Es ist wirklich keine dumme Neugier.«

Fritz von Succo hatte die Fäuste in den Taschen seines Jacketts vergraben.

Ein paar Augenblicke sann er trotzig vor sich hin. Dann warf er den Kopf ein wenig zurück und wandte sich, sie mit einem Blick zum Mitkommen auffordernd, zum Gehen. Langsam, zögernd, öfters stehen bleibend, schlenderten sie auf dem langen Flur entlang, gleich anderen Paaren. Am oberen Ende angekommen, kehrten sie um und nahmen denselben Weg noch einmal. Dann noch ein zweites, ein drittes Mal.

Und in diesem Viertelstündchen hörte Jutta aus Fritz von Succos Mund die Geschichte seines Unglücks und seiner Verbannung in einem ganz neuen, sie mächtig erregenden Zusammenhang.

*

Während seiner militärischen Uebung hatte Fritz von Succo mit Münchhoff, einem seiner Kompagnie-Offiziere, auf demselben Flur quartiert. Der junge Offizier lebte ziemlich wüst, die Hausbewohner nahmen schon längst Anstoß an seinem Treiben. Wiederholt war die Besitzerin des Hauses, Frau Anna Bauduin, eine junge Fabrikantenwitwe, einem heimlichen Besuch von ihm begegnet: der pikanten, leichtsinnigen Frau Eva Z., der Gattin des Arztes, der im Erdgeschoß wohnte. Frau Bauduin hatte schließlich den ihr seit der Kinderzeit befreundeten Juristen gebeten, seinen älteren Kameraden zu warnen. Der Betrug unter ihrem Dache widerte sie an. Münchhoff mußte das Haus verlassen. Die Sache fand rasch ihre Erledigung: Münchhoff zog aus, verlangte nur dem Referendar das Ehrenwort ab, zu schweigen. Der gab es. Aber Münchhoffs plötzlicher Wegzug fand bei den Kameraden eine ganz unerwartete Auslegung. Man lachte im Kasino darüber: Münchhoff war wieder einmal wegen ›fortgesetzten Lebenswandels‹ an die Luft gesetzt worden. Und man nannte mit lustigem Augenblinzeln Frau Bauduins Namen. Wie der Klatsch aufgekommen war, ob Münchhoff, um das gefährliche Verhältnis zu vertuschen, ihn genährt hatte, das wußte Succo nicht zu sagen: aber man tuschelte bald allgemein über Münchhoffs zärtliche Beziehungen zu der schönen ›Frau Annita‹, wie man die junge Witwe sofort kordial bezeichnete. Bei einem Liebesmahl im Kasino kam in vorgerückter Stunde die Sache aufs Tapet. Burschenklatsch hatte dies und das aufgeschnappt und verdreht – Münchhoff ward damit gehänselt, daß ihm häusliche Moralhüter die zärtlichen Besuche von Frau Annita, der ›verliebten kleinen Witib‹, verwehrt hätten. Das pikante Geschichtchen ward ausgeschmückt, man blinzelte einander zu und lachte. Und Münchhoff schwieg, er drehte geschmeichelt an seinem Schnurrbart – und schwieg. Fritz von Succo hatte sich's eine ganze Weile mit angehört. Sein Blick bohrte sich in den seines Gegenübers, der ohne Wimpernzucken duldete, daß die Frauenehre einer Unschuldigen hier im animierten Herrenkreise zerpflückt und zertreten wurde. Es fiel schließlich ein Wort, das Succo zur Wut brachte. »Herr Leutnant Münchhoff, Sie dulden das?« – Der war ein wenig bleich geworden. »Was soll man tun? Geglaubt wird einem ja doch nichts.«

»Nein, Münchhoff,« rief ein anderer lachend, »daß Du mit Deiner schönen Witib bloß gebetet hast, das glaubt Dir kein Mensch!«

»Nun also – was soll man dagegen sagen?«

»Nichts!« lachte der Chorus.

Nun fuhr es Succo heraus: »Aber das ist dann stummes Ehrabschneiden. Ich fordere von Ihnen, Herr Leutnant Münchhoff, daß Sie bei Ihrer Mannesehre sofort erklären …«

Ein Tumult entstand, und Münchhoff rief außer sich: »Succo, schweigen Sie, was fällt Ihnen ein, ich habe Ihr Wort!«

»Das kann mich nicht zum Lumpen machen!«

Nun war der Skandal da. Und Münchhoff schrie: »Vizefeldwebel Succo, Sie verlassen sofort den Saal.«

»Nein, ich bleibe, bis Sie erklärt haben …«

»Ich befehl's Ihnen dienstlich.«

»Ich wäre ein Feigling, wenn ich jetzt ginge.«

»Man wird Ihnen Gehorsam beibringen. Ordonnanz!«

Im Nu war Succo seinem Gegner am Kragen, schlug ihn ins Gesicht – ward überwältigt, abgeführt, in Untersuchungshaft gebracht – und kam erst zur Besinnung, als er vor dem Gerichtsoffizier stand.

*

»Das war mein Verbrechen, gnädige Frau. Ich konnte in der Verhandlung nicht alles sagen, was die Sache geklärt hätte. Denn damals lebte Frau Z., die Doktorsfrau, noch. Sie starb im Wochenbett, während ich meine Gefängnisstrafe verbüßte. Acht Monate Gefängnis: das war eine Zeit, die aus einem offenen, lebensfreudigen Menschen einen verbitterten Weltfremden gemacht hat. Es hat Jahre bedurft, bis ich die Qual der grauen Mauern verwunden hatte. Vergessen werd' ich sie nie. – Aber das eine ist mein Trost: geriet ich heute noch einmal in dieselbe Lage – ich würde nicht anders handeln können als damals.«

Sie waren am Fenster, das den Flur abschloß, stehengeblieben. Jutta hatte kein Wort verloren. Ihr ganzer stolzer Rechtssinn bäumte sich dagegen auf, daß ihr von ihrem Gatten bei der Darstellung des Falles die zwingende Ursache der leidenschaftlichen Szene verschwiegen worden war. – Gerade das Wesentliche – das für eine Frau Wesentliche – hatte er unerwähnt gelassen: daß ein tapferer Zug von Ritterlichkeit den jungen Vetter damals hingerissen hatte.

»Es war kein so ganz ideales Opfer, wie Sie annehmen,« sagte er kopfschüttelnd auf eine Bemerkung von ihr. »Ich besaß zu wenig von Don Quixotes Rittersinn, als daß ich für eine Fremde so blindlings und wutschnaubend eingetreten wäre.«

Ueberrascht blickte sie ihn an. »O – es war noch ein Roman dabei?«

»Kein Roman, gnädige Frau.«

»Aber Sie liebten sie – die andere?«

»Ja, ich liebte sie. Doch das befand sich noch in den ersten Anfängen. Es war noch nicht einmal zu einer zarten Novellette gediehen. Höchstens war's die Lyrik eines leisen, kleinen Gedichts.«

Nun lächelte sie. »Also war es eine unglückliche Liebe.«

»Eine ganz hoffnungslose.«

»Erzählen Sie mir doch noch von dieser Frau Annita.«

»So sollen Sie sie nicht nennen.«

»Wer war sie – oder vielmehr: wie war sie?«

»Ich nannte sie: meine kleine Heilige. Wir waren Jugendgespielen gewesen. Sie hatte mit achtzehn Jahren geheiratet. Es war äußerlich eine glänzende Partie. Bauduin, ihr Mann, hatte die große Spinnerei, besaß ein paar Häuser – und war ein guter Kerl. Aber der blonden, zarten, kleinen Frau gegenüber wie ein täppischer Bär, der sich in einen Wundergarten verirrt hat und in blinder Hast die zarten Zauberblumen rücksichtslos zertritt … Nun, wie das zuweilen so im Leben vorkommt. Im Eheleben.«

»Hm. Die unverstandene Frau also?«

»Das wohl nicht. Sie liebten einander herzlich. Jedes auf seine Art. Aber seine sehr burschikose Art verletzte sie oft. Er war, bevor er die Fabrik übernahm, Korpsstudent gewesen: und Korpsstudent blieb er eben immer. Er zechte gern und viel – es kam deshalb zu Vorstellungen, schließlich zu einer tiefen Verstimmung, die ihn mehr und mehr aus dem Hause trieb. Und in der Nacht nach ihrem letzten leidenschaftlichen Streit, als er aus fröhlichem Kreis hektisch-fröhlich heimkehrte, traf ihn auf der Treppe ein Herzschlag. Die beiden Menschen schieden so im Groll voneinander – wie ein grausamer Zufall es eben fügte. Darüber kam das arme Weib nicht hinweg. Ich hatte das erst nach und nach erfahren, Stück um Stück. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren sah sie das Leben so grau, so trostlos grau vor sich. – Und in ihr tiefes Leid hinein, das mich rührte, ohne daß ich Trost dafür fand, fiel dieser plump aus der Luft gegriffene Verdacht. Der brachte da alles, was gut in mir war, zum Aufruhr.«

Jutta war in Sinnen versunken. Sie befand sich nicht mehr in Kairo, sie sah nicht mehr die Palmen vor dem Fenster: vor ihrem inneren Auge gewann das stille Herzensdrama dieser jungen blonden Frau mehr und mehr Gestalt.

»Wo ist sie jetzt?« fragte sie dann.

»Ich weiß nicht.«

»Sie sind ihr später nie wieder begegnet?«

»Nie.«

»Weshalb nicht?«

»Es ging mir schlecht, gnädige Frau, sozusagen miserabel. Ich hatte im Gefängnis gesessen – ich war bettelarm, ohne Stellung, ohne Beruf, ohne Aussichten – und sie war reich.«

»Aber Sie liebten sie doch? – Und sie liebte Sie vielleicht auch?«

»O ja, sie war mir gut gewesen. Bis zu dem Abend. Aber darüber wäre sie doch nie hinweggekommen, daß die Schuld, für die ich im Gefängnis gesessen hatte, eine solche Gewalttat war – nun ja, ich will's ehrlich zugeben, eine Brutalität.«

»Wenn sie den Beweggrund erfuhr, der Sie dazu getrieben hat?«

»Hätt' ich ihr ja doch nicht verraten.«

»Aber die andern, die Zeugen. Es hat ihr nie jemand eine Andeutung gemacht?«

»Sie verkehrte in den Kreisen nicht. Und ich hab mich hernach nicht wieder nach der Garnison gewagt.«

»Sie wissen auch nicht, wo sie jetzt lebt?«

»Nein. Ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebt.«

»Und es interessiert Sie auch nicht?«

»Es ist ein Riß in meinem Leben, gnädige Frau. Ueber diesen Riß gibt es keine Verbindung, keine Brücke.«

»Denken Sie auch gar nicht mehr an die Zeit vorher?«

»O gewiß. Aber dann bin ich nicht der, der ich heute bin. Dann seh ich mich nur als den, der ich damals war: der naive, warmherzige, ein bißchen schwärmerische und dabei draufgängerisch-fröhliche Bursch.«

»Ich meine, Herr von Succo, es ist schade um den.«

»Es hat ihm keiner eine Träne nachgeweint.«

»So. Das glauben Sie? – Die eigene Mutter?!«

»Die hat ihrem Taugenichts, als der obdachlos in Antwerpen saß und auf der Werft Handlangerdienste tun mußte, mit keiner Silbe auf seine herzzerreißenden Briefe geantwortet.«

»Vielleicht – hat sie diese Briefe – nie empfangen?!«

Ein paar Sekunden hing er nur dem Klang dieser Worte nach. Dann wandte er ihr bestürzt sein Antlitz zu. »Wie denken Sie sich das?«

Es ging ein leichter Schauer über sie hin: der Verdacht war so urplötzlich in ihr aufgetaucht, sie wußte gar nicht, wie sie dazu gekommen war.

»Gnädige Frau – weshalb haben Sie vorhin da drinnen – als Sie die Karte schrieben … Sie hatten doch eine Absicht damit. Oder etwa nicht?«

»Eine Absicht, über die ich mir selber nicht klar war. Wie das so bei uns Frauen vorkommt. Am meisten war's wohl ein herzliches Mitleid. Ich kann nicht dafür. Ach – Sie verstehen gewiß nicht …«

Hastig griff er nach ihrer Hand und preßte sie. »Doch, ich verstehe.«

»Aber Sie sollen nicht falsch verstehen … Ich habe ja gar keinen Anhalt für einen Verdacht … Es ist mir nur so unbegreiflich: die weichherzige, stille, immer gerührte Tante Eveline –!«

»Ich bitte Sie nur noch um eins, gnädige Frau. – Lassen Sie mir die Karte.«

»Sie wollen die Adresse?«

»Ja. Und eine sichtbare Erinnerung an diese Stunde.«

»Sie würden sie sonst vergessen?«

»Nein. Aber vielleicht nicht daran glauben.«

Nun lachte sie leise und gab ihm die Karte. »Sie sind nicht verwöhnt – So, nehmen Sie. – Vorhin haben Sie über mich gespottet – über die weibliche Manie, Frieden vermitteln zu wollen.«

»Ich tu's nicht mehr.«

»Aber danken sollen Sie mir nicht. Es ist ein zu niederziehendes Gefühl, wenn andere einen für ›edel‹ halten. Ueberhaupt bin ich dafür viel zu kampflustig.«

Er merkte, daß sie möglichst ohne jede Sentimentalität das Gespräch beenden und sich von ihm verabschieden wollte.

Es kam aber überhaupt nicht zu einem rechten Abschied. Sie sah durch die offene Tür des Schreibsalons plötzlich Herrn von Stangenberg herankommen. Flüchtig – wenn auch freundlich – nickte sie dem ›Aegypter‹ also zu, und gleich darauf war sie an der Seite des Rittmeisters.

»Wir machen seit fünf Minuten eine Razzia durchs ganze Hotel, Ihr Gatte und ich. Der Wagen ist da, das heißt, es ist ein Automobil.«

Sie schritt flott neben ihm der Halle zu, er wandte sich unterwegs aber doch ein paarmal nach dem Fensterplatz am Ende des Ganges um.

»Ich hatte inzwischen eine sehr interessante Unterhaltung,« sagte sie, da sie's bemerkte, fast herausfordernd. »Ist's denn schon drei Uhr?«

»Drei Uhr vorüber.«

Am Ende des Korridors blieb er stehen, wiederum nach dem Fenster zurückblickend. »Ich weiß, mit wem Sie diese interessante Unterhaltung gehabt haben.«

»Das sagen Sie so dramatisch, Herr von Stangenberg. Und warum kommen Sie nicht mit, wenn es so eilt? Warum machen Sie mit einemmal halt?«

»Das ist doch Fritz von Succo – der dort am Fenster?!«

Er hatte dabei eine Miene aufgesetzt, als ob er erwartete, sie würde schuldbewußt zusammenfahren. Das ärgerte sie. Hochmütig blickte sie ihn an.

»Ja.«

»Sie haben auch schon an Bord mit ihm verkehrt … Es ist aufgefallen, mehrfach.«

»So.«

Er fixierte sie, ein Auge zusammenkneifend. Zögernd sagte er: »Sie sind doch eine ganz überraschend unternehmungslustige kleine Frau.«

»Merken Sie das jetzt erst?« Sie wandte sich zum Gehen, ärgerlich über den flammenden Blick, den er ihr zuwarf. Er wollte sie zurückhalten, aber sie schüttelte heftig den Kopf, lachte trotzig auf und begab sich raschen Schritts auf die Terrasse.

Ihr Mann geleitete soeben das Gepäck zu dem Gefährt, das auf der Straße hielt. Drei Araber, der Hall-Porter, der Wagen-Manager, ein Hotel-Sekretär, ein Groom und ein Kawasse bildeten Spalier, als sie sich näherte. Vor den Fremden – auch vor all den Zuschauern auf der Terrasse – konnte er ihr keine Vorwürfe über ihre Verspätung machen. Er war auch durch das Trinkgeldverteilen in Anspruch genommen.

Am Trittbrett fand der Abschied von Stangenberg statt. Der Rittmeister beugte sich auf ihren Handschuh nieder, drehte ihre Hand aber blitzgeschwind um und küßte sie auf die Innenfläche – in den kreisrunden Ausschnitt ihres Handschuhs. Rasch entzog sie ihm ihre Finger, über seine wachsende Vertraulichkeit empört.

Als das Automobil davonrollte, blieb er auf der Freitreppe stehen und winkte ihnen nach. Sie bemerkte einen überlegenen, dabei lauernden Ausdruck in seiner Miene.


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