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Der Jubilar

(1911)

Am gewohnten Tage zur gewohnten Abendstunde trat der Medizinalrath bei seiner alten Freundin ein, blieb aber mit einem Ausruf der Überraschung an der Schwelle stehen.

Das schöne, behagliche Zimmer strahlte in ungewohntem Glanze, außer der Lampe auf dem Theetisch brannten die drei Flammen des Kronleuchters, um den Armsessel, auf dem der alte Herr zu sitzen pflegte, war ein Blumengewinde geschlungen, und die Herrin des Hauses trug ein Kleid von violetter Seide und die Diamantbroche, die nur bei großen Gelegenheiten zum Vorschein kam.

Der Tausend! rief der Eingetretene, hier sieht's ja so feierlich aus, daß ich mit meinem Alltagsrock gar nicht hineinpasse. Sie scheinen bei festlich beleuchtetem Hause große Gesellschaft zu erwarten, liebe Freundin, und hätten mich warnen sollen, daß Sie dergleichen vorhätten. Ich hätte mich dann mit Zahnweh entschuldigen lassen, obwohl mein letzter Zahn mich vor acht Tagen böslich verlassen hat. Ha, nun seh' ich, daß auch mein Stuhl große Toilette gemacht hat. Also auf mich ist's abgesehn, ich soll der Held des Abends sein? Aber theuerste Freundin, Sie kennen mich doch, Sie wissen –

Daß Ihnen nichts so zuwider ist, wie gefeiert zu werden, ja wohl, theurer Freund, und Sie können sich auch nicht beklagen, daß ich in den dreißig Jahren unsrer alten Freundschaft Ihnen jemals mit dergleichen lästig gefallen wäre. Habe ich Ihnen an irgend einem Ihrer Geburtstage auch nur die kleinste Bescherung ins Haus geschickt, höchstens einen Blumenstrauß und keine überflüssige Handarbeit? Aber jede Regel hat ihre Ausnahme, und ein siebzigster Geburtstag kommt im Leben nur einmal, und keine Macht der Welt, nicht einmal die Drohung Ihrer allerhöchsten Ungnade hätte mich abhalten können, diesen Vorabend Ihres Jubiläums, der noch dazu auf unsern gewohnten Schachabend fällt, ein bischen zu feiern. Fürchten Sie nichts, es ist kein Sängerquartett nebenan versteckt, das plötzlich mit einem Festgruß über Sie hereinbrechen würde, oder die kleine Tochter meiner Hausfrau würde in weißem Kleidchen vor Sie hintreten und ein Gedicht declamieren, das ich eigens für Sie verfaßt hätte, und worin ich Ihnen mittheilte, daß Sie ein Wohlthäter der Menschheit sind und mein bester Freund. Die längste Rede, die Sie zu hören bekommen, ist diese, die ich so eben gehalten habe, und die in den Wunsch ausklingt, daß Gott Sie noch lange, lange erhalten möge! Aber nein, ganz so billig kommen Sie doch nicht davon! Da habe ich Ihnen sogar etwas gearbeitet, zum ersten Mal in dreißig Jahren. Es ist nur eine schlichte Wagendecke, sehn Sie; ich weiß, Sie lieben dies Amaranthroth, und die kleinen Lorbeerblättchen, die ich um Ihre Namenschiffre gestickt habe, werden Sie auch nicht genieren. Eins aber hab' ich unterlassen. Da Sie wissen, daß ich als Collegin des großen Dichters Heinz Martersteig in meinen dummen jungen Jahren Verse gemacht habe, wandelt mich noch zuweilen eine poetische Versuchung an, und so wollte ich wahrhaftig zuerst den Vers in die Decke sticken:

Helfen soll sie, mir den alten
Freund auch ferner warm zu halten.

Dann habe ich es aber doch klugerweise unterlassen. So was wird auf die Länge so fade und abschmeckig, wie ein altgewordenes Confect. Und nun nehmen Sie mein Präsent sans phrase und decken sich's über die Füße, wenn Sie in kalten Tagen zu Ihren Patienten fahren.

Sie nahm die schöne tiefrothe Decke von einem Stuhl und hielt sie ihm hin, mit Händen, die vor innerer Rührung ein wenig zitterten, während in ihre hellen Augen eine schimmernde Feuchte getreten war. Auch er stand in mühsam verhaltener Bewegung ihr gegenüber.

Liebste Frau Julie, sagte er endlich, Sie müssen mich schon entschuldigen, wenn ich aus meinem Herzen eine Mördergrube mache. Ich bin ja kein Dichter und nie bei Heinz Martersteig in die Schule gegangen. Aber eine so ungewöhnliche Liebe und Güte, wie mir hier zu Theil wird, berechtigt wohl zu einer ungewöhnlichen Kühnheit, und so müssen Sie sich's gefallen lassen, daß ich meinen Dank auf eine symbolische Art ausspreche.

Damit umfing er die liebe Frau und küßte sie herzlich dreimal auf Mund und Wangen.

Dann, während sie tief erröthet war, da er ihr sonst nur die Hand zu küssen pflegte, nahm er ihr das schöne Geschenk aus den Händen, hielt es gegen die Hängelampe und betrachtete es lange von allen Seiten.

Es ist wunderschön! sagte er. Nur schade, daß ich es nicht in Gebrauch nehmen kann.

Sie sah ihn bestürzt an.

Ja, liebe Freundin, fuhr er lächelnd fort, wenigstens nicht zu dem Zwecke, den Sie im Auge gehabt haben. Denn von morgen an werde ich nicht mehr zu meinen Patienten fahren. Ich habe mich entschlossen, meine Praxis aufzugeben.

Unmöglich kann das Ihr Ernst sein! rief sie kopfschüttelnd. Wie sollten Sie's übers Herz bringen, so lange Sie am Leben sind –

Das ist es eben, versetzte er, ernst vor sich hin blickend – wenn man wirklich immer am Leben bliebe, so lange man noch athmet und den Wunsch hat, anderen Leuten zu helfen. Aber meine Mutter pflegte zu sagen: Man kommt so stückweise um sich, und sie hatte leider Recht. Sehen Sie, schon seit einem halben Jahr spüre ich, daß mein Gehör nachläßt. Meine Augen thun mir nicht mehr wie sonst den Dienst, auch wenn ich die schärfste Brille aufsetze. Und ein Arzt, den die wichtigsten Sinne nach und nach im Stich lassen, kann nicht mehr mit gutem Gewissen seinen Beruf ausüben. Ich habe mich neulich geschämt, als ich am Bett eines jungen Mädchens, das eine sehr leise Stimme hatte, dreimal bitten mußte, etwas lauter zu sprechen, und die Herztöne durch das Stethoskop deutlich zu hören, kostet mich eine Anstrengung. Da ist es besser, freiwillig zu resignieren und Jüngeren das Feld zu räumen, nur allenfalls einer alten Freundin noch ein Recept zu verschreiben, wenn sie einen Bronchialkatarrh hat.

Eine Pause trat ein. Er ging nachdenklich durchs Zimmer, in seinem noch immer dichten grauen Haar wühlend, während sie die Decke sorgfältig zusammenfaltete und auf das Klavier legte. Dann sagte sie: Sie werden's nicht aushalten, lieber Freund! Ein Mann, der so an unermüdliche Thätigkeit gewöhnt ist – und man wird Sie auch nicht loslassen, in jedem ernsten Fall Ihren Rath einholen wollen –

O, erwiderte er, das brauch' ich mir nicht gefallen zu lassen. Ich muß Ihnen nur gestehen, daß ich mir selbst zu dem morgigen Geburtstage etwas beschert habe, was mich dagegen schützt, meinem Vorsatz untreu zu werden. Sie entsinnen sich der Villa des Commercienraths Braunfels in Friedenheim, die wir uns einmal zusammen angesehen haben, als wir die Landpartie dorthin gemacht hatten und das Gewitter uns überraschte. Er lud uns freundlich ein, das Wetter bei ihm abzuwarten, wir kannten ihn ja Beide oberflächlich. Haus und Garten gefielen Ihnen ungemein, als er uns sehr stolz als glücklicher Besitzer herumführte. Nun, vor Jahr und Tag hat es mit seinem spero invidiam bekanntlich ein trübseliges Ende genommen. Bei dem schweren Bankerott mußte auch die Villa zur Masse kommen, und da habe ich sie in der Versteigerung erstanden. –

Nein, solche Überraschung! rief die kleine Frau. Und davon höre ich heute das erste Wort! O Sie heimtückischer Freund!

Ich wollte Sie erst damit überraschen, wenn Alles fertig wäre, bis auf die letzte Hand an der innern Ausstattung. Das ist nun geschehen. Nur den Garten habe ich mir noch vorbehalten. Da will ich nun meine botanischen Liebhabereien pflegen und, wie es einem Menschen ziemt, der sein eigentliches Geschäft aufgegeben hat, meinen Kohl pflanzen, trotz jenem alten römischen Feldherrn. Zweifeln Sie noch, daß ich für den Rest meiner Tage Beschäftigung genug haben werde?

Die kleine Frau gab ihm die Hand.

Dann gratuliere ich von Herzen, lieber Freund. Es ist wahr, Sie konnten keine bessere Wahl treffen. Doch hoff' ich, Sie werden uns darum nicht ganz untreu und geben Ihre Wohnung in der Stadt nicht auf wegen dieses schönen Sommerasyls. Zum Glück ist Friedenau ja auch nur eine kleine Stunde von uns entfernt.

Ihnen untreu werden? rief der alte Herr. Das brächt' ich nicht zu Stande, auch abgesehen von unserer Schachpartie. Und wo sollt' ich meine Bibliothek unterbringen? Nein, meine Stadtwohnung behalt' ich, schon für die härteste Winterzeit. Aber nun hätt' ich noch eine Bitte: ich möchte diesen Jubelgeburtstag in aller Stille verleben. Schon heute kam ein Vorspiel, das mich schaudern machte, eine Masse verfrühter Briefe und Telegramme, und an die Lawine, die morgen über mich hereinbrechen wird, die Gratulationen guter Freunde und Bekannten, verschiedene Deputationen von Behörden und Vereinen, denen man in möglichst zierlicher Rede danken muß, Blumen, Geschenke – dem allen Stand zu halten, reichen meine siebzigjährigen Nerven nicht aus. Hinter meinem Rücken gefeiert zu werden, kann ich mir allenfalls gefallen lassen. Aber ins Angesicht, das verlegene Lächeln der Dankbarkeit und Bescheidenheit auf den Lippen – das wäre das richtige Mittel, alle guten Wünsche ad multos annos zu Schanden zu machen. Nein, liebste Frau Julie, ich muß mich aus dem Staube machen, und Sie müssen mich begleiten.

Ich? Wo denken Sie hin! Werden Ihre Kinder nicht kommen, den Tag mit Ihnen zu feiern?

Die sind sämmtlich verhindert, mein Bernhard, der Major, im Manoeuvre, meine Cläre bei ihrer Tochter, die mir, wie Sie wissen, einen Urenkel beschert hat und eben aus dem Wochenbett aufgestanden ist, und Franz, mein Jüngster, schwimmt noch auf offner See gen Argentinien, wo ich ihm eine Farm gekauft habe. Ich habe Niemand, um im Stillen auf meine Gesundheit mit mir anzustoßen als Sie, und wenn ich morgen Ihre schöne Decke einweihe auf einer fröhlichen Fahrt nach meiner Villa, müssen Sie durchaus mit mir unter Einer Decke stecken, um dem Tumult hier zu entwischen. Ich nehme durchaus keine Einrede an. So gegen neun Uhr früh, ehe der Tumult losbricht, hole ich Sie im Wagen ab, wir haben das schönste Wetter, und wenn das Festmahl draußen im Wirthshaus auch nur bescheiden sein wird, ein Fläschchen Sekt nehm' ich mit. Da ist meine Hand, legen Sie Ihr weißes Patschchen hinein zur Besiegelung unsrer Verschwörung!

Einem Geburtstagskinde muß man schon den Willen thun, sagte sie lächelnd. Wenn es aber herauskommt, müssen Sie mich gegen die Rache Ihrer sämtlichen Patientinnen schützen, die sich vorgenommen hatten, Sie morgen unter Blumen zu ersticken, und nun mir Todfeindschaft schwören werden, weil ich es vereitelt hätte.

*

Am nächsten Morgen geschah Alles, wie verabredet war.

Um neun Uhr hielt der offene Wagen des Medizinalraths mit den zwei feurigen Braunen vor dem Hause der Professorin, die schon oben am Fenster nach ihm ausgeschaut hatte, um sogleich hinunterzueilen und dem alten Freunde die Treppe zu ersparen. Sie hatte eine sehr hübsche herbstliche Toilette gemacht und eine kleine Aster in den Gürtel gesteckt, die sie aber sogleich ihm für sein Knopfloch aufdrängte. Ihr feines Gesicht war von der frischen Morgenluft so belebt, daß Niemand ihr die fünfundsechzig Jahre angesehen hätte. Auch duldete sie nicht, daß der fünf Jahr Ältere ihr die Decke über die Füße breitete, sondern schob sie auf seine Kniee hinüber. So fuhren sie in der heitersten Stimmung aus der Stadt.

Als sie die letzten Häuser hinter sich hatten und nun unter den schon gelbschimmernden Bäumen der breiten Straße dahinrollten, saßen sie eine Weile schweigend neben einander, in so träumerischem Wohlgefühl, wie es den Menschen immer überkommt, der nach langem Ausharren im Staub und Lärm der Stadt wieder den reinen Hauch der freien Natur athmet. Die Gegend war ohne malerischen Reiz, große Wiesen- und Ackerflächen zu den Seiten eines rasch hinfließenden Stromes, ein paar Gehöfte mit ihrer bäuerlichen Umgebung, erst weiter hinaus ein lichter Wald, jetzt schon in den Herbstfarben. Das Alles aber unter einem leuchtenden Himmel, über den zarte weiße Wölkchen hinzogen, von einem spielenden Windhauch getrieben.

Dann brach der alte Herr das Schweigen, mehr wie wenn er zu sich selbst spräche, und ließ den Blick zurückschweifen über sein langes, an Glück und Leid, Hoffnungen und Täuschungen reiches Leben, und wie das Wort des Alten in Weimar eine tiefe Wahrheit habe: Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle. Nur daß diese Fülle den Alten nicht mehr so beglücke, wie er sich's in der Jugend geträumt habe. Und in Einem Punkt lasse auch jenes weise Sprüchlein den Menschen im Stich: Was ein strebender junger Geist vom fortgeschrittenen Alter erhofft habe, eine klarere Erkenntniß der Lebens- und Welträthsel, erfülle sich nicht, die Probleme wichen in immer tiefere Dämmerung zurück, und der Weisheit letzter Spruch bleibe die sokratische Resignation: Wir wissen eben nur, daß wir Nichts wissen.

Aber ums Himmels willen, rief er endlich, was fällt mir denn ein, liebste Freundin, dergleichen melancholische Betrachtungen vor Ihnen auszukramen, statt Gott zu danken, daß er mir noch vergönnt hat, ein solches Jubelfest zu feiern, unter vier Augen mit meiner theuersten alten Freundin! Verzeihen Sie dem alten Junggesellen, dem es zuweilen passiert, am unrechten Orte laut zu denken. Zum Glück sind wir endlich am Ziel. Dort zwischen den Linden liegt unser Häuschen, und da seh' ich auch die alte Frau, die Mutter des Gasthofbesitzers, die ich von unserm Kommen benachrichtigt habe, damit sie die Zimmer ein wenig lüftet. Guten Tag, Frau Brand! Da sind wir!

*

Die Villa, vor der sie ausstiegen, lag sehr anmuthig durch einen kleinen Vorgarten von der Landstraße getrennt, während hinter ihr der eigentliche Garten sich bis zu dem niederen Hügelrücken ausbreitete, der die ganze Villenkolonie mit feinem Eichenwäldchen gegen den Westwind beschirmte.

Der Medizinalrath nahm der sehr unterwürfigen Alten den Schlüssel ab, gab ihr in Betreff des Mittagessens einige Befehle und entließ sie, während der Kutscher keiner Anweisung bedurfte, um nach dem Gasthof zu fahren und seine Pferde dort im Stall einzustellen.

Und nun wollen wir die Geburtstagsbescherung näher in Augenschein nehmen, sagte der Alte und bot der Freundin den Arm. Ich hoffe, sie soll Ihren Beifall haben.

Das Haus, in das sie eintraten, war von mäßiger Größe und unterschied sich von den Nachbarvillen nur durch ein hohes Louvredach, in dem sich die Fenster einiger Mansarden öffneten. Im Souterrain Küche und Wirthschaftsräume, im Hochparterre neben dem lustigen Speisesaal ein kleiner Salon, ferner ein Badezimmer und ein paar Kammern für die Dienstboten, im oberen Stock, an dem nach drei Seiten ein Balkon vorsprang, Wohn- und Schlafzimmer und ein paar Zimmer für Gäste. Das Alles war hell und hübsch, doch noch nicht weiter ausgestattet, als mit Betten und den nöthigsten Möbeln, aus hellem Eichen- oder Nußbaumholz.

Ich habe das Mobiliar des Commercienraths nicht mitgekauft, sagte der Medizinalrath, als er Frau Julie herumführte. Es war alles viel zu protzig für ein Landhaus, überall Plüsch und schwere Perserteppiche. Nur das Gröbste an Einrichtung wollte ich selbst besorgen, das Übrige, was noch fehlt, überlasse ich Jemand, der mehr Geschmack hat, als ich. Aber nun kommen Sie unters Dach hinaus, Sie müssen noch die Wohnung des Hausmeisters sehen.

Er ging voran, die schmale Treppe hinaus, und öffnete die Thür eines nicht sehr hohen, aber geräumigen Zimmers, das schon fertig eingerichtet war, wie auch ein zweites daneben, offenbar zum Schlafzimmer bestimmt. Im Wohnzimmer neben dem breiten Fenster stand ein Schreibtisch, an der Wand gegenüber ein Bücherschrank mit schön gebundenen Büchern angefüllt, ein Ruhebett und ein Rauchtischchen davor.

Hier läßt sich gemüthlich hausen, nicht wahr, liebe Freundin? Und daß der Ofen seine Schuldigkeit thut, hab' ich bereits ausprobiert.

Sie ließ die Augen erstaunt an den Wänden herumgehen, an denen schon ein paar Bilder hingen, Porträts von Männern der Wissenschaft und ein paar Stiche nach Claude Lorrain, während im ganzen Hause sonst kein Wandschmuck zu sehen war.

Und hier – hier soll der Hausmeister wohnen? fragte sie kopfschüttelnd. Sie scherzen, lieber Freund!

Ich mein' es in vollem Ernst, das heißt, wenn man es ihm gütigst erlaubt. Nebenan ist noch eine Kammer für meinen alten Johann.

Aber erklären Sie mir – Sie wollen wirklich – Sie selbst? Und das schöne große Schlafzimmer unten und alles Übrige –

Ist für Sie bestimmt, für die gnädige Herrin des Hauses, der ich gestern durch eine feierliche Schenkungsurkunde diese Villa Julia verschrieben habe, mit der einen Bedingung, daß sie mir bis ans Ende meines Lebens hier oben freie Wohnung gewährt, was sie hoffentlich thun wird, da ich ein stiller Miether bin, nicht Klavier spiele und nur einen Hund mitbringe, der keinen Spektakel macht, weil er so alt ist wie sein Herr.

Sie sah ihn sprachlos an. Ihr feines Gesicht war ganz blaß geworden.

Nein, nein! stammelte sie endlich. Das kann nur ein Scherz sein, oder gar nur ein Traum. Wie käme ich denn dazu? Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft, aber ein so fürstliches – Sie halten mich nur zum besten – Sie wollen sehn, ob ich wirklich so leichtgläubig bin – oh, ich hatte mich darauf gefreut, zuweilen hier Ihr Sommergast zu sein, aber das – das – was würde die Welt dazu sagen, und vollends – Ihre Kinder!

Sie war auf das Ruhebett gesunken und starrte wie von einem großen Unglück betroffen vor sich hin.

Liebste Giulietta, sagte er herzlich, seien Sie vernünftig. Was die Welt dazu sagen wird – was soll uns das kümmern, wenn wir nicht danach hinhören? Hat sie sich nicht daran gewöhnt, daß ich zwanzig Jahre lang Ihren Thee getrunken und Ihrem König Schach geboten habe? Und meine Kinder, die Alles erben, was ich hinterlasse – wenn eins von ihnen nur eine Miene verziehen sollte bei der Nachricht, daß ich dies Häuschen Ihnen zu einer Art Wittwensitz geschenkt habe, würde er aufs Pflichttheil gesetzt. Aber davor bin ich sicher. Sie lieben Sie ja alle und danken Ihnen für die treue Freundschaft, die Sie dem einsamen alten Papa so lange schon bewiesen haben. Überhaupt, könnten Sie nicht längst meine Frau sein? Daß Sie es nicht geworden sind, hing nur an einem Haar.

Er hielt einen Augenblick inne. Es war ihm anzumerken, daß es ihn doch eine Überwindung kostete, ihr das lang Verschwiegene endlich zu beichten.

Ja, nur an einem Haar, sagte er. Denn Sie sollen nun wissen, daß ich wahrhaftig einmal vor zwanzig Jahren die Kühnheit hatte, Ihnen meine Hand antragen zu wollen, da Sie mein Herz längst besaßen. Sie waren seit drei Jahren Wittwe, meine gute Frau seit fünf Jahren todt. Welcher Schatz von Liebe und Güte und allen weiblichen Tugenden in Ihrer lieblichen Person verborgen lag, hatte ich in der letzten Krankheit Ihres theuren Mannes gesehen, wo Sie Tag und Nacht nicht von seinem Bette wichen. Und als Sie ihn nun verloren hatten, wie rührte mich Ihre Trauer, die Sie doch mit so edler Fassung trugen, da Sie Ihr Leben noch Ihren Kindern schuldig waren – und Ihren Freunden. Ich wußte, daß ich unter diesen nicht der letzte war, und daß auch Sie mich dafür anerkannten. Und wie dann die Jahre vergingen, und Ihre Augen wurden wieder heller, Ihre Töchter verheiratheten sich, es kamen liebe Enkel, Sie aber blieben allein – war mir's zu verdenken, daß ich dachte, ich könne Ihnen mehr werden, als der Treueste Ihrer Verehrer? Nun, da faßte ich mir wirklich eines Morgens ein Herz, dachte zwar: Mönchlein, du gehst einen schweren Gang! ging ihn aber doch so tapfer, wie der Doktor Luther und ließ mich bei Ihnen melden. Gesteh' ich's nur: so halsbrechend die Sache war, im Stillen fürchtete ich nicht, mit einem Korbe abziehn zu müssen. Sie hatten in der letzten Zeit mir zu viel Beweise gegeben, daß ich Ihnen sehr werth geworden war.

Also betrat ich entschlossen Ihr Zimmer, das kleine Boudoir, in das ich sonst nicht zu kommen pflegte. Sie waren zu dieser Stunde noch nicht fertig angekleidet. Wie ich nun in dem Zimmerchen mich umschaue und mein Blick zufällig auf Ihren Schreibtisch fällt, bleibt er an der letzten Photographie Ihres Mannes hängen, die Sie dort stehen hatten. Sie war ziemlich groß und sehr ähnlich. Doch auf dem ernsten Gesicht lag schon der Zug des Leidens, der nach wenigen Monaten sein Ende herbeiführte, daneben all die Charakterstärke, mit der er es trug. Und da – da überfiel es mich plötzlich mit Gewalt, was ich so lange in mir durchgekämpft hatte und endlich glaubte überwunden zu haben: der furchtbare Gedanke, daß ich vielleicht an seinem frühen Tode schuld gewesen sei.

Ein schwerer Seufzer entrang sich seiner Brust. Er mußte ein wenig innehalten, sich zu sammeln.

O liebe Freundin, fuhr er dann mühsam fort, Sie wissen, wie theuer er mir war, wie bitteren Schmerz ich empfand, als er so schwer erkrankte – Sie wissen es, oder glauben doch meiner Versicherung, daß ich Alles darum gegeben hätte, ihn retten zu können. Und nun stellen Sie sich vor, welch ein Schlag es für mich war, als ich bei der Section erkannte, daß meine Diagnose falsch gewesen war, daß er an einem anderen Übel litt, auch einem überaus schweren, für das es aber andere Mittel gab, als die ich angewendet hatte und die – vielleicht! – noch eine Genesung bewirkt oder ihm wenigstens noch auf einige Jahre das Leben gefristet hätten, bis zur Vollendung seines großen Werks, das sein leidenschaftlichster Wunsch war.

Er wandte sich ab und trat ans Fenster, wo er eine Weile schweigend verharrte, die Stirn gegen die Scheibe gedrückt. Dann, sich wieder zu ihr wendend, die keinen Laut von sich gab: Ich habe lange gebraucht, bis ich den Muth fand, Ihnen wieder ins Gesicht zu sehn. Ich sagte mir ja, daß Irren menschlich sei, daß ein ungewolltes Vergehen nicht Strafe verdiene, daß die bitterste Reue Geschehenes nicht ungeschehen machen könne. Und wie würde es jemals einen Arzt geben, wenn er ein Examen der Unfehlbarkeit bestehen müßte! Nun, in drei Jahren schlummert das empfindlichste Gewissen ein. Aber an jenem Morgen, wo ich Ihr Zimmer auf Freiersfüßen betreten hatte, wurde es auf einmal unsanft aufgeweckt. Nein, die Frau, der ich ihren geliebten Mann entrissen hatte, durfte ich nie und nimmer zu der meinen machen, oder der Schatten des Entschlafenen würde Nacht für Nacht zwischen sie und mich treten! Und da traten Sie ein, schön wie der junge Morgen, und fragten erstaunt, was mich zu so früher Stunde zu Ihnen geführt, und ich fabelte verwirrt etwas zusammen, Ihr Aussehn habe mir gestern nicht gefallen, ich hätte nur nachsehen wollen, wie Sie die Nacht geschlafen hätten, und bäte mir Ihren Puls aus, und so weiter.

Und dann küßte ich Ihnen die Hand und schlich davon wie ein Dieb, der in ein Heiligthum hatte einbrechen wollen und, noch zur rechten Zeit ertappt, sich aus dem Staube gemacht hätte.

*

Sie hatte ihn, während ihre Augen beständig leise überflossen, reden lassen. Nun setzte er sich neben sie, streichelte sanft ihre zitternden Hände, die auf ihrem Schooße lagen, und sagte leise: Ich weiß, Sie werden mir nach diesem schweren Bekenntniß Ihre Freundschaft nicht entziehen. Und Sie begreifen nun auch, daß es mich glücklich machen würde, wenn ich irgend etwas thun könnte, Ihnen einmal eine recht herzliche Freude zu bereiten. Aber ich will Sie nicht überrumpeln. Ob Sie mir erlauben wollen, mich für das bischen Lebensrest, das mir noch bleibt, unter Ihren Schutz zu begeben, und selbst Freude darin finden, müssen Sie überlegen und Bedenkzeit dazu haben, je kürzer je besser. Vielleicht können Sie mir schon heut Abend sagen, ob Sie wünschen, daß der Notar die Schenkungsurkunde mit Stempel und Siegel rechtskräftig machen, oder verbrennen soll. Und nun kommen Sie hinaus auf diesem engen Gemach; wir wollen vor Tisch noch ein wenig ins Freie. Ich zeigte Ihnen gern, wie hübsch es in diesem weltentrückten Erdenwinkel ist, den Sie noch zu flüchtig kennen gelernt haben.

Damit bot er ihr den Arm und ließ sie dann wieder das Treppchen hinuntergehen. Noch immer vermochte sie nicht zu sprechen. Eine stille Wehmuth lag auf ihren Zügen, als sie die kleinen Wege hinter den Häusern gingen, zu den Hügeln hinaufstiegen und sich endlich nach dem Gasthof wandten, wo das Essen schon auf sie wartete. Auch hier sprachen sie nicht viel mit einander, da der Wirth, der sein Bestes gethan hatte, den verehrten Gästen sein Haus zu empfehlen, es auch für seine Pflicht hielt, sie zu unterhalten.

Als er dann den Sekt im Eiskühler entkorkt hatte und die Herrschaften allein ließ, schenkte der Jubilar die Gläser voll, berührte das seiner Freundin mit dem seinen und sagte, ihr lächelnd zunickend: Ad multos annos! Ich meine es ganz im Ernst, Theuerste. In meinem Hausmeisterstübchen denke ich's noch eine gute Weile weiterzutreiben und vielleicht noch ein Buch zu Stande zu bringen, nicht über die Welträthsel, sondern ganz bescheiden über einige dunkle Probleme der Psychologie, an denen ich lange schon herumgesonnen. Und dann – Sie müssen mir versprechen, keinen besonderen Gärtner zu engagieren, sondern dies Geschäft mir und meinem Johann zu überlassen. Ich verdiene mir damit den Miethpreis für mein Quartier in der Villa Julia.

*

Als sie dann vom Tisch aufstanden, nach altem Brauch sich gesegnete Mahlzeit wünschend, sagte der Alte lächelnd: Nun muß ich mich zu meiner Siesta zurückziehen, die ein Jubelgreis sich nicht nehmen lassen darf, auch wenn er damit einem schönen Gast den Beweis liefert, daß er kein Jüngling mehr ist. Ihnen aber möcht' ich rathen, während dessen unter dem Geleit der alten Schließerin in Ihre Villa zu gehn und sie sich vom Keller bis unter das Dach noch einmal anzusehn, um sich darüber zu informieren, was Ihnen darin noch zu wünschen bleibt. Es ist ja Alles nur vorläufig, was ich selbst angeordnet habe, und Sie können das Unterste zu oberst kehren, falls Sie es für gut finden. Bis Sie dann zurückkommen, habe ich ausgeschlafen, wir trinken gemüthlich Kaffee und spielen ein paar Partieen Schach. Denn in diesem vortrefflichen Hause hält der Wirth auch ein Schach- und Damenbrett bereit. So wird es unvermerkt Zeit, an die Rückfahrt zu denken, ohne daß ich noch eine Festüberraschung zu befürchten habe. Denn das Fackelständchen, das meine zahlreichen Schüler aus vielen Jahrgängen mir zu bringen vorhatten, habe ich höflich dankend abgelehnt.

*

Dies vergnügliche Programm wurde nun auch gewissenhaft durchgeführt, und die ersten Sterne zeigten sich schon am Himmel, als der Wagen, der das alte Paar nach der Stadt zurückgebracht hatte, vor dem Hause der Professorin hielt.

Der Medizinalrath sprang mit jugendlicher Behendigkeit hinaus und hob die alte Freundin aus dem Wagen. Unten im Flur des Hauses gab er ihren Arm frei und sagte: Nun müssen wir uns gute Nacht sagen, für mich aber wird es keine gute sein, wenn ich zu Hause den Berg der Briefe und Telegramme und den Gabentempel in meinem Zimmer erblicke. Ich werde mir eine Indigestion an Liebe und Ehre zuziehen, wenn ich all das so gut Gemeinte heut noch auch nur flüchtig betrachte. Es gäbe aber ein Mittel dagegen, wenn ich gleich in mein Schlafzimmer schliche mit einer einzigen, der Hauptliebesgabe dieses Tages: dem Bescheide, daß eine gewisse Urkunde nicht ins Feuer geworfen werden soll. Liebste Frau Julie, wäre es Ihnen nicht möglich, die Bedenkzeit abzukürzen?

Im Flur brannte nur eine einzige schwache Gasflamme, die nicht verrieth, was auf dem durch den Hut verschatteten Gesicht der kleinen Dame zu lesen war. Aber eine vor Bewegung stockende sanfte Stimme sprach: Wenn es wahr ist, mein geliebter Freund, daß es etwas zu Ihrem Glücke beitragen kann, unter Einem Dach mit mir Ihren Lebensabend zu verbringen, wie könnte ich Ihnen versagen, was auch mich so unendlich beglücken wird! Hätte ich Ihnen doch auch vor zwanzig Jahren auf Ihre Frage nur mit Ja antworten können.

O theuerste Julie, rief der alte Herr, indem er die Freundin stürmisch an seine Brust zog, wie soll ich Ihnen für dies Wort je genug danken! Nun fang' ich morgen ein neues Leben an, das mich Tag für Tag verjüngen wird, und wenn ich darüber hundert Jahre alt würde!

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Editorische Hinweise

Plaudereien eines alten Freundespaares (1912)

Gesammelte Werke. Achtundreißigster Band. Novellen. Einundzwanzigster Band.
Vierte Auflage. Berlin und Stuttgart 1914. 274 Seiten.

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