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Altruismus

(1911)

Die Professorin sitzt an dem Sopha vor dem Theetisch, eine Häkelarbeit in Händen. Der Medizinalrath tritt grüßend ein, reicht ihr die Hand und setzt sich in den Lehnstuhl ihr gegenüber. Sie nickt ihm freundlich zu und beginnt gleich, den Thee zu bereiten.

Er. Ich komme etwas spät, verehrte Freundin. Bis zuletzt noch Patienten. Ich bin ganz erschöpft, und eine Tasse Thee wird mich erst wieder zum Leben erwecken.

Sie. Das Wasser wird gleich kochen, lieber Freund. Sie muthen sich auch zu viel zu. Wenn alle Menschen nur halb so gewissenhaft wären und sich ihrer Pflicht opferten – Apropos, was sagen Sie denn zu der neuesten Geschichte, von der seit gestern die ganze Stadt spricht?

Er. Welche Geschichte?

Sie. Nun, daß die schöne Frau Holmberg ihrem Manne durchgegangen ist, mit dem Maler Werner, der, wie man erzählt, sie schon vor der Ehe geliebt hat und volle neun Jahre ihr treu geblieben sein soll.

Er. Was ich dazu sage, liebe Freundin? Nichts Anderes als zu Allem, was in der Natur geschieht: daß es seine Ursachen haben werde, die mit Nothwendigkeit die Folgen herbeiführen mußten, wie das Product zweier chemischen Stoffe, die man in eine Retorte thut.

Sie. Nichts weiter? Ist denn kein Unterschied zwischen einem Stück Holz, das in Brand geräth, wenn man es ins Feuer wirft, und einem Menschen, der doch Herr seiner Handlungen ist und ein moralisches Urtheil herausfordert?

Er. Das in diesem Falle doch wohl sehr milde ausfallen wird. Es ist ja bekannt, daß ihr Mann sie schlecht behandelt und förmlich zur Flucht aus seinem Hause getrieben hat. Die arme Frau, ganz jung an diesen Geldmann verkauft, der ihr nichts zu bieten hatte als Schmuck und schöne Kleider und ein glänzendes Haus, in dem er ihr zuletzt sogar zumuthete, seine Maitressen zu empfangen! Ich dächte, sie war es ihrer Würde schuldig, sich dieser Sklaverei endlich zu entziehen.

Sie. Aber ihr Kind, ihr Knabe von acht Jahren! Daß sie sich von dem trennen konnte! Ich verzeihe es jeder Frau, deren Mann, bloß um den Skandal zu vermeiden, nicht in die Scheidung willigt, daß sie davonläuft, mit oder ohne Geliebten. Wenn aber ein Kind da ist, daß sie das zurückzulassen übers Herz bringt, ohne mütterliche Obhut, in einer Umgebung, wo es das schlechteste Beispiel vor Augen hat und am Ende völlig verdorben wird? Nein, lieber Alles ertragen, sich in seinen Stolz hüllen und mit tapferer Seele fortfahren, seine Mutterpflicht zu erfüllen.

Er. Mutterpflicht! Ein Wort, vor dem ich allen Respekt habe, wenn man nur Unterschiede machen wollte, wann es den Ausschlag geben muß und wann höhere Rücksichten entscheiden!

Sie. Kann es höhere Rücksichten geben, als die Sorge einer Mutter für ihre Kinder?

Er. Gewiß. In diesem Falle zum Beispiel: muß es nicht schädlicher auf so eine junge Seele wirken, den täglichen Zwist und Hader zwischen zwei Eltern, die sich hassen, mit anzusehen, als zu hören, die Mama hat den Papa verlassen? Der Knabe wird es nicht sogleich verstehen, sich aber darein finden, gerade so wie wenn er die Mutter durch den Tod verloren hätte. Ja, für seine Erziehung gewinnt er wohl gar dadurch. Der Vater, dem er zur Last ist – Herr Holmberg ist ja viel auf Reisen und hat seine Geschäfte –, wird ihn in ein Institut geben, wo er ohne häßliche Eindrücke aufwächst, zuweilen seine Mutter sehen und fortfahren kann, sie lieb zu behalten. Aber das ist nun einmal die fixe Idee aller guten Frauen, sie müßten unter allen Umständen den Pelikan spielen und ihr Herzblut opfern für ihre Kleinen – ein übertriebener Altruismus, der oft mehr Unheil als Wohlthat stiftet.

Sie. Steht aber nicht geschrieben, man solle seinen Nächsten lieben wie sich selbst?

Er. Gewiß! Aber auch mehr als sich selbst? Und wenn meinetwegen auch das als ein heiliges Gebot gelten sollte – steckt nicht auch in diesem Ultra-Altruismus stets ein verkappter Egoismus, indem man das Wohl seines Nächsten über das eigne setzt, weil des Andern Wohl und Wehe die Bedingung unseres eignen wäre? eine Mutter zum Beispiel sich nur darum für ihre Kinder opferte, weil sie ein Leben ohne sie nicht ertragen könnte?

Sie. So glauben Sie also nicht an ein ganz interesseloses Opfer, einzig zum Besten eines Andern, an dessen Glück uns übrigens nichts gelegen wäre, das keinen Werth hätte für unser eignes Glück, bloß weil uns das Opfern an sich ein Bedürfniß ist?

Er. Gewiß glaube ich daran, schon deßhalb, weil ich finde, daß manche überspannte Personen eine Art Sport aus der Opferwilligkeit machen und sich selbst für thörichte Zwecke bereitfinden, ihr Alles hinzugeben. Ich spreche nicht von begeisterten frommen Märtyrern beiderlei Geschlechts: bei denen spielt ja immer die Spekulation auf die himmlische Vergeltung mit. Aber in unzähligen Fällen opfern sich gute Menschen einem falschen Pflichtbegriff, ohne zu bedenken, ob dem Wohle des Einzelnen oder der Menschheit damit gedient ist.

Sie. Zum Beispiel?

Er. Nun, wenn ein gesundes Leben einem kranken, unheilbaren geopfert wird, ein nützliches einem unnützen. Von uns berufsmäßigen Samaritern oder unsern barmherzigen Schwestern rede ich nicht. Wir hoffen zu heilen oder das Sterben zu erleichtern, das ist jedes Opfer werth. Aber wie, wenn Kinder als Krüppel zur Welt kommen oder mit einem organischen Fehler behaftet, der ein gesundes Aufwachsen unmöglich macht? denen möglichst rasch wieder aus dem Leben zu helfen eine Wohlthat wäre, die ihnen zu erweisen nur das fünfte Gebot »Du sollst nicht tödten!« uns hindert? Und solche arme, unschuldig zum Leben verurtheilte Wesen werden mit sorgfältigster Pflege ein Weilchen auferzogen, als ob das unzulänglichste Dasein, das schmerzlichste, immer noch werthvoller wäre als das Nichts! Kinderheime werden gegründet mit großen Kosten, die besser angewandt wären, um den Hunger lebenskräftiger Kinder zu stillen, und Pfleger ihnen bestellt, die täglich einen hoffnungslosen Beruf zu erfüllen haben und dadurch einem nützlichen entzogen werden, nur damit die unglücklichen Geschöpfe eine kurze Zeit ihr Dasein fristen, mit dem bitteren Verzicht auf alle Lebensfreuden ihrer Altersgenossen. Der Unsinn geht so weit, daß man Brutanstalten für Siebenmonatskinder gegründet hat, um kein schwaches Fünkchen, das in einem athmenden Geschöpf jemals aufgeblitzt ist, verlöschen zu lassen. Als ob die ohnehin sehr übervölkerte Welt nicht den geringsten Zuwachs entbehren könnte!? Wenn das kein aberwitziger sentimentaler altruistischer Sport ist –!

Sie. Ich denke, man hat das schon wieder aufgegeben?

Er. Behüte! In unsrer christlichen Welt conserviert man sorgfältig dergleichen widersinnige Erfindungen, wie auch die menschenfeindlichsten Gesetze. Ist es nicht ein wahrer Hohn auf das Gebot der Nächstenliebe, daß uns Ärzten nicht gestattet ist, einem in unerträglichen Qualen Ringenden, der unrettbar verloren ist, durch ein mildes Schlafmittel für immer Ruhe zu verschaffen? Soll man nicht, woran Sie selbst erinnert haben, den Nächsten lieben wie sich selbst? Und was man sich selbst zu Liebe thäte: aus der Welt zu gehen, in der man aus irgend einem Grunde nicht mehr athmen kann, das soll man einem Andern versagen, der einem der Theuerste auf Erden ist? Haben wir nicht erst neulich in der Zeitung gelesen, daß ein junger Mann vier Monate Gefängniß bekommen hat, weil er seiner Geliebten, die an einer unheilbaren Krankheit litt und ihn flehentlich um Hülfe bat, eine Kugel ins Herz schoß?

Sie. In diesem Falle glaube auch ich, daß der Staat kein Recht hat, sich einzumischen. Haben doch Beide bei ihrem Handeln ein volles Bewußtsein ihrer Verantwortung gehabt, und wenn die That des Liebenden eine Strafe verdiente – hat er sie nicht selbst über sich genommen, indem er nun sein Lebelang die Erinnerung an jene furchtbare Stunde mit sich herumtragen wird? Ob man aber berechtigt sein kann, Kinder, die man für lebensunfähig hält, aus der Welt zu schaffen –? Ist man denn sicher, sich nicht zu irren? Haben nicht sehr schwächliche Neugeborene, wenn sie eine sorgfältige Pflege erfuhren, wider Erwarten sich zu frohen Menschen entwickelt? Und von einigen sehr bedeutenden Männern weiß man, daß man an ihrem gesunden Auskommen schon verzweifelte!

Er (zuckt die Achseln). Freilich, es wird dabei bleiben, dank unsrer Humanität und sentimentalen Vorurtheile. Wie sich der natürliche Trieb der Nächstenliebe gegenüber dem christlichen dazu verhält, ist eine andre Frage. Die Spartaner –

Sie (lächelnd). Sie wollen mir doch nicht gar das Beispiel dieser alten Barbaren anführen, die krüppelhaft geborene Kinder ins Wasser warfen, nur damit man sicher war, Jünglinge mit recht kräftigen Muskeln heranzuziehen, die Schwertertänze tanzen und große Portionen schwarzer Suppe vertilgen konnten? Auch wir sollten jeder Neugeburt durch einen Doktor nebst der Hebamme ein Zeugniß ausstellen lassen, ob sie das Verbrechen, geboren zu sein, mit dem Tode büßen oder zu lebenslänglichem Gefängniß begnadigt werden solle?

Er. Das ginge natürlich zu weit, liebe Freundin. Aber wenn Sie einmal einen Besuch in einem Asyl für Idioten gemacht haben, wird Ihnen wohl auch der heimliche, wenn auch gleich widerrufene Wunsch gekommen sein, diese unglücklichen Karikaturen des Ebenbildes Gottes möchten durch irgend eine sanfte Epidemie aus der Welt geschafft werden, statt im Licht der Sonne herumzuwanken, ein jammervoller Anblick für alle fühlenden Menschen und sich selbst zu sehr geringer Freude. Ich bin doch gewiß von Berufs wegen gegen die herzzerreißendsten Anblicke abgehärtet. Dies aber könnte ich auf die Länge nicht ertragen!

Sie. Also – mit all diesen Mißgeburten in den Eurotas, oder wie das spartanische Flüßchen sonst geheißen hat?

Er. Nein, liebste Frau, dazu würde sich selbst unter den privilegierten Henkern schwerlich einer finden, der die Sache im Großen besorgen möchte, da diese armen Bursche einen Blick haben, halb kindisch, halb treuherzig, der einem trotz ihrer Wasserköpfe und Kröpfe in die Seele geht. Nur daß normalen Menschen zugemuthet wird, unter diesen Stiefkindern der Natur als Aufseher oder Pfleger zu leben, geht wieder zu weit. Gibt es nicht Invaliden und alte Mütterchen genug, die durch ein langes Leben abgestumpft sind gegen ästhetische und humanitäre Eindrücke und zur Behütung einer solchen Cretinenheerde geradeso gut taugen würden, wie zu Schaf- oder Ziegenhirten? Auch hier haben Sie wieder einen Beweis für verkehrte Menschenaufopferung. Doch giebt es noch einen ärgeren Unsinn.

Sie. Einen noch ärgeren? Doch dieser scheint mir nicht einmal der schlimmste zu sein.

Er. Oder kann es eine größere Thorheit geben, als sich verpflichtet zu glauben, einen Selbstmörder, wenn er seine That noch nicht voll ausgeführt hat, daran zu hindern, oder wenn man ihn findet, nachdem er sie überstanden hat, mit allen Mitteln zu versuchen, sie ungeschehen zu machen, den Strick abzuschneiden, an dem er hängt, oder ihn mit eigner Lebensgefahr aus dem Wasser zu ziehen, in das er sich hineingestürzt hat? Ich kenne nichts Vermessneres, als so dem Schicksal oder dem Recht der Selbstbestimmung in den Arm greifen zu wollen und sich darauf noch etwas zu Gute zu thun. Rettungen aus drohender Lebensgefahr mit Einsetzung des eignen Lebens nehme ich natürlich aus. Aber wenn ein gequälter, an jeder Hoffnung verzweifelnder Mensch den immerhin schweren Entschluß gefaßt hat, sich aus der Welt ins Nichts zu flüchten, und endlich liegen die Schauer und Schmerzen des Abschieds hinter ihm; er schläft von all seiner Mühsal aus, nur das letzte Fünkchen glimmt noch, und da kommt ein Vorwitziger und bläst das Fünkchen wieder an und weckt den Unglücklichen wieder auf, damit er den Kampf des Lebens noch einmal beginnen möge, weil er angeblich kein Recht habe, Frieden zu schließen? – Und wenn es mit großer Mühe gelingt, und der um seine Ruhe Gebrachte schlägt endlich die Augen wieder auf, glaubt der Verblendete gar noch Dank verdient zu haben, daß der Vorhang über dem Trauerspiel noch einmal ausgehen soll, nachdem der tragische Held schon gestöhnt hatte: La commedia è finita! Wie seinen Todfeind sollte er diesen »Retter« von sich stoßen und in die tiefste Hölle verfluchen! Kommen Sie, liebe Freundin! Lassen Sie uns unsre abgebrochene Partie zu Ende spielen. So wenig alle Unvernunft der Menschheit mich sonst noch aufregen kann – wenn ich an diesen Wahnwitz denke, geräth mein siebzigjähriges Blut in Wallung, und ich überlege, welche Strafe einem solchen Frevel, schlimmer als Mord, gebühren möchte.

Sie. Noch einen Augenblick, Bester! Gewiß haben Sie Recht mit Allem, was Sie gegen das Übermaß des Altruismus sagen, das oft zu krankhaften Auswüchsen führt. Hat man doch sogar Asyle für kranke Thiere gegründet, als wolle man auch damit gegen das frevelhafte Spiel mit der Vivisection protestieren, die ja zu humanitären und ernsten wissenschaftlichen Zwecken unentbehrlich sein mag, aber so oft ganz gefühllos zu einem bloßen Spiel der Neugier mißbraucht und ohne jede mögliche Schonung mit der armen wehrlosen Creatur vollzogen wird. Gewiß: einem Hunde, der ein Bein gebrochen hat, einen hölzernen Fuß ansetzen, statt ihn todtzuschießen, das geht doch zu weit und ist die baare Unvernunft. Aber heißt es nicht: die Liebe sei höher als alle Vernunft? Sie werden einwenden, das stehe eben in der Bibel, und gerade das Christenthum habe diese Verzärtelung in die Welt gebracht, von der die alten Völker nicht angekränkelt gewesen seien, da sie eben blos natürlich empfanden. Aber findet sich dieser »sentimentale Altruismus«, wie Sie's nennen, diese Lust, sich blindlings für Andre zu opfern, nicht auch in der Natur? Ist es nicht auch unvernünftig, wenn Vögel, deren unflügge Brut im Nest vom Marder oder Geier bedroht wird, mit Schreien und Flattern den Feind abzuwehren suchen, da sie doch wissen, sie können das Schicksal ihrer Jungen damit nicht abwenden, und lieber davonfliegen sollten, um ihr eignes Leben zu retten? Ich las neulich in der Zeitung, daß man ein Mäusenest ausgehoben hat, worin die Mutter mit neun ganz kleinen, eben zur Welt gekommenen Mäuschen lag, ohne sich zu rühren, obwohl sie ganz gut hätte entspringen können. Sie blieb aber ruhig liegen und ließ sich mit ihrer Brut zum Ersäufen forttragen. Lange hat mich nichts so gerührt. Und diesen sentimentalen Instinkt legte die sonst so weise Mutter Natur in die kleinen Herzen, obwohl es ihr sonst nur um Erhaltung der Gattung zu thun und das Individuum sehr gleichgültig ist. Sie hat wohl gedacht, daß auch für das Bestehen und Gedeihen des großen Ganzen Liebe unentbehrlich sei und selbst ihr Übermaß einer kühlen, vernünftigen Selbstsucht vorzuziehen. Mag dabei auch oft nichts Rechtes herauskommen, sogar etwas Widersinniges: jedenfalls ist das ein Gewinn, daß der nicht übergroße Vorrath von Wärme in der Welt vermehrt wird. Und zuweilen lohnt sich's ja auch, blindlings seinem Herzen zu folgen, ohne sich lange zu besinnen, ob es thöricht sei oder nicht. Sie haben wohl einmal den Namen einer meiner Cousinen nennen hören, Lucie Valentin. Die hat als junges Mädchen einen schweren Schlag erlitten. Ihr Verlobter, ein junger Offizier, ist bei einem Manöver durch einen Schuß aus einem aus Versehen geladenen Gewehr getödtet worden, was seine Braut so furchtbar mitgetroffen hat, daß man erst für ihr Leben und dann für ihren Verstand fürchtete. Die Mutter zog mit ihr in eine einsame ländliche Gegend, wo sie langsam genas. In die Welt aber wollte sie um keinen Preis wieder zurück.

Nun geht sie eines Abends in ihren trostlosen Gedanken an dem Flusse spazieren, der nahe bei ihrem Hause vorbeifließt; da hört sie aus dem Schilf, das am Ufer wächst, ein Wimmern wie von einer Kinderstimme, stürzt hinzu und sieht zwischen den hohen Pflanzen etwas Weißes schimmern, von dem die Laute ausgehen. Das Wasser war schon hier am Rande sehr tief, schwimmen konnte sie nicht, auch nicht um Hülfe rufen; es war also höchst unbesonnen, retten zu wollen und sich selbst damit in Gefahr zu bringen. Gleichwohl besinnt sie sich keinen Augenblick, streift nur die Schuhe ab und läßt sich vom Uferrande ins Wasser gleiten. Der Fluß hatte aber ein so starkes Gefälle, daß er sie eine Strecke mit fortreißt, bis sie endlich Grund findet und sich zu der Stelle, von wo das Weinen kommt, zurückarbeiten kann. Da findet sie ein Körbchen, in welchem ein kaum zwei Tage altes Kindchen in seinen Windeln liegt, rettet sich mit ihm mühsam ins Trockne hinauf und bringt es in triefenden Kleidern zur Mutter, wo sie ohnmächtig zusammenbricht. Nicht wahr, thörichter konnte sie nicht wohl handeln? Ein fremdes Kind, vielleicht von einer Mutter, die auch sonst ebenso lasterhaft war, wie gewissenlos und unnatürlich gegen ihr Neugeborenes, so daß sie ihm eine schlimme Erbschaft mit ins Blut gegeben; sie selbst, meine Cousine, kränklich und dazu mit der Mutter in so bescheidenen Verhältnissen, daß sie Mühe hatten, sich selbst anständig durchzubringen – und laden sich die Sorge für ein unbekanntes junges Leben auf! Hätte nicht ein besonnener Mensch in ihrer Lage gedacht: was geht es dich an? Aber ich sagte es schon, ihr Verstand war durch das Unglück getrübt, man konnte ihr nicht zumuthen, sich an die spartanische Staatsweisheit zu erinnern und daran zu denken, daß ohnehin schon zu viel hungrige Mäuler sich an die Schüssel mit schwarzer Suppe setzen. Wenn Sie freilich vorbeigegangen wären –

Er (lächelnd). Ich glaube, theure Freundin, Sie überschätzen doch meine Charakterstärke. Abgesehen davon, daß ich ein Doktor bin und hülfreich von Beruf – ich lebe doch im Jahrhundert der Humanität und wäre wohl auch in das kalte Bad hinabgestiegen.

Sie (giebt ihm die Hand). Dies Geständniß macht Ihnen Ehre. Und sagen Sie selbst: hätte die Tochter Pharaos spartanisch gedacht, so wären die Juden um ihren Moses gekommen und wir um die fünf ersten Bücher des Alten Testaments.

Er. Was übrigens kein Schade gewesen wäre. Dann hätte ein Andrer das Volk Gottes durch das Rothe Meer geführt, und die Welt wäre vielleicht mit so unwissenschaftlichen Fabeln über die Schöpfungsgeschichte verschont geblieben, wie dieses aus dem Wasser gezogene Judenkind sie geschrieben hat. Aber sagen Sie, was ist aus dem kleinen Findling geworden?

Sie. Kein zweiter Moses, noch überhaupt ein großer Mann, aber ein guter und glücklicher Mensch, der seiner Pflegemutter für ihre unbesonnene That gedankt hat, indem er sie von ihrem Verzicht auf das Leben heilte, da er ihr Pflichten zu erfüllen gab. Er ist längst verheirathet, und seine Kinder tragen die »Großmama« auf Händen. Nun aber genug von einem Thema, über das Männer und Frauen sich nie ganz verständigen werden. Kommen wir zu unserm Schach, lieber Freund! Weiß war am Zuge.

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