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V.

Wir Deutschen haben allen Grund, an dieser Entwicklung Russlands lebhaften Anteil zu nehmen. Nicht allein aus rein sozialen und ethischen Gründen, sondern aus Bedenken heraus, die unser eigenes Land betreffen. Wie einst Frankreich der unversiegliche Born der Freiheit war, an dem die übrigen Länder Europas schöpften, der ihnen Verfassung, Gesetze, Ordnung und Recht gab, wie Deutschland bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in der geistigen Gefolgschaft der französischen Völkerentwicklung stand, so untersteht es heute einem verderblichen reaktionären Einflusse, der von Russland ausgeht und den Wind der sibirischen Steppen mit sich trägt. Unsere Russo-Philen-Politik hat nicht nur rein ausserpolitischen Charakter. Das haben verschiedene Vorkommnisse der letzten Jahre deutlich bewiesen, das hat der Königsberger Prozess erschreckend dargetan. Russland ist eine ewige Gefahr nicht nur für den Völkerfrieden, sondern auch für die soziale Entwicklung der Nationen Westeuropas, für die Völkerfreiheit. Danken wir Japan, dass es Russland in seiner Eroberungspolitik für lange Zeit lahm gelegt hat. Die gelbe Gefahr ist viel, viel weiter von uns entfernt, als die slavische Gefahr, die in unserer unmittelbaren drohenden Nähe steht. Sie bedroht die Länder in politischer und sozialer Hinsicht. Unbewusst und ungewollt haben aber die Japaner auch ein Reorganisationswerk begonnen, das das russische Volk früher oder später vollenden wird.

Damit wird die Reaktion in Deutschland bedeutend an Kraft verlieren, weil dann ihre letzte Verbindung durchschnitten ist. In England und Frankreich herrscht völlige Rede- und Pressfreiheit, und in England gar, das doch auch eine Monarchie ist und eine Weltmacht bedeutet, ist auch der letzte Rest von jener persönlichen Einengung geschwunden, die an die Tage der römischen Cäsaren erinnert. Und ist England deswegen kein Ordnungsstaat?

Deutschland aber verharrt immer noch auf gewissen römischen Rechtsprivilegien, die in die moderne Zeit nicht mehr passen. Die Einführung verfassungsmässiger Zustände in Russland wird auch Deutschland wieder um Riesenschritte in seiner geistigen Entwicklung vorwärts bringen, und der »Presssünder« wird als ständige Karikatur des intellektuellen Lebens verschwinden.

Wenn das deutsche Volk sich mit dem russischen verbrüdert, dann wird Segen für die Zukunft daraus entspriessen. Heute stehen die Regierungen zweier einander so unähnlicher Nationen in gegenseitigen mehr als freundschaftlichen Beziehungen. Und was ist das Verdienst Russlands der deutschen Sache gegenüber? Die Ostseeprovinzen, die zu den bewährtesten Provinzen Russlands gehörten, in denen deutsche Zucht und deutsche Treue herrschten, waren dem Panslavismus längst ein Dorn im Auge. Man schaffte dort die deutsche Sprache ab und führte die russische Sprache gewaltsam ein. Gouverneure, die kein Wort deutsch verstanden, wurden hinversetzt, um die Provinzen zu russifizieren. Die Universität Dorpat, eine der bedeutendsten Lehranstalten, wurde mit russischen Professoren besetzt. »Wie weit dieser Russifizierungstrieb ging«, heisst es in »Russland am Vorabend des XX. Jahrhunderts«, »ist daraus zu ersehen, dass selbst deutsche Ärzte sich vor Gericht zu verantworten hatten dafür, dass sie deutsche Schilder an ihren Türen hatten. Und sie wurden verurteilt.«

Und Finland? Steht uns Finland nicht als Schwesterstaat nahe? Die Vergewaltigung dieses Landes durch Bobrikow wurde infolge seines gewaltsamen Todes in den Vordergrund des öffentlichen Interesses gerückt. Alexander I. hatte die Konstitution Finlands bestätigt, nachdem Katharina II. schon geschrieben hatte: »Die Unabhängigkeit Finlands entspricht den russischen Interessen«. Nikolaus I. und Alexander II. respektierten Finland als eigenen Staat. Alexander III. wagte noch nicht, Hand an die finische Verfassung zu legen. Unter Nikolaus II. ward die Russifizierung Finlands mit Gewalt vollzogen unter Gründen, über die die »Times« seinerzeit schrieb, dass sie in kultivierten Ländern nur ein verächtliches Lächeln hervorrufen könnten.

Die Folge ist, dass in dem ehemals friedliebenden, geordneten Lande anarchistische Zustände eingerissen sind, anarchistisch sowohl auf Seiten der gesetzlichen Regierung wie der empörten Jugend, aus deren Reihen Eugen Schaumann, der Mörder Bobrikows, hervorging.

*

Alle die geschilderten Zustände im Innern Russlands führten am 22. Januar zu einem Zusammenstosse zwischen dem russischen Volke schlechthin und der Regierung. Dieser Zusammenstoss, der sich zu einem blutigen Verbrechen seitens der Regierung auswuchs, bedeutete nicht, wie alle Journale der Welt prophezeiten, die Revolution; denn diese besteht faktisch schon – wie oben erwähnt – seit Jahrzehnten. Der 22. Januar gestaltete sich zu einer Demonstration von höchster geschichtlicher Bedeutung, nicht wegen seines Ausganges, sondern wegen seines Charakters. Mit diesem Tage versuchte das Volk noch einmal, den Weg zu seinem Herrscher zurückzufinden. Mit diesem Tage hat die Autokratie die Brücken hinter sich abgebrochen, zu einer Zeit, wo ein einfacher Pope Namens Gapon es wagen konnte, folgenden Aufruf an das russische Volk zu erlassen:

»Brüder! Arbeiter! Das unschuldige Blut des Volkes ist vergossen worden. In uns hegen wir Gefühle der Erbitterung und Rache gegen den Zaren und seine Handlanger, die Minister, und glaubt mir, der Tag ist nahe, sehr nahe, da ein Heer arbeitender Männer sich drohender, mit mehr Überlegtheit erheben und wie ein Mann kämpfen wird für seine eigene Freiheit und für die Freiheit ganz Russlands. Seid getrost! Wir sind geschlagen, aber nicht besiegt worden.«

Dieser Aufruf beweist, dass der mystische Nebel um die Vergangenheit zerrissen ist. Die Vorgänge am 22. Januar sind bekannt: Zwölftausend Arbeiter zogen mit Fahnen und Heiligenbildern vor das Schloss des Zaren, ihn um eine Verfassung zu bitten. Von diesen zwölftausend kehrten nur achttausend heim, denn viertausend färbten mit ihrem Blute den Schnee des Winterpalast-Platzes ...

In der Münchener » Freistatt« veröffentlichte Prof. v. Reusner, der als Sachverständiger in dem Königsberger Prozess bekannt ist, einen Kommentar zu diesem Tage, dem wir folgendes entnehmen:

»Trotz der mächtigen sozialistischen Propaganda und des ungeheueren Einflusses der europäischen radikalen Ideen, haben die russischen Volksmassen zwei alte naive Ideale in den tiefsten Tiefen ihrer Herzen aufbewahrt: das Ideal einer patriarchalischen Regierung und das eines primitiven Agrarkommunismus ... Der Zar steht in unmittelbarer Berührung mit seinem Volke, kennt seine Bedürfnisse, leidet und freut sich mit ihm ... Alle Klassen des Volkes senden zu ihm geliebte Vertreter, mit denen er die Fragen des Krieges und des Friedens erwägt ... und Wege ausfindig macht, um jede Unordnung aus der Welt zu schaffen und Wahrheit und Gerechtigkeit im ganzen Lande einzuführen ...

Aber dieses Märchen von dem guten Kaiser und seinem treuen Volke ist noch nicht zu Ende. Wir müssen noch einen tiefsittlichen Zug des russischen Volkes hervorheben. Dieser Zug lässt sich folgendermassen charakterisieren:

Die Wahrheit spricht für sich. Gott selber ist für die Wahrheit ... Man muss nur redlich und mutig die Stimme für sie erheben und bereit sein, für sie zu sterben. Das Böse siegt nur zeitweise: und wenn man mit dem Bösen gegen das Böse nicht kämpfen darf, so ist es doch durch Selbstaufopferung und Märtyrertum zu besiegen ... Ein rührendes Bild wunderbar sittlicher Schönheit bot die Masse verstossener Proletarier, die sich um das Banner »der Wahrheit und Gerechtigkeit« sammelte und in wundertätiger Weise in sich die beste Stelle des alten Volksidealismus mit dem Reflex neuer sozialer und politischer Bestrebungen vereinte ...«

Und die Moskauer » Russkija Wjedomsti« wagte zu schreiben:

»Kundgebungen wie die von Petersburg können wohl mit Waffengewalt unter Blutvergiessen unterdrückt werden, aber keine Macht der Welt ist imstande, eine Bewegung, welche die Geister ergriff, zu vernichten, und ebensowenig die Ueberzeugung von der Notwendigkeit der reif gewordenen Reformen; auch lässt sich nicht das Verlangen nach freierer Bewegung und nach einer festen Rechtsordnung aus der Welt schaffen. Es gibt nur ein Mittel, eine solche Erregung zur Ruhe kommen zu lassen, nämlich die Erfüllung der zeitgemässen Wünsche des Volkes.«

Schliessen wir diese Betrachtung mit den Schlussworten einer Adresse, die der Semstwo von Taurien am 25. Januar 1905 an den Zaren gesandt hat:

»Der innere Friede«, heisst es da, »beruht überall auf der Sicherheit des Gesetzes, Gleichheit aller Bürger, Freiheit des Gewissens und der Religion, Freiheit des Wortes, der Presse, der Vereine und Versammlungen. Wir sind überzeugt, dass die Erfüllung dieser Absichten nur möglich ist, wenn freigewählte Vertreter an der Gesetzgebung teilnehmen. Wenn Euere Majestät die Vertreter der Nation berufen, um an der Gesetzgebung, der Kontrolle über die Behörden, der Überwachung und Durchführung der Gesetze teilzunehmen, werden wir aus Russland eine Macht machen, die in absehbarer Zeit nach aussen und im Innern blühen wird ...«

Die Vertreter der Nation wurden nicht einberufen und weiterhin regiert das Ministerium Sansculottes, um eine historische Notwendigkeit mit dem Dogma der Willkür zu bekämpfen.


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