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I.

»Sobald eine Reform notwendig geworden und der Augenblick ihrer Durchführung gekommen ist, so hält sie nichts mehr auf, und alles wird ihr förderlich. Glücklich dann die Menschen, wenn sie sich verständigen könnten, wenn die einen abträten, was sie zu viel haben, wenn die andern sich mit dem begnügten, was ihnen fehlt; die Revolutionen verliefen friedlich, und der Geschichtsschreiber hätte weder Ausschreitungen noch Unglück zu berichten, er brauchte nur zu zeigen, wie die Menschheit weiser geworden ist, freier und glücklicher. Aber bis jetzt bieten die Jahrbücher der Völker kein Beispiel einer solchen Klugheit dar, wenn es sich um Opfer handelt; wer sie bringen sollte, verweigert sie; wer sie wünscht, dringt sie ab, und das Gute geschieht wie das Böse durch Anwendung und mit der Roheit widerrechtlicher Eingriffe. Noch hat es keine andere Macht im Staate gegeben als die Gewalt.«

So schrieb F. A. Mignet in seiner »Geschichte der französischen Revolution«. Diese historische Behauptung und Folgerung, im engen Anschluss an die Vorgänge der grossen Revolution geschrieben, kann als Katechismus für die politische und soziale Entwicklung aller Völker und Zeiten gelten. Gleichwie die grossen Entwicklungsperioden der Erde, ja des ganzen Weltalls, durch chemische Revolutionen grossen Stils eingeleitet werden, denen eine ruhige positive Entwicklung zu folgen pflegt, so tritt auch in der Geschichte jedes Volkes der Augenblick ein, wo unter der morschen Decke veralteter Systeme eine durch Zeit und Zustände geschaffene revolutionäre Kraft emporstrebt und mit elementarer Gewalt sich Durchbruch verschafft. Die Stärke der Revolutionen und ihr Umfang hängen einesteils von der Rasse des Volkes ab, andernteils von der Grösse des Widerstandes, den sie finden. Denn jede Gewalt schärft sich an dem Gegensatz, und je mehr und hartnäckiger sich dieser ihr entgegenstellt, desto furchtbarer ist die Reaktion. Ludwig XIV. hatte durch die anhaltende und spannende Ausnützung der Despotie die revolutionäre Reaktion zur Entwicklung gebracht, und die Uebergangsperiode des traurigen Ludwig XV. genügte, seinen Nachfolger mitsamt der ganzen mittelalterlichen Gesellschaftsordnung in der elementaren Eruption des revolutionären Vulkans verschwinden zu lassen.

Allerdings ist das französische Volk durch die immerwährende politische Gährung, die seine intellektuelle Entwicklung begleitet und stets begleitet hat, mehr als jedes andere für revolutionäre Ausbrüche geschaffen. Populus semper rerum novarum cupidus est – warf man schon dem sonst besonnenen römischen Volke vor. Das gilt in weit stärkerem Massstabe von dem französischen. Seine Entwicklung ist eine sprungweise, impulsive, sein Charakter ruhelos und neuerungsbedürftig. Deshalb hat aber das deutsche Volk keine Ursache, mit überlegenem Lächeln auf die kleinen Schwächen seiner Nachbarn jenseits des Rheines herabzusehen. Die französische Revolution von 1789 u. f. hat nicht nur Frankreich, sondern dem ganzen zivilisierten Europa eine Änderung der staatlichen Regierungsform, der veralteten gesellschaftlichen Ordnung und der Unsicherheit des Gesetzes gebracht. Sie schuf für die evolutionäre Entwicklung der folgenden Jahrhunderte den gesunden Boden, auf dem der Sohn der Revolution, Napoleon I., den Grundstein für die Verbrüderung aller Völker gepflanzt hat.

Nur ein Land blieb frei von allen Einflüssen des Westens. Ein Land, das die Möglichkeit und die Kraft besass, mehr noch als z. B. Preussen, an der raschen Entwicklung der Zivilisation teilzunehmen, hielt sich in strenger Abgeschiedenheit von den Konsequenzen der Ereignisse des 19. Jahrhunderts. Ein Volk, das seiner Rasse zufolge den Freibrief auf eine grosse intellektuelle und politische Zukunft besitzt, verharrte in der dumpfen Gedankenlosigkeit des Mittelalters: das war Russland.

Es gibt kaum eine Nation, die von einer ähnlichen Schwerfälligkeit in der Auffassung und Annahme natürlicher Lebensbedingungen gewesen wäre. Und doch ging gerade von der Autokratie zu Anfang des 17. Jahrhunderts das Bestreben aus, den Anschluss an die Kultur des Westens zu finden, ohne doch die Verbindung mit ihr länger als kaum ein Jahrhundert aufrecht erhalten zu könnten. Peter der Grosse legte in seiner langen Regierungszeit von 1682 bis 1725 den Grundstein zu einer ökonomischen und sozialen Umgestaltung des Reiches. An dem passiven Widerstande des unreifen Volkes, mehr aber noch des Adels und der Geistlichkeit, scheiterte jeder dauernde Erfolg. Selbst die geistreiche Kaiserin Katharina II., die mehr als irgend einer ihrer Ahnen dem westeuropäischen Geiste zugänglich war, machte unter dem Einflusse Diderots vergebliche Versuche, den liberalen Ideen der französischen Philosophie Eingang in ihrem Reiche zu verschaffen. An der Teilnahmslosigkeit des Adels und der Feindseligkeit der Geistlichkeit brach sich jeder freiheitliche Gedanke. Wie in Frankreich vor Ausbruch der Revolution, sehen wir auch in Russland – damals und heute mehr denn je – in der Geistlichkeit und dem Adel die Feinde der Volksentwicklung und Volksfreiheit. Der Adel wie die Geistlichkeit wachten ängstlich und brutal über ihren Privilegien, die in der Ausbeutung des Bauernstandes und des »dritten Standes« überhaupt bestanden, und der Alleinherrscher war auf die Stützen seines Thrones, die eben der Adel und die Geistlichkeit ganz allein waren, zu sehr angewiesen, um es wagen zu dürfen, mit diesen beiden mächtigen Faktoren in den Kampf zu treten. Nur durch Aufgabe der Autokratie, durch den Anschluss an das Volk und Einführung einer Verfassung wären die Selbstherrscher in der Lage gewesen und wären es heute mehr denn je, den Einfluss der beiden Reichsfeinde zu brechen. Allein wo fände sich der Herr, welcher freiwillig die unumschränkte Macht über 28 Millionen Menschen aus seinen Händen legte? Ganz abgesehen davon, dass die Kaiser von Russland weit mehr die Revolutionen in ihren Palästen als in ihrem Lande zu fürchten haben, wie uns die Geschichte lehrt, deren Logik im 20. Jahrhundert nicht anerkannt werden will.

Paul I., ein Schüler Laharpes (1796–1801), nahm den Kampf mit dem Adel noch einmal auf, ein kurzer, aussichtsloser Kampf, der ihn erst die geistige Kraft, dann das Leben kostete. Er, der der »Wohltäter seines Volkes« hatte werden vollen, dessen Jugendtraum es war, pater patriae zu sein, endete in wüstem Mystizismus als ein Wahnsinniger, den die eigenen Gardeoffiziere ermordeten. Finland und Polen erhielten durch diesen Regenten eigene Verfassungen, die sich auf konstitutioneller Grundlage erhoben. Der erste Versuch, den er in Russland machte, ein schüchterner Versuch, die Leibeigenschaft aufzuheben, sicherte ihm den Hass und die Verachtung des russischen Adels, und so unterblieb jede Reorganisation.

Ihm .folgten zwei Weltherrscher, wie Despoten nicht glänzender geschildert werden könnten: Alexander I. und Nikolaus I. Ersterer regierte von 1801–1825, letzterer von 1825–1855. 30 Jahre hatte Nikolaus I. Zeit, das Werk seines Vorgängers zu vollenden und das russische Reich in ein Netz von härtester und rücksichtslosester Willkür zu verstricken. Und doch trifft ihn an den heillosen Zuständen die geringste Schuld. Es ist eben ein grausamer Widerspruch, dass eine Zeit – ob gut oder schlecht – mit dem Namen und der Person desjenigen Herrschers charakterisiert wird, dessen Regierung mit ihr verknüpft war, mit dessen Namen alle Merkmale jener Zeit gedeckt und gezeichnet waren. Und doch ist dieser Einzelne nie oder höchst selten der wahre Urheber oder Schuldige, und nie oder nur bei ganz hervorragenden Despoten (wie bei Peter dem. Grossen) drückt ein autokratischer Herrscher seiner Zeit den Stempel der eigenen Individualität auf. Der Adel, der die gesetzgebende Gewalt direkt oder indirekt in Händen hat, die Geistlichkeit, die mit ihm in engster Verbindung steht (besonders in Russland, wo der Kaiser gleichzeitig der erste Bischof ist), und die Bureaukratie, die von den beiden ersten Gewalten abhängt, schaffen die Charakteristik ihrer Zeit. So waren es auch unter Nikolaus I., dessen Schuld seine Schwäche und Gleichgiltigkeit waren, diese drei Mächte, welche die mehr als asiatischen Zustände herbeiführten, die der Kaiser lediglich billigte. So ist es auch heute geblieben, wo die Bureaukratie, gestützt auf den Einfluss des Synods und Adels, Russland weit mehr und autokratischer beherrscht als Zar Nikolaus II, der von einem modernen Staatswesen keine Ahnung hat, weil er aus der Geschichte seiner Vorfahren nicht lernen konnte, aus der Geschichte seiner europäischen Vettern nicht lernen will.

Das Denken war unter Nikolaus I. überhaupt verboten, wie ja alle Selbstherrscher in Russland bis auf den heutigen Tag scharfsinnig genug waren, in der Intelligenz ihre gefährlichste Feindin zu sehen und sie daher zu verfolgen – im Gegensatz zu den Despoten Frankreichs, die die Entwicklung derselben nach besten Kräften förderten. Im Anschluss an diese Angst vor dem Intellekt ist die strengste Zensur, die gegen alles, was Presse hiess und mit ihr zusammenhing, in Anwendung gebracht wurde, begreiflich. Als nun gar im Jahre 1848 in Paris wieder eine Revolution ausbrach, die dem Throne Louis Philipps das Gleichgewicht raubte, als in Berlin und Wien um die Wahl- und Pressfreiheit ernstlich gekämpft wurde, da gestaltete sich die Reaktion in Russland zu einem wahren Belagerungszustand. Die Universitäten wurden unter geistliche Kontrolle gestellt; der Richterstand war nichts anderes als eine Sorte von Kreaturen, die entweder ganz nach eigener oder der Willkür ihrer Vorgesetzten die gesetzlichen Urteile fällten. Das administrative Verfahren – wer denkt nicht an die »lettres de cachet« der französischen Machthaber? – ersetzte jede reguläre Rechtsprechung und machte sie illusorisch. Sibirien bevölkerte sich mit allen möglichen Vertretern der Intelligenz, mit Studenten, Journalisten, Advokaten usw. Allmählich bemächtigte sich des grössten Teiles der stets bedrohten Bevölkerung eine tiefe Erbitterung, und die akademische Jugend war es, die teils heimlich, teils offen ihrer Empörung Ausdruck verlieh. Von da an datiert jener erbitterte Kampf zwischen der Intelligenz und der Bureaukratie, der schon so viele Opfer gefordert hat und in den immer wiederkehrenden Studentenrevolten seinen Ausdruck findet. Dieser Kampf wurde immerwährend von Seiten der Regierung erneuert, indessen die Studenten durch Revolten auf die Provokationen antworteten.

Nimmt es Wunder, dass in einem Staate, in dem die gesetzlichen Körperschaften die gesetzlosesten sind, in dem die Gerechtigkeit in allen Gerichtssälen geschändet, in dem das Gesetz ununterbrochen von denen übertreten und verhöhnt wird, die sich in ihrer Stellung und ihren Handlungen einzig auf dieses Gesetz stützen – nimmt es Wunder, dass die Unzufriedenheit auf die Gesetzlosigkeit mit gesetzlosen Mitteln antwortete? So entstanden die geheimen Verbindungen unter den Studenten, Schutz- und Trutzbündnisse gegen die Polizeiwillkür, so schälte sich aus diesen Verbindungen der Nihilismus los, so entstand infolge der unerhörten Greueltaten der russischen Bureaukratie, die mit Schrecken regieren wollte, der Terrorisnius, der mit Schrecken antwortete.

Der Krimkrieg, die glänzenden Waffentaten der russischen Armee, die Erstürmung Sebastopols im Jahre 1854, lenkten die Aufmerksamkeit des Volkes mehr von den inneren Zuständen ab. Mit dem Regierungsantritt Alexander II. (1855 bis 1881) hatte die Spannung aber ihren Höhepunkt erreicht, und dieser liberale Fürst, mit glänzenden Eigenschaften begabt, machte den ersten energischen Versuch, Russland in einen europäischen Staat umzuwandeln. Am 19. Februar 1861 hob er die Leibeigenschaft auf und setzte sich damit ein unvergängliches Denkmal in der russischen Geschichte. Aber alle übrigen Reformen, die er einführen wollte, begegneten einerseits dem geschlossenen Widerstand des Adels, anderseits dem Misstrauen der Bevölkerung, die bereits erkannt hatte, dass durchgehende bessere Zustände für Russland von oben herab nicht zu erwarten seien – und wäre ein Herrscher von den besten Absichten beseelt, an der Phalanx der Bureaukratie musste er scheitern.

Gleichwohl führte Alexander II. Besserungen im Gerichtswesen ein, erweiterte die Freiheiten der Presse, schaffte die 25jährige Dienstzeit ab und tat viel für Handel und Wandel. Aber er schuf doch nur Halbheiten, und eine Halbheit ist unter Umständen ein grösseres Übel als das Übel selbst. Sein guter Wille wurde im Volke verkannt, von dem Adel reaktionär beeinflusst, von der Bureaukratie diskreditiert. Was die Ratgeber oder besser die Funktionäre des Kaisers verbrachen, wurde ihm zugeschrieben, und da er den einzigen Weg, die Verbindung mit seinem Volke herzustellen: die Einführung der Monarchie, keineswegs betreten wollte, säte er auf Steine. Die Empörung unter der studierenden Jugend wuchs unter dem Einflusse der Uebergriffe der kaiserlichen Beamten.

Der Kaiser wurde über sein Volk, das Volk über seinen Kaiser getäuscht.

Die nihilistische Partei organisierte sich und verlegte ihren Zentralpunkt nach Genf. Der Kampf zwischen den Unzufriedenen und der Regierung wurde heimlich, aber mit umso grösserer Erbitterung fortgesetzt, der soziale Kampf wurde in Polen ein politischer. Murawjew warf den polnischen Aufstand mit drakonischer Strenge nieder, Polen wurde dem russischen Reiche ohne Recht und Fug einverleibt, und die Bureaukratie beging die schlimmsten Ausschreitungen im Innern, um die revolutionären Regungen im Keime zu ersticken. Statt dessen entflammte sie das unstät brennende Feuer zu einer gefährlichen Lohe. Das administrative Verfahren forderte Opfer auf Opfer. Nicht nur Überwiesene wurden verschickt; der geringste Verdacht, eine hämische Denunziation genügten, Unschuldige in den Kerker und ohne ein richterliches Verfahren nach Sibirien zu bringen. Hunderte und Tausende wurden verschickt, deren ganzes Verbrechen darin bestand, durch ihre Zugehörigkeit zur Intelligenz des Landes Verdacht erregt zu haben.

Die Nihilisten antworteten auf diese Greuel durch eine Reihe von Bluttaten. Schrecken gegen Schrecken! Es half nichts mehr, dass Loris Melikow Zugeständnisse machte. Am 1. März 1881 fiel Alexander II. als Opfer eines anarchistischen Attentats, als Vertreter eines Systems, mit dem seine Person nichts, sein Name gar viel zu schaffen hatte.

Alexander III. kam ans Ruder. Hatte Nikolaus I. noch einen Schein von eigenem Willen geoffenbart, so war dieser Herrscher ein vollendetes Werkzeug seiner Ratgeber und Minister; die Ereignisse, die sich unter seiner Regierung (1881-1894) abspielten, lassen sich mit denen seines Nachfolgers, Nikolaus II., zusammenfassen, dessen erste Willenskundgebung nach seiner Thronbesteigung 1894 die Antwort war, die er auf eine Ergebenheitsadresse Twerer Bürger, die um gesetzmässige Zustände baten, gab: » Das sind sinnlose Grillen

Seit 1880 ist die russische Reaktion unaufhörlich mit Riesenschritten ihrer Glanzzeit entgegen gegangen. Seit 1880 reisst die gewissenlose Regierung Russland der Revolution entgegen, die eintreten wird, sobald der Zeitpunkt gekommen ist. Wann der Moment erscheint, wann der Augenblick ihrer Durchführung kommt, lässt sich nicht bestimmen. Denn der Durchbruch einer Elementarkraft lässt sich wohl ungefähr berechnen, hängt aber immer von einer Reihe von Nebenumständen ab, deren Eintritt nicht festzustellen ist.

Bis zum Jahre 1880 reicht die Vorgeschichte der Reaktion. Bis 1880 liess sich hoffen, dass das Land doch noch in evolutionärer Entwicklung segensreichen Zuständen entgegengeführt würde. Seit dieser Zeit ist jede derartige Hoffnung erloschen, und eine historische Notwendigkeit steht drohend im Dunkel der kommenden Zeiten, die nicht mehr ferne liegen können.


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