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II.

Die Reaktion, die, wie die konservativen Kreise Russlands und des Auslands versichern, erst mit der Ermordung Alexanders II. einsetzte, die aber wie wir gesehen haben, schon vorher bestand und diesen politischen Mord verschuldete, begann ihren Vernichtungskampf gegen die Freiheit des Volkes – soferne von einer solchen gesprochen werden kann – mit einem planmässigen Feldzuge gegen die Universitäten, die Pflanzstätten der Intelligenz. Männer traten dabei in den Vordergrund, die die Regierung teils zu persönlichen Racheakten, teils zur Befriedigung ihres Ehrgeizes missbrauchten und eine ungeheuere Schuld auf eine kommende Generation abluden. Da ist Katkow zu nennen, der gefährlichste Berater Alexander III., der eifrigste Förderer der Macht der Bureaukratie. An ihn schliesst sich Graf Tolstoi an, ehemals Minister für Volksaufklärung, unter Alexander III. Minister des Innern, dessen Bestreben dahin ging, dem Volk auch den Rest seiner selbständigen Wahlrechte zu nehmen, der die Landstände unter staatliche Kontrolle stellte und der gefährlichste Feind der akademischen Freiheiten war. Da sind weiterhin zu nennen: Graf Putjatin, Graf Deljanow, N. P. Bogolegow, die nacheinander Minister für Volksaufklärung waren und den Universitäten den Rest ihrer Selbständigkeit raubten. N. P. Bogolegow ist sogar der berüchtigte Erfinder der temporären Massregeln, die einem Teil der Kiewer Studenten Gelegenheit gaben, über die Zukunft Russlands unter den sibirischen Kosaken, unter die sie zwangsweise auf 3 Jahre als gemeine Soldaten eingereiht wurden, nachzudenken. N. P. Bogolegow legte sein Amt dann auch unfreiwillig nieder, als die Revolver-Kugel eines empörten Studenten seinem Leben ein Ende bereitete. Da ist Manassejin, der Justizminister unter Alexander III. zu erwähnen, Graf Dolgorukow, der rücksichtslose Generalgouverneur von Moskau, General Bobrikow, der Usurpator-Gouverneur Finlands, der seine Diktatoren-Tugenden mit dem Tode bezahlen musste; da ist der glänzende Minister des Innern unter Nikolaus II., Ssipjagin, nicht zu vergessen, der einen Gesetzentwurf einbrachte, welcher ungefähr besagte: »Das Wesen der russischen Selbstherrschaft besteht darin, dass der Kaiser in allen Fragen ausschlaggebend zu entscheiden habe, und dass Jedermann mit seinem Anliegen sich an ihn wenden solle, denn nur zu seinem Kaiser habe das Volk unbegrenztes Vertrauen

Ist es nicht eine bittere Ironie der Geschichte, dass eben unter diesem Minister der Bittgang des Popen Gapon mit seinen zwanzigtausend Proletariern stattfinden musste? Der 22. Januar 1905 bewies dem russischen Volke, wie die russischen Zaren das »unbegrenzte Vertrauen ihres Volkes« zu würdigen wissen!

Und doch – was bedeutet hier die Person des Zaren, was bedeutet sein Name? Die Krone auf ein System, weiter nichts. Auf die Minister, die ohne Gewissen und ohne Pflicht das Staatsschiff der Revolution entgegenlenken, auf alle die vornehmen Vertreter der Bureaukratie falle die Verantwortung für die blutige Saat, die sie besorgt, für die blutige Ernte, die ihr folgen wird.

Über alle diese Beamte aber ragte ein Mann hinaus, der böse Schatten der zwei letzten Romanows, das Verhängnis Russlands, der grösste Reaktionär, der je die Netze der inneren Politik eines Landes in seiner Hand hielt, um sie unlösbar zu verwirren.

Das war Pobjedonoszew, der Oberprokurator des heiligen Synod. Peter der Grosse hat in dem »heiligen Synod« eine Staatsbehörde geschaffen, indem er 1721 den erledigten Patriarchenstuhl durch diese Einrichtung ersetzte, um auf diese Weise die Kirche in enge Verbindung mit dem Staat zu bringen. Dieser »heilige Synod« besteht aus den höchsten Würdenträgern der Kirche, die vom Kaiser gewählt werden. Der Oberprokurator repräsentiert die oberste Kirchenleitung und ist als höchster Beamter des Klerus der Stellvertreter des Zaren. Es gibt keinen Beschluss, der ohne Zustimmung des Oberprokurators Giltigkeit hätte. Und ein Mann mit solchen Machtbefugnissen war bestrebt, der inneren Politik Russlands seinen ultrareaktionären, individuellen Stempel aufzudrücken, und seinem Einfluss ist es in erster Linie zuzuschreiben, dass auch jede liberale Regung der letzten Jahrzehnte erstickt wurde, dass immer noch Tausende von Unschuldigen nach Sibirien wandern, dass jährlich ungezählte Opfer impulsiver Revolten fallen, dass Russland mit Riesenschritten der Revolution entgegengeht.

Seiner Initiative entsprang auch die Unterdrückung der akademischen Freiheiten, und mit seiner mächtigen Hilfe wurden die Universitäten unter Polizeiaufsicht gestellt, die studierende Jugend der Despotie von Kosaken und Hausknechten preisgegeben.

Nach den Statuten von 1835 steht den Universitäten das Recht zu, sich ihre Rektoren selbst zu wählen, und auch Vergehen von Studenten unterstanden dem Disziplinargericht des akademischen Senats. Diese Statuten wurden als ungeeignet befunden, und nachdem man erst die Studenten in militärische Organisationen gebracht, Geistlichen philosophische Lehrstühle eingeräumt und einen General zum Rektor der Moskauer Universität gemacht, nachdem man die opponierenden Studenten ausgewiesen, relegiert und verschickt hatte, nachdem man ohne viel Untersuchung Studenten scharenweise unter das Militär gesteckt und alle Akademiker samt ihren Professoren unter Polizeiaufsicht gestellt hatte, nachdem man sich in rigorosester Weise an altverbürgten Privilegien vergriffen hatte, wunderte man sich, dass an allen Universitäten Unruhen ausbrachen, war man empört, dass die Studenten sich mehr und mehr um die Fahne der revolutionären Partei scharten, kurz, dass die Träger der Intelligenz die Führer der Massen wurden.

Endlich ist Pobjedonoszew unter dem Drucke der Verhältnisse im Frühjahre 1905 zurückgetreten, und Zar Nikolaus fand nicht mehr das Machtwort, ihn zu halten. Der böse Geist schied aus dem Hause Romanow, aber sein Werk lebt vorläufig weiter. Auch das Verbrechen hat seine Unsterblichkeit, und ehe nicht die Ketzer der Gewalt der Religion der Freiheit unterworfen worden sind, wird auch das Feuer der Anbetung auf den Altären der Ignoranz und Schande nicht erlöschen.

Die Regierung stellte ihre blutigen Massnahmen (man erinnere sich an das Blutbad bei der Kasan'schen Kathedrale 1902 und den kommandierenden General Kleigels) als Folgen der ständigen Studentenunruhen hin, während diese Unruhen die unüberlegten Konsequenzen der ständigen Provokationen waren, denen die Universitäten seitens der Regierung preisgegeben wurden. Darum ist es auch eine falsche Auffassung der Sachlage, dass diese Studentenunruhen ausserhalb Russlands als »revolutionäre« Aufstände charakterisiert werden. Die revolutionäre Tendenz der Studenten ist unläugbar; allein sie werden nicht so unverständig sein, der Zeit vorgreifen zu wollen. Niemals haben hundert Studenten eine tausendjährige Regierung gestürzt. Diese ewig wiederkehrenden Unruhen tragen meist rein akademischen, sogar lokalen Charakter.

Jedenfalls hat die Bureaukratie ihr Möglichstes getan und tut es noch immer, die Intelligenz für den Befreiungskampf der kommenden Zeit zu erziehen, denn nur durch Logik, nie aber durch Gewalt ist eine natürliche Entwicklung aufgehalten worden. Das aber hat die russische Intelligenz wohl längst erkannt, dass nur eine gründliche Reorganisation aller Zustände das geplagte Land vor langsamem Dahinsiechen seiner besten Kräfte retten kann, und dass der Zeitpunkt, wo Reformen notwendig sind, nahe bevorstehen muss, leuchtet jedem Einsichtigen ein. Denn über dem Gesetz der Macht steht das Gesetz des Rechtes, und dieses mag lange geknebelt werden; es gibt eine Notwendigkeit, die stärker ist als jede Berechnung.

Man hat in den letzten Zeiten verschiedenemale eine Parallele zwischen den Zuständen Frankreichs vor der grossen Revolution und den heutigen Zuständen in Russland gezogen. Nicht mit Unrecht. Jeder Reformzeit gehen die gleichen Symptome voraus, und es unterliegt keinem Zweifel, dass die Uebergangsperiode von der mittelalterlichen Ordnung zu der Umgestaltung des Regierungssystems in Frankreich bedeutende Ähnlichkeiten mit der heutigen recht- und gesetzlosen Gesellschaftsordnung in Russland aufweist. Betrachten wir kurz die Ursachen der grossen französischen Staatsumwälzung: Von dem Adel war die Macht auf das Königtum übergegangen. Es verfügte frei und ohne Einschränkung über die Person des Bürgers, sein Eigentum, seine Einkünfte. Das Parlament war eine Scheinkörperschaft geworden. Der Adel zahlte keine Steuern, besteuerte aber auf seine Art wieder das Volk. Die Geistlichkeit lebte lediglich von den Abgaben des dritten Standes. Der Adel behielt alle Ämter für sich und versorgte die hohe Bureaukratie mit Beamten. Der König zeichnete den Adel aus, unterstützte ihn und sicherte sich durch alle möglichen Gnadenerweisungen seine Ergebenheit. Diese Gnadenerweisungen hatte, soweit sie finanzieller Natur waren, das Volk zu bezahlen. Allmählich liess der Gewerbefleiss nach, das Land verarmte, die Willkür trat an Stelle des Gesetzes, der Adel ward nach wie vor immer übermütiger, die Geistlichkeit immer unduldsamer, der König immer mehr das Werkzeug seines Hofes.

Zu gleicher Zeit hatte sich, unabhängig vom Protektorate des Adels, ein Aufschwung der Intelligenz bemerkbar gemacht, der vom Volke ausging und dessen Früchte das Volk pflückte. Es entstand eine politische und soziale Philosophie, die eine öffentliche Meinung schuf. Es entstanden Forderungen, die die Intelligenz an die Regierung stellte, und die das Volk als sein Eigentum beanspruchte. Kurz, »das Volk, das bisher nichts galt, nahm allmählich seine Rechte zurück; es hatte zwar keinen Anteil an der Gewalt, aber es wirkte auf sie ein. Das ist der Gang einer jeden Macht, die sich erhebt; bevor ihr eine Stelle in der Regierung eingeräumt wird, überwacht sie dieselbe von aussen, dann geht sie vom Recht der Kontrolle zu dem der Mitwirkung über«.

Verderbliche Kriege unterstützten den dritten Stand bei seinem noch geheimen Widerstand, indem sie den Staatsbankerott, der durch die unglücklichen Spekulationen Laws perfekt wurde, in drohende Aussicht stellten, und so kam der Zeitpunkt, wo das Volk, gekräftigt und gestärkt, geleitet und geführt von den höchsten Vertretern der unabhängigen Wissenschaft und Bildung, den Kampf mit dem Hofe und schliesslich einem Jahrhunderte alten System aufnahm und durchführte.

Russland steht heute durch einen unglücklichen Krieg, dessen tragisches Ende sich noch nicht absehen lässt, der aber jedenfalls das Land an den Rand des finanziellen und politischen Bankerotts zu bringen droht, in einem Übergangsstadium. Die Folgen verderblicher Kriege werden nur mit Hilfe eines gesunden Bauernstandes und einer fleissigen Industrie überwunden. Der Bauernstand in Russland ist verarmt. Dabei ist seit Aufhebung der Leibeigenschaft kein Gesetz geschaffen worden, das sich mit dem Eigentum der Bauern und der Regelung des Eigentumswesens befasst hätte. So herrscht unter der Landbevölkerung Verwirrung, Armut, und in vielen Landstrichen immer neu auftauchende Hungersnot.

Alle Macht liegt in den Händen des Zaren und durch diesen in den Händen der Bureaukratie, also des Adels und der Geistlichkeit. Derjenige Teil des Adels, der verarmt ist, wird, um keine Unzufriedenheit aufkommen zu lassen, an den Hof gezogen. Durch die »Adelsbank« ist ein eigenes Institut geschaffen, um die finanziellen Bedürfnisse des armen Adels zu befriedigen. So hat sich der Hof eine blinde Anhängerschaft unter den Vertretern der Aristokratie gesichert, ebenso wie er durch den Oberprokurator die Kirche auf seiner Seite hat. Das Volk aber muss für den Beamtenstand, der das Land ausbeutet und drangsaliert, finanzielle Opfer leisten, die in keinem Verhältnis zu seiner Leistungsfähigkeit stehen.

Auch in Russland gibt es einen dritten Stand. In seinem Kreise gährt es seit Jahrzehnten. Aus ihm geht die Mehrzahl der Studierenden hervor. Auch in Russland macht sich in den letzten Jahrzehnten trotz aller Unterdrückung und Zensur ein gewaltiger Geistesaufschwung bemerkbar. Männer wie Leo Tolstoi, Turgeniew, Dostojewskij, Gogol, und in neuester Zeit Tschechoff und Gorkij, haben einen ungeheuren Einfluss auf das Volk ausgeübt. Alle ihre Schriften tragen reformatorischen, ja revolutionären Charakter. Gesellschaftsschichten, die der Regierung nahe stehen sollten, haben sich unter dem Einfluss der Literatur, die moderne Ideen russifizierte, dem Volke und seinen Bestrebungen zugewandt. Und so stehen sich heute die Regierung mit ihren Trabanten und ihrem ganzen Beamtenapparat einerseits, das aufgeklärte Volk mit dem hungernden Proletariat anderseits gegenüber, und am 22. Januar 1905 kam es zu dem ersten Zusammenstoss, der verfrüht, aber doch bezeichnend war. Russland ist nicht Frankreich. Die Massen sind da nicht so beweglich wie im Westen. Noch ist der Horror zu stark, zu gewaltig. Aber doch ist das Unglaubliche schon geschehen: Das Volk hat protestiert.

Warum sollen die Zeitverhältnisse zwischen Frankreich und Russland stimmen? Die historische Notwendigkeit kommt, und dann ist sie unüberwindlich. Es handelt sich auch um eine moderne Revolution – wissen wir, wie sie sich gestalten wird? Vielleicht verläuft sie rasch, ohne schwere Erschütterungen. Vielleicht wird sie eine fürchterliche Eruption – wer kann das sagen? Wünschen wir, dass sich der Uebergang von der alten zur neuen Welt möglichst glatt und human vollziehe, und dass die tausendjährige Barbarei vor, nicht nach der Revolution ihr Ende finde; denn der entfesselte Fanatismus des »Volkes«, des vierten Standes, wäre dort schlimmer als in Frankreich. Der Franzose von St. Antoinette berauscht sich an Tiraden, der Russe vom Wassilij-Ostrow an Wutki. Möge Russland kein zweites Kischinew erleben, das noch keine Sühne gefunden hat!


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