Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

Die russische Regierung ist, wie genügend bekannt, eine autokratische. Der Kaiser ist Alleinherrscher mit unumschränkter Gewalt. Die oberste Reichsbehörde ist der Reichsrat, von Alexander I. begründet, der sich aus sämtlichen Ministern und den höchsten Würdenträgern des Reiches zusammensetzt. Als beratendes Parlament steht dem Kaiser das Minister-Komitee zur Seite, das aus zehn Ministern und einigen hohen Verwaltungsbeamten besteht. Das Minister-Komitee berät über Gesetzesentwürfe und wichtige Verwaltungsangelegenheiten. Die letzte Gerichtsinstanz für Staatsverbrechen usw. bildet der Senat, der in acht getrennte Departements zerfällt.

Das ganze Reich teilt sich in Gouvernements, von denen einzelne in Generalgouvernements zusammenfallen. Ausser Finland gibt es im europäischen Russland 60 Gouvernements. Jedes Gouvernement zerfällt in Kreise, diese wieder in Städte und Landgemeinden. Die Städte St. Petersburg, Odessa, Sebastopol und Kertsch unterstehen einem Stadthauptmann. Die Gouvernementsbehörden haben exekutive Gewalt. Ihnen zur Seite stehen die »Landschafts-Institutionen«, die den Adel und die übrigen Wähler (ausgenommen den Bauernstand) vertreten. Die Abgeordneten des Bauernstandes werden von den Wolostversammlungen gewählt und müssen vom Gouverneur bestätigt werden (!). Diese Landschaftsinstitutionen, in denen natürlich der Adel das numerische Uebergewicht hat, beraten über die ökonomischen Interessen des Gouvernements. Ausserdem gibt es noch Kreis-Semstwos, die einmal jährlich tagen.

Die Stadtverwaltung bildet der Stadtrat und das Stadtamt.

Der Bauernstand besteht aus Gemeinden, die zum grössten Teile gemeinsamen Grundbesitz haben. Gemeindeversammlungen, denen der Starost vorsteht, beraten über die Gemeindeangelegenheiten. Die Wolostversammlungen, von denen oben die Rede war, setzen sich aus Abgeordneten zusammen, von denen je einer immer zehn Höfe vertritt. Die Gemeindeverwaltung ist keine selbständige, weil sie durch einen Bezirkshauptmann überwacht wird. – Aus dieser kleinen Übersicht kann man die vollständige Abhängigkeit selbst der kleinsten Verwaltungsbehörden vom Staate erkennen.

Wir geben nun noch einen kurzen Abriss des russischen Strafkodex nach Georges Kennan's »Sibirien«, und zwar nehmen wir jene Paragraphen heraus, die zur engeren Beleuchtung der an dieser Stelle gekennzeichneten Zustände dienen. Wie enge Staat und Kirche in Russland zusammenhängen, wie also der Staat die Kirche und ihre Religion schützt, beweist der § 176, der besagt:

»Wer absichtlich und öffentlich in der Kirche eine Lästerung ausspricht gegen die allerheiligste Dreifaltigkeit, oder gegen die unbefleckte Muttergottes, die heilige Jungfrau Maria, oder gegen das glorreiche Kreuz Jesu Christi, unseres Heilandes, Herrn und Meisters, oder gegen die körperlosen Himmelsmächte, oder gegen Gottes Heilige und ihre Abbildungen: dem sollen alle bürgerlichen Rechte entzogen und er soll auf Lebenszeit verbannt und mit Zwangsarbeit von nicht unter zwölf Jahren und nicht über 15 Jahren bestraft werden. Wird ein solches Verbrechen nicht in der Kirche, sondern an einem anderen öffentlichen Orte, oder im Beisein einiger Personen begangen, sei deren Zahl gross oder klein, so sollen dem Verbrecher alle bürgerlichen Rechte entzogen werden und er soll auf Lebenszeit verbannt und mit Zwangsarbeit von nicht unter sechs Jahren und nicht über acht Jahren bestraft werden«.

§ 179 bestimmt, dass Jeder, der Zeuge eines in § 176 aufgeführten Verbrechens war, und es unterlässt die Behörde davon in Kenntnis zu setzen, mit Gefängnishaft von vier bis acht Monaten bestraft werde«.

§ 181 besagt, dass der, welcher in einem Druckwerke die rechtgläubige Kirche schmäht, aller bürgerlichen Rechte verlustig erklärt und nach dem entlegensten Teil Sibiriens verbannt werden soll. Das gleiche Schicksal droht dem Verkäufer der Schrift.

§ 188 lautet: »Wenn Jemand die orthodoxe Kirche verlässt und sich einer anderen christlichen Kirche anschliesst, so soll er der Kirchenbehörde zur Belehrung und Ermahnung zugewiesen werden. Seine minderjährigen Kinder sollen unter Vormundschaft der Regierung gestellt werden, sein Vermögen soll unter Kuratel kommen und er soll das Recht freier Verfügung über beide erst dann wieder erhalten, wenn er seine Irrtümer abgeschworen hat.«

§ 186: » Heiratet ein Jude oder ein Mohammedaner eine rechtgläubige Christin, und werden die aus einer solchen Ehe hervorgegangenen Kinder nicht im orthodoxen Glauben erzogen, so soll die Ehe für ungiltig erklärt werden, und der Verbrecher für lebenslang nach dem fernsten Teil Sibiriens verschickt werden.«

Der Teil des russischen Strafkodex, der von den »Verbrechen gegen den Selbstherrscher des Reiches und sein Ansehen« handelt, beginnt mit der Bestimmung:

» Jeder arge Anschlag und jeder verbrecherische Angriff auf das Leben, das Wohl oder die Ehre des Zaren, jede Absicht, ihn zu entthronen oder seine allerhöchste Gewalt in seiner freien Ausübung zu hindern oder einzuschränken, jede Gewalttat gegen seine geheiligte Person soll für den Verbrecher mit Verlust aller bürgerlichen Rechte und mit der Todesstrafe verbunden sein.«

§ 242 besagt, »dass es als wirkliches Verbrechen gelten soll, wenn der Verbrecher einen solchen Gedanken oder Anschlag in Wort oder Schrift zum Ausdruck gebracht hat

§§ 243 u. 244 bestimmen, dass die Todesstrafe ferner in Anwendung gebracht wird »gegen Personen, die den Missgesinnten oder Missetätern Zuflucht gewähren, für alle, die von so argen Plänen oder Taten Kenntnis haben und es unterlassen, die Behörde davon zu verständigen, endlich für alle, die eine Gewalttat gegen einen Soldaten oder eine Schildwache anwenden, die zum Schutze des Zaren bestimmt ist.«

§ 246 stellt fest, dass jeder, »der beleidigende Worte gegen den Zaren gebraucht, oder absichtlich dessen Bild, Statue, Büste, oder eine andere öffentliche Darstellung beschmutzt oder zerstört, als Majestätsverbrecher zum Verlust aller bürgerlichen Rechte, zur Verbannung nach Sibirien für die Lebensdauer und zu Zwangsarbeit von nicht unter sechs Jahren und nicht über acht Jahren verurteilt werden soll.«

§ 266 besagt, dass »jeder, der eine schriftliche oder gedruckte Aufforderung verfasst, die geeignet ist, zu Aufruhr oder Ungehorsam zu verleiten, zum Verlust aller bürgerlichen Rechte, zur Verbannung für die Lebensdauer und zu Zwangsarbeit von nicht weniger als acht Jahren verurteilt werden soll.«

§ 281 lautet: »Wer schuldig befunden wird, Schriftstücke verfasst oder verbreitet zu haben, die sich in unerlaubter Kritik der Verordnungen und Massregeln der Behörden ergeht, soll mit Gefängnis nicht unter sechzehn Monaten bestraft werden.«

§ 325: »Wer das Vaterland verlässt und ohne Erlaubnis der eigenen Regierung in einen fremden Staatsdienst tritt, oder Untertan eines anderen Staates wird, der soll wegen Verletzung der Untertanentreue und des Huldigungseides alle bürgerlichen Rechte verlieren und für ewige Zeiten Landes verwiesen werden. Kehrt er zurück, so soll er für die Lebensdauer nach Sibirien verbannt werden.«

§ 327: »Wer ohne Bewilligung der Regierung und ohne triftigen Grund länger im Ausland lebt, als es Personen seines Standes gesetzlich erlaubt ist, der soll als vermisst gelten und sein Besitztum unter Staatskuratel gestellt werden

Diese kleinen Zitate aus dem Strafkodex ohne Kommentar!

»Sie beweisen, welche Macht in die Hände des Richters gegeben ist, noch dazu eines Richters, der sich nahezu unbegrenzter Verantwortungslosigkeit erfreut. Es sei dem aufgeklärten Geiste jedes Lesers überlassen, nach diesen kleinen Proben zu beurteilen, ob der russische Staatsbürger das Recht hat, eine gründliche Revision seines Gesetzbuches anzustreben. Wenn er dieses Recht hat und Gebrauch davon macht, dann sei bemerkt, dass er »die bindende Kraft der Gesetze bezweifelt oder bestreitet und die Gesetze in Missachtung bringt, wofür er zu Gefängnisstrafe von nicht unter zwei Monaten verurteilt werden wird«.

Er darf also seine Meinung über das Gesetzbuch überhaupt nicht zum Ausdruck bringen. Er muss schweigen, oder an jenem heimlichen, ungesetzlichen Kampf teilnehmen, der ihm aufgezwungen wird, weil man ihm einen friedlichen Protest nicht gestattet.

Solche Gesetze beanspruchen nicht nur ein ausgedehntes, kostspieliges Rechtswesen, sondern auch eine zahlreiche Polizei, der eine fast unbeschränkte Machtbefugnis bei Verhaftungen eingeräumt ist. Sie besteht aus der regulären und geheimen Polizei, die unter dem Justizministerium steht. Kennan hat in seinem bereits zitierten Werke eine Reihe von Verordnungen angeführt, um darzutun, um was sich die Polizei in Russland kümmert. Wir greifen einige Titel-Angaben heraus:

7. Aufhebung der Transportbeschränkung für Talg.

9. Über Mineralwasserverbrauch der kranken Offiziere.

11. Vorschrift, wann Polizisten und andere Beamte die Mützen mit weisser Leinwand überzogen tragen sollen.

14. Verordnung über den Druck von Zigarettenpapier.

15. Verbot für Provinzial- und Gemeinderäte, sich über Angelegenheiten zu äussern, die nicht in ihrer Kompetenz liegen.

18. Regelung des Knochentransportes.

20. Verbot des Gebrauchs von Schulbüchern, die nicht von der Behörde empfohlen wurden.

21. Geeignete Methode, die Beine der Rekruten zu messen.

22. Über Lehrerversammlungen.

26. Kontrolle von gedruckten. Preislisten, Einladungs- und Visitenkarten.

27. Die Klosetteinrichtungen betreffend.

Das sind einige Verordnungen von tausend.

Die russische Polizei zerfällt in vier Abteilungen:

1. die Landpolizei,

2. die Stadtpolizei,

3. die Geheimpolizei,

4. die Gendarmerie.

Wo die Polizei nicht ausreicht, ist stets und überall Militär bereit, sie zu unterstützen, und die Nagaika des Kosaken ist gefürchteter als der Säbel des Zasedatel oder Isprawnik.

Die Zustände in Sibirien, die Schrecken des administrativen Verfahrens, das Leben in den Gefängnissen, alle die Rechtsbrüche, Katastrophen und Dramen, die in Russland an der Tagesordnung sind, dürften aus dem epochemachenden Werke Georges Kennan's: » Sibirien« und » Russische Gefängnisse« allgemein bekannt sein. Wir können es uns also sparen, die markantesten Stellen zu zitieren, verweisen aber noch auf folgende Werke, die über die Zustände im europäischen Asien erschöpfend Aufschluss geben. Das sind: Parvus: »Das hungernde Russland«, Fürst Peter Krapotkin: »Erinnerungen eines Revolutionärs«, John Henri Mackay: »Die Anarchisten«, ***: »Russland am Vorabend des XX. Jahrhunderts«, deutsch von Dr. Erich Geibel u. a. m.

*


 << zurück weiter >>