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Als Ilse am nächsten Tage Gräfin Helmstedt besuchte, begrüßte diese sie mit den Worten: »Ich habe schon alles über den gestrigen Abend gehört. Wolf Walden war bei uns und hat mir erzählt, wie schön Sie seinen Gesang begleitet haben!«

Und Ilse antwortete ganz schlicht: »Ja, dieses Begleiten hat mich so glücklich gemacht, daß ich darüber ganz vergaß, wie sehr ich mir doch früher wünschte, in der Musik Selbständiges zu leisten.«

»Selbständige Leistungen,« sagte Gräfin Helmstedt sinnend, »sind für Frauen recht oft nur Notbehelfe, weil ihnen nicht das Glück wurde, einen anderen mit ihrem Herzen begleiten zu dürfen – das wird den meisten von uns doch stets das Liebste bleiben.« –

Ilse traf Walden von da an beinahe täglich. sie sahen sich auf den Bällen, Diners und Jours, den Wohltätigkeitsfesten und Ausstellungen – bei all den Veranstaltungen eines Berliner Winters, wo die Menschen zusammenkommen, sie wissen oft selbst nicht recht warum. Und außerdem fanden sie sich bei Gräfin Helmstedt. Da musizierten sie zusammen, denn Walden hatte, gleich nach dem ersten Versuch bei Tolck-Engels, erklärt, niemand akkompagniere so wie Ilse. Dadurch war dauernd wie durch ein Wunder der nagende Schmerz um die eigene Stimme von ihr genommen. Sie dachte kaum noch daran. Aber zwischen ihr und dem, der dies Wunder bewirkt, war ein geheimnisvoller Zusammenhang geschaffen.

Bei all ihren Zusammenkünften sprachen sie indessen kaum je etwas, das nicht jeder hätte hören können, doch es war, als hätten all ihre Worte einen verborgenen, nur ihnen beiden bekannten Sinn. So lebten sie in einer sie von allen Übrigen absondernden Atmosphäre. Und einer fühlte des anderen Nähe, noch ehe sie sich sahen. Dann gewann alles plötzlich Bedeutung, was vorher trivial und langweilig erschienen. – Ja, es waren wirklich zwei sehr verklärende Augenpaare, die auf diesen Berliner Winter schauten, der die meisten Leute doch so gleichgültig und stereotyp dünkte, wie die vielen anderen, die ihm vorangegangen!

Wie war das so rasch über sie beide gekommen? wie hatte es angefangen? Das war nachher so schwer zu sagen. Es schien, als sei es von aller Ewigkeit an so gewesen.

Und was hatte Ilse unter den vielen jungen, eleganten und liebenswürdigen Männern, die sie kennen lernte, gerade zu diesem einen so sehr hingezogen? Auch das war nachher schwer zu sagen. Vielleicht daß sie gleich fühlte, wie sehr sie ihn anzog. Aber diese Erklärung warf ja eigentlich nur eine neue Frage auf.

Zwei Körnchen Staub mußten sie wohl sein, die der Wind zusammenblies. »Aber beseelt ist solcher Staub,« sagen die Menschen, »da muß er doch Rechenschaft geben können?« »Ja, über Mark und Pfennige ist das leicht, liebe Oberrechnungskammer, aber über das Entstehen von Gefühlen? Über all das Unbewußte, das in solchem Staubkörnchen schlummert?«

Und Ilse dachte auch in jener ersten Zeit gar nicht an Verantwortung und Rechenschaft.

Sie war wie von einem Strom ergriffen, gegen den es keine Wehr gab, der so stark war, wie nur das ganz Naturgemäße ist. Sie erlebte all das Süße, Wunderbare, das in ihren Jahren zu erleben jedes Menschen schönes Recht sein sollte, und all dies war so völlig im Einklang mit dem von der Natur gewollten, wie daß die Bäume im Frühling knospen, und die Nachtigallen in warmen Nächten sehnsüchtig schlagen. Nur was die Menschen ihrer Unwissenheit vorher angetan, daß sie schon verheiratet war, – das hätte nicht sein dürfen. Was das Gesetzmäßige schien, das war hier das Unsittliche.

Sie empfand dies aber noch nicht mit völliger Klarheit, sondern ließ sich treiben auf dem großen Strome, schloß die Augen vor den Konflikten, zu denen sie unerbittlich kommen mußte. Und sie konnte es, weil noch nichts zwischen ihnen beiden ausgesprochen worden, weil sie noch in einem seligen Traume lebten.

Später dann, als sie sich jede liebe Einzelheit jener Zeit zurückzurufen begann, um sie wie einen großen Schatz zu bewahren, erinnerte sie sich, daß sie damals zuweilen gedacht: dem gefalle ich, wie ich bin, der will nicht immer an mir ändern – und wie neu es ihr gewesen, durch ihr bloßes Sein beglücken zu können. Sie erinnerte sich auch, wie gern sie ihn hatte aus der fernen, weiten Welt erzählen hören, von der er so viel gesehen. Durch ihren Verkehr mit Helmstedts war ja ihr Interesse gerade für manche der Fragen, die Walden beschäftigten, schon geweckt worden. Aber sie merkte durch seine Gespräche doch erst recht, wie viel es in der Welt noch gab, wovon so eine zwanzigjährige Matrone wie sie rein gar nichts wußte! – Das Schönste aber war, daß sie ihn ohne Scheu nach allem fragen konnte, denn hinter allen weicheren und noch verschleierten Gefühlen bestand von Anfang an etwas Kameradschaftliches zwischen ihnen. Eine gewisse selbstverständliche Sicherheit, daß einer dem anderen helfen würde, und man sich aufeinander verlassen konnte. Er nahm auch nie die gewisse männliche Überlegenheitspose an, vor der Ilse so oft verstummt war. Sie fühlte sich ihm gegenüber, bei aller Anerkennung seines größeren Wissens und weiterer Erfahrung, doch nie als Wesen zweiter Kategorie, dem angedeutet wird, daß es gewisse Dinge nie begreifen werde, wenn er mit ihr sprach, verstand sie eben auch alles. – Selbst die Politik, die ihr in den gelegentlichen Gesprächen der Gutsnachbarn stets als ein noch öderes Gebiet wie die allersandigsten Weltsödener Felder erschienen war, zeigte, von ihm erläutert, plötzlich ganz neue Seiten. Freilich drehte es sich bei seinen politischen Betrachtungen nicht immer nur um die Höhe der Schutzzölle, die gegen fremde landwirtschaftliche Produkte zu erheben seien, – es gab offenbar noch andere Gesichtspunkte, von denen aus die Beziehungen zwischen den Nationen beurteilt werden konnten.

Vor allem aber wies Walden Ilses Begeisterungsfähigkeit neue Ziele. Erst durch ihn, den Eingewanderten, wurde in ihr der Patriotismus entfacht, die Liebe zum Lande, dem wir entstammen, das Bewußtsein, ihm unendlich viel zu verdanken und zu schulden. Vaterland bedeutete für Ilse bisher das kleine Städtchen, in dem ihre kurzen Mädchentage verstrichen, und Weltsöden, wo sie sich so völlig fremd gefühlt. Er aber lehrte sie nun das weite Vaterland kennen, in seinen Leistungen, seinen Bedürfnissen. Sie ließ sich gern von ihm erzählen, wie es ihn selbst zurückgezogen in dies Land, aus dem ferne Ahnen einst ausgewandert, und wie er ihm nun dienen wollte und wie er auch hoffte, in diesem Dienste Besonderes leisten zu dürfen. In solchen Worten lag aber nicht jenes persönliche Strebertum, das Ilse, sogar in ihren kurzen Berliner Erfahrungen, schon an so manchem bemerkt hatte, sondern ein jugendlich schwungvoller Glaube sprach daraus, beinahe ein Fanatismus. Nicht Karriere, sondern innere Berufung war Walden sein Amt. Und wenn sie ihm lauschte, dann liebte auch sie die Riesenstadt bis auf die Bäume des Tiergartens, und das ganze große Reich samt seinen vielen Bewohnern mit einer neuen großen Liebe. Diesem Reich auf vorgeschobenem Posten zu dienen und sein Ansehen draußen in der Welt zu mehren, das waren wahrlich Aufgaben! Und ein großes Sehnen erfüllte sie, – ach wer da mit könnte und helfen dürfte!

Ilse fühlte sich wachsen und werden. Sie gewahrte an der Freude, die Walden offensichtlich empfand, ihr seine Ideen und Pläne mitzuteilen, daß sie doch wohl befähigt sein müsse, auch schwierigen Fragen Verständnis entgegenzubringen. Das machte sie froh und zuversichtlich. Sie legte die in Weltsöden ihr erwachsene ängstliche Scheu ab, ward lebhafter im Gespräch, freier im Äußern ihrer Ansichten. Und auch ihr Aussehen gewann unter dieser inneren Wandlung. Man nannte sie jetzt nur noch »die hübsche Frau von Zehren.« Sie selbst begann mehr an ihr Äußeres zu denken – denn es war ja nun einer da, dem sie so deutlich anmerkte, daß er Wert darauf legte und Freude empfand an der Bewunderung, die sie erregte. Sie war ihm dankbar für all das Freudige, das er in ihr Leben gebracht.

Ja, freudig schien es – und mußte doch unendlich schmerzlich werden. Denn es konnte ja nicht ausbleiben, daß Ilse dazu kommen mußte, Vergleiche anzustellen. Daß sie keine glückliche Frau sei, wußte sie ja längst. Aber wie unglücklich und vereinsamt sie war, erkannte sie doch erst jetzt völlig, wo sie inne wurde, wie das Leben hätte sein können. Eheliches Unglück tritt ja meist erst dann ganz klar ins Bewußtsein, wenn der Andere erscheint. Und der Andere bleibt in solchen Fällen selten aus.

*

Walden hatte Ilse einmal beschrieben, wie er klopfenden Herzens zum ersten Male in das Auswärtige Amt getreten war, mit wie großen Erwartungen und ehrfürchtiger Scheu er sich dort umgesehen hatte. Ihm erschien die Wilhelmstraße ja nicht als jener stille Ozean der Langenweile, den Fontane einst darin erblickte, sondern sie war ihm der Weg zu diesem einen Hause, wo die großen Geschicke der Nation entschieden werden. Da wirkten und webten die Männer, die berufen waren, das Ansehen und die Interessen des Reichs in der ganzen Welt zu wahren, feindliche Ränke frühzeitig zu durchschauen und unschädlich zu machen, und die Stimme Deutschlands jederzeit mit dem Nachdruck zur Geltung zu bringen, die der dahinter stehenden Macht entspricht, – die dafür sorgen sollen, daß die Freundschaft eines starken Deutschlands als jenes begehrenswerte Gut bewertet bleibe, zu dem sein größter Sohn sie einst gemacht. Auf die Tätigkeit in diesem schlichten grauen Hause blickten ja auch die vielen im ganzen Weltall verstreuten Stammesbrüder, und jeder Erfolg, der hier errungen wurde, hob fortwirkend auch deren Mut und Lebenskraft. Menschen, die in den einsamen Wäldern Süd-Chiles oder dem Gewühl nordamerikanischer Riesenstädte lebten, die in den flachen Geländen des Ostseestrandes unter fremder Herrschaft standen, oder in Wolfs eigener Heimat, dem bergigen Sachsenlande Siebenbürgens, seit bald achthundert Jahren ihre Eigenart bewahrten – sie alle empfanden, wenn der Wilhelmstraße etwas gelang, ein stolzes Gefühl der Blutsgemeinschaft.

Wenn Ilse jetzt selbst einmal hier vorbeikam, schaute auch sie mit neu erwachter Ehrerbietung auf das Gebäude, an dem sie vor Waldens Kommen achtlos vorüber gegangen war, und das nun durch seine Worte so viel Bedeutung gewonnen hatte. Und sie wollte auch wissen, was die unscheinbare Außenseite im Innern barg, und ließ sich immer ausführlicher darüber von Walden erzählen. Vielleicht mochte sie dabei selbst glauben, daß ihre Fragen abgeklärtem Interesse an dieser historischen Stätte entsprangen, aber in Wahrheit wollte sie sich doch nur die Räume vorstellen können, in denen er seine Tage verbrachte.

Gleich vom Torweg an mußte er beginnen und die Tür beschreiben, die sich, durch einen Draht gezogen, nach innen öffnet und beim Zugehen einen seltsam glucksenden Ton von sich gibt. »Wie unterdrücktes Schluchzen abgetakelter Exzellenzen,« sagte Walden lachend, mit dem siegessicheren Frohsinn der Jugend, der die Zeit, da auch sie einst nur noch in Erinnerungen leben wird, so endlos ferne scheint. Der Portier mit der roten Nase, die so fein wittert, wessen Stern im Steigen begriffen und wer den Zenith der Karriere bereits überstiegen hat, dünkte Ilse eine wichtige Persönlichkeit, beinahe ebenso geheimnisvoll wie die beiden Sphinxe, die rechts im Innern die Freitreppe bewachen und dem hoffnungsvollen Attaché ebenso wehmütig spöttisch nachzulächeln scheinen, wie dem müden zittrigen Botschafter. Das Vestibül oben mit den Kandelabern aus der Empirezeit kannte Ilse durch Wolfs Beschreibungen und das Kuppeldach, durch das das Auge zum diplomatischen Himmel blickt. Sie wußte jetzt auch, daß es ein Allerheiligstes gibt, so »politische Abteilung« heißt, und daß Kanzleidiener in Frack und Orden, auf die durch langjährigen Verkehr etwas von geheimrätlicher Würde übergegangen ist, der verborgenen Staatssekretär-Gottheit die Besucher melden.

»In dem großen Wartezimmer,« sagte Walden, »hängt ein Porträt Friedrich Wilhelm III., und wie ich zum ersten Male dort stand, und zu dem Bilde dieses unschlüssigen und unglücklichen Königs aufsah, war es erhebend, daran denken zu können, daß in diesem selben Hause dann der große Mann gewohnt und gewirkt hat, der die Schmach tilgte, die jenem einst geschah.«

Wenn Ilse Walden so reden hörte, stellte sie ihn sich vor, wie er in dem grauen Hause in einem langen schmalen Zimmer saß, das einen einfachen gelben Schreibtisch, ebensolche Bücherregale und ein Ripssofa enthielt, dessen Sprungfedern seit Jahren zerbrochen waren – und voller Stolz sagte sie sich, daß er, in dieser aller welschen Verweichlichung abholden Umgebung, nun auch mit daran arbeitete, daß die Sonne nie wieder Tage der Schmach bescheinen könne.

In Gesellschaften, wo Ilse, wie die Mehrzahl deutscher weiblicher Jugend, bisher die Männer bevorzugt hatte, die das Vaterland mit der Waffe verteidigen, suchte sie nun jene mehr auf, die ihm hauptsächlich mit Wort und Feder dienen. Abende, wo sie Herren des Auswärtigen Amtes traf, erschienen ihr durch diesen Umstand allein schon reizvoll. Sie empfand vor ihnen eine gewisse Scheu, wie vor großen Zaubermeistern, deren Tätigkeit unerklärlich ist, und diese Herren wären sicher selbst am erstauntesten gewesen, wenn sie geahnt hätten, welchen Nimbus sie in den Augen dieser hübschen, jungen Frau besaßen. Sie verklärte sie und dichtete sie um – nur weil sie täglich mehrere Stunden mit Wolf zusammen waren. Am glücklichsten aber fühlte sich Ilse, wenn es ihr bei solchen Gelegenheiten gelang, das Gespräch auf Wolf selbst zu bringen, und voll heimlichen Stolzes vernahm sie, daß ihm eine große Karriere prophezeit wurde.

*

In jenen Tagen fanden gerade parlamentarische Debatten statt, in die Wolfs höchste Vorgesetzte eingriffen. Da begann Ilse sich sogar für den Reichstag zu interessieren, und sie studierte in den Zeitungen die Sitzungsberichte, ganz wie sie einst, da der blaue Märchenritter in ihrem Leben herrschte, ihm zu Liebe Torte gegessen und den frühen Predigten eines Militärpfarrers gelauscht hatte. Was sie nicht verstand – und es war dessen recht viel – mußte ihr Walden erklären.

Unter solcher Führung lernte sie nun freilich nicht den Reichstag selbstbewußter Abgeordneter kennen, die in sich die Beaufsichtiger und Erzieher der Regierung erblicken und wähnen, daß alles im Lande zum besten stände, wenn nur ihre Machtbefugnisse vermehrt würden. Nein, sie sah den Reichstag, wie er Regierungsvertretern erscheinen mag – als einen gefährlichen Kranken, den man nun mal im Hause hat und mit dem man auskommen muß, der sich im allgemeinen ja auch leidlich harmlos benimmt und wohl selbst kaum ahnt, wie furchtbar er in seinen Ausbrüchen werden könnte, den es daher gilt, mit freundlichen Worten und Beschwichtigungsmitteln in möglichst ruhiger Stimmung zu erhalten.

Noch nach vielen Jahren erinnerte sich Ilse mit besonderer Deutlichkeit an eine bestimmte Reichstagssitzung, der sie in der Abgeordnetenloge beigewohnt hatte. Theophil zeigte eine gewisse herablassende Genugtuung, als sie ihn bat, ihr ein Billett dafür zu verschaffen, denn er sollte an dem Tage selbst reden, und da erschien es ihm ja nur schicklich, daß seine Frau ihm in Ehrfurcht lauschen wollte.

Es handelte sich um eine Nachtragsforderung für die Subventionierung eines der lieben Koloniechen, in denen nicht alles geht, wie es gehen sollte, und wo immer irgend etwas Unerwartetes passiert, was, wie die meisten unvorhergesehenen Dinge, nachher mit Geld ausgeglichen werden muß. Ilse stand ganz auf seiten der Regierung und entdeckte in sich ein überraschend großes Verständnis für die Bedürfnisse der lieben Landsleute im fernen Erdteil. Sicherlich sollten doch diese armen Menschen das bißchen Geld erhalten! Und es war auch gar nicht verwunderlich, daß Ilse sich für die Regierungsvorlage so warm begeisterte, denn sie blickte ja von ihrer Tribüne nicht nur herab auf die mehr oder minder kahlen Staatsmännerschädel, in denen der Weg erdacht wird, auf dem Deutschland zu Ruhm und Ehre geführt werden soll, sondern zwischen diesen ehrwürdigen, verantwortlichen Häuptern sah sie auch jüngere Herren der verschiedenen Ministerien, die ihren Chefs in kritischen Lagen, gleich aufmerksamen Sekundanten, mit Akten und Notizen hilfreich beisprangen – und unter diesen jüngeren Herren befand sich an jenem Tage als einer der eifrigsten auch Wolf von Walden.

Theophil dagegen, der als Redner der Rechten auftrat, griff die Vorlage an, denn es war eine der seltsamen politischen Konstellationen, wo die staatsgetreuen Konservativen es mit ihren Prinzipien für vereinbar hielten, der Regierung die Gefolgschaft zu verweigern. Irgendein geheiligtes agrarisches Interesse mußte vielleicht durch die Unterstützung dieser Kolonie gefährdet scheinen.

Von seiten der Regierung wurde ihm dann mit jener auf Erstaunen beruhenden Schärfe geantwortet, die gerade die Vergehen sonst artiger Lieblingskinder hervorzurufen pflegen.

Bei dieser ungewohnt energischen Abfuhr, die dem Abgeordneten des Kreises Sandhagen zuteil wurde, blickten unwillkürlich mehrere seiner Fraktionsgenossen zu Ilse in die Höhe, und auch aus der Diplomatenloge richteten sich auf sie manch neugierige und bedauernde Blicke. Sie aber empfand nicht nur völlige Gleichgültigkeit ob Theophils Bedrängnis, sondern es regte sich beinahe eine kleine uneingestandene Genugtuung in ihr, daß ihm, dem mit dem Anspruch auf Unfehlbarkeit so gern Dozierenden, einmal so kräftig widersprochen wurde. –

Ja, da unter des Reichstags goldener Kuppel fühlte sie es einmal wieder mit voller Gewalt, wie gänzlich fern und fremd er ihr war. Mochten auch Bahnen gebaut und Dampferlinien subventioniert werden, die weiße und schwarze Menschheit einander näher bringen – für sie beide, die gesetzlich eins waren, gab es keine solche Möglichkeit!

Als Ilse später aus dem Reichstagsgebäude trat, wehte ihr, nach der Schwüle drin, der Duft ersten Frühlings wohltuend entgegen. Es begann bereits zu dämmern, und im Zwielicht tauchte plötzlich Walden vor ihr auf. Als ob er da gewartet hätte.

»Sie wollen wohl noch zu Gräfin Helmstedt?« fragte er, und als Ilse bejahte, fuhr er fort: »Ich gehe in derselben Richtung, darf ich Sie ein paar Schritte begleiten?«

Sie nickte nur. Ihr Herz pochte plötzlich so stark.

Dann gingen sie zusammen zwischen den vielen, vielen Menschen. Und doch hatte sie gerade da im Gewühle all der unbekannten Existenzen die Empfindung, zum ersten Male ganz allein mit ihm zu sein. Und das war wie ein großes Glück.


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