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Der Spätherbstwind strich wieder über das flache Land, und aufblickend sah Gräfin Helmstedt, wie er an ihrem wohlgeschlossenen Fenster die gelben Blätter vorüberjagte. Ein Vollstrecker der Gebote der Verschwenderin Natur schleuderte er das Gold durch die Lüfte.

Gräfin Helmstedt saß in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Es war ein stiller, beruhigend wirkender Raum, graugrün, von der Farbe ferner, in Nebel getauchter Wälder. Kein Zimmer für viele. Nur wenige bequeme Sessel und daneben zu steter Benützung bereit liegend einige Lieblingsbücher auf niedrigen Etagéren. Ein offener Flügel und als einziger Bildschmuck über dem Kamin ein Porträt ihres Mannes.

»Wenn wir, wie die Chinesen ihren Palasthallen, jedem unserer Wohnräume einen symbolischen Namen verliehen, so würde ich dies das Zimmer der bleibenden Lebenswerte nennen,« hatte Gräfin Helmstedt einmal zu Ilse gesagt. –

Ein angefangener Brief lag auf dem Schreibtisch, und nachdem die Gräfin eine Zeitlang den vorbeiflatternden Blättern draußen sinnend nachgeschaut, schrieb sie weiter: »... so sind wir denn mit kurzen Unterbrechungen bald anderthalb Jahre hier, lieber Walden, viel länger, als wir anfänglich zu bleiben beabsichtigten. Und eigentlich nur, weil es uns unmöglich schien, unsere Nachbarin zu verlassen, die kleine Ilse, über die Sie mir damals zuerst geschrieben haben, und die seitdem in unser Leben hineingeflattert ist, wie ein armes zerzaustes Vögelchen, das man streicheln und liebhaben muß. Bald nach ihrer eigenen Krankheit kam die Nachricht vom plötzlichen Tode ihres Vaters, und der hat sie sehr mitgenommen, nicht so sehr, weil sie sich immer besonders nahe gestanden hätten, als weil sie während des Vaters Hiersein erst erkannten, wie viel sie sich hätten sein können. – Mir will es ja überhaupt scheinen, als ob so manches Gebäude erinnernder Liebe nicht die Trauer um das, was war, sondern um das, was hätte sein können, zur Grundlage hat. – Wir suchten Ilse über die ersten so schweren Zeiten hinwegzuhelfen. Sie hatte es nötig, denn im eigenen Hause fand sie wohl wenig Trost. Da herrscht nämlich nur Erbitterung über den Verstorbenen, der, unmittelbar vor seinem Tode, sein Vermögen derart festgelegt hat, daß die Tochter nur über die Zinsen verfügen kann. – Das gab eine arge Enttäuschung für die Zehrens, die auch dies Kapital gar zu gern ihrem Landesmeliorationsmoloch geopfert hätten. Die Stimmung, in der sie sind, erkannte ich, als neulich der Kummerfelder zum Weltsödener sagte: »Wenn dein Schwiegervater dies alberne Testament, statt beim Justizrat Schilderer in Berlin, in seinem eigenen Schreibtisch aufbewahrt hätte, und es wäre dir in die Hände gefallen, so hättest du es vernichten sollen.« – »Dabei würden sie mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen sein,« bemerkte mein Mann. – Aber ich glaube wirklich, wo es sich um das Heil ihres Grund und Bodens handelt, hören alle Skrupel auf.

Nachdem wir aber zuerst nur aus Gefühlsgründen für Ilse geblieben waren, sind wir jetzt praktisch in ihrem Dienste hier tätig. – Der bisherige Reichstagsabgeordnete dieses Kreises ist nämlich kürzlich gestorben, und für die Neuwahl ist Herr von Zehren-Weltsöden als »unser Kandidat« aufgestellt worden. Sie können sich denken, wie gleichgültig es mir eigentlich ist, wer gewählt wird – ich habe zu lange im Auslande gelebt, um zu fragen, zu welcher der vielen hiesigen Parteien einer gehört, ob Fortschrittler, Nationalliberaler, Zentrumsmann – da draußen erschienen sie mir alle als dasselbe: Landsleute meines Mannes, – Deutsche. Und jeder, der kam, war willkommen. Auch dem Sozialdemokraten, der meines Mannes Muttersprache spricht, hätte ich gern die Hand gereicht. – Aber vielleicht kann ich ja nur deshalb so deutsch empfinden, weil ich eben keine geborene Deutsche bin. – Für diese Wahl hier bin ich aber Feuer und Flamme, als ob ich eine fanatische Politikerin wäre. Freilich nur aus ganz subjektiven Gründen, was ja bei weiblichen Überzeugungen häufig der Fall sein soll: um Ilse zeitweilig wenigstens in die angenehmeren Lebensbedingungen von Berlin zu verhelfen. – Und so sind wir denn hier, damit mein Mann, was er etwa an Einfluß auf Wähler besitzt, zu Gunsten des feierlichen Herrn von Zehren einsetze. – Unverdientermaßen werden wir von den Nachbarn ob dieses Eintretens für ›die gute Sache‹ sehr gelobt. ›Sie fangen doch an, für die wahren Interessen des Landes Verständnis zu gewinnen‹ sagte neulich die verwitwete Frau Mechtild von Zehren über uns. – Ich aber mußte dabei an all die Jahre draußen in der Ferne denken; welche Interessen, glaubt sie, vertraten wir denn dort? –

Sobald die große Schlacht hier vorüber und hoffentlich gewonnen sein wird, gehen wir nach Berlin. Schade, lieber Walden, daß Sie nicht auch dort sind! wir stehen ja nun außerhalb der Dinge, aber die herzliche Teilnahme für die Freunde, die noch tun und wollen, ist wach in uns geblieben, und ich hörte Sie gerne einmal wieder mit Ihrem schönen Enthusiasmus von den Aufgaben reden, die Sie hoffen, einst lösen zu dürfen. Besonders gern aber hörte ich Sie auch wieder singen.« –

Gräfin Helmstedt schloß den Brief und adressierte ihn an den Baron Wolf von Walden, Deutsche Gesandtschaft, Tanger.

Nachdem der Brief über das blaue mittelländische Meer gereist und in der Hafenstadt des vielumstrittenen afrikanischen Reiches angelangt war, wurde er von einem braunen Boten hinaus zum Zeltlager gebracht, wo jüngere Diplomaten verschiedener Nationalitäten gerade kampierten und sich im edlen Sport des pig-sticking übten. – Einem schlanken, blonden, sonnengebräunten Mann, der nach scharfem Ritt in einem Klappstuhl vor seinem Zelte lehnte, übergab der Bote den Brief. Blaue Augen lasen ihn, blickten dann sinnend hinaus und gewahrten doch nicht mehr die afrikanische Landschaft mit der zufälligen internationalen Staffage – sahen statt dessen in weiter Ferne das Bild der Schreiberin, der Frau mit den bald silbern, bald golden schimmernden Haaren und den zeitlosen Gewändern. Und neben diesem Gesicht, das Walden kannte, seitdem er als jüngster Attaché seine Laufbahn an einer Botschaft begonnen, tauchte ein anderes auf, das er nur ein paarmal und ganz flüchtig vor zwei Jahren gesehen, und das doch, wenn es ihm seitdem bisweilen vorschwebte, ihn stets mit rührend stummem Vorwurf anzublicken schien, als sei er für ein großes Glück einst zu spät gekommen. Ob er sie je wiedersehen würde?

Vom benachbarten Zelt klangen da spanische, französische, englische Laute in sein Träumen. Man rief ihn zum Tee. Er sprang auf, reckte die Glieder, schob den Brief in die Tasche. – Und wußte nicht, daß, während er so dastand im Schein der zum atlantischen Ozean niedersinkenden Sonne und dem Gelesenen noch einen Augenblick nachsann, in einem Zimmer der Wilhelmstraße in Berlin zwei Exzellenzen nach einer längeren Debatte über die Verschiebung der ihnen unterstellten menschlichen Figuren auf dem Weltschachbrett unter anderem auch zu dem Ergebnis gekommen waren, den Legationssekretär Baron Wolf von Walden im Laufe des kommenden Winters in das Auswärtige Amt zu berufen.


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