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Und nun war der nächste Morgen gekommen, wie auch solche Morgen schließlich einmal kommen. – Sie standen unten im Bahnhof Friedrichstraße. Ihr Mann nahm die Billette und gab das Gepäck auf. Er hatte nicht viel Übung im Reisen und schien nervös und hastig. Dadurch dauerte es sehr lange. Sie wartete etwas abseits beim Handgepäck. Mit großen Augen, in denen ein neuer, erschreckter Ausdruck lag, starrte sie vor sich hin. Unaufhörlich fuhren Droschken vor. Koffer, die von dem noch immer niederströmenden Regen durchnäßt waren, wurden von draußen angeschleppt und dann am Gepäckschalter nach den verschiedensten Weltgegenden aufgegeben – arme, zerstoßene, in dem grauen Wetter kläglich aussehende Dinge, die willenlos hierhin, dorthin mußten, nach fremdem Geheiß. Ist man denn selbst etwas so sehr anderes? dachte Ilse.

»Guten Morgen, gnädigstes Fräulein!« tönte es da plötzlich an ihr Ohr.

Überrascht wandte sie sich um.

»Herr von Walden?« sagte sie erstaunt und empfand wieder bei seinem Anblick jenes unerklärliche Gefühl, als habe sie ihn schon lange gekannt und fände ihn wieder.

Er hatte die Zigarette, die er rauchte, fortgeworfen und war zu ihr getreten; sie fühlte, daß er sie forschend betrachtete.

»Welch reizendes Zusammentreffen,« sagte er, »aber kann ich Ihnen nicht vielleicht irgendwie behilflich sein?«

»Oh nein, ich danke Ihnen,« antwortete sie, »ich warte nur ... auf ... die Billetts. Aber,« setzte sie hastig hinzu, »was tun Sie hier? verreisen Sie?«

»Ja,« antwortete er, »mein Urlaub ist abgelaufen, und ich stehe gerade im Begriff, mich auf meinen neuen Posten zu begeben – nach Marokko.«

»Ach,« rief Ilse sehnsüchtig, »wie schön muß das sein, solche Reisen machen zu können.«

»Ich freu mich auch sehr darauf,« sagte er, »aber Sie selbst, gnädigstes Fräulein, reisen doch auch, was ist denn Ihr Ziel?«

»Wir ... wir fahren ... nach ...«

In diesem Augenblick kam Theophil, erregt und geschäftig, vom Gepäckschalter zurück. »Na endlich ist das erledigt,« sagte er, »was hat man mit den Kerls für eine Schererei! Nun komm aber rasch hinauf, liebes Kind! Da hast du dein Billett, du mußt es oben vorzeigen – aber verlier es nur nicht.« Jetzt erst gewahrte er Walden, der neben Ilse stand und verwundert von ihr zu ihm schaute, »Was, sie sind da, Walden? Guten Tag! Guten Tag! Aber verzeihen Sie! Wir müssen schnell hinauf!«

»Ja, mit welchem Zuge reisen Sie denn?«

»Schnellzug nach Sandhagen.«

»An der Ostbahn? Oh, da haben Sie noch Zeit. Na, ich begleite Sie hinauf, mein Zug geht ein paar Minuten nach dem Ihrigen.«

Während Herr von Zehren mit langen Schritten voranstürmte, hatte Walden Ilses Handtäschchen genommen und schritt neben ihr die Treppe hinauf.

»Also Sie sind schon verheiratet?« sagte er, und in seiner Stimme war jetzt ein anderer Klang.

»Ja,« antwortete sie leise, »seit gestern.«

»Wie ... seltsam ... ist doch das Leben,« murmelte er vor sich hin, und dabei fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er irgend eine Vorstellung verscheuchen. –

Und wieder fühlte sie, daß er sie einen Augenblick forschend betrachtete, als läse er in ihren Zügen etwas Neues, etwas, das gestern noch nicht darin gestanden.

Da senkte sie die Augen.

Als sie wieder aufblickte, waren sie oben in der großen Bahnhofshalle angelangt. Er schaute sie jetzt nicht mehr an, sondern sprach mit Theophil.

»Ein interessantes Land, Ihr neuer Posten!« hörte sie ihren Mann zu Walden sagen.

»Ja,« antwortete dieser, »und eines der letzten, wo noch nicht alles an andere vergeben ist – es wäre schön, wenn sich da etwas für Deutschland machen ließe.

»Na, na,« meinte Theophil, »machen Sie man dort vor allem keine Verwicklungen! Schwärmer wie Sie haben schon oft Feuer und Blut über die Welt gebracht, und das Fatale bei solchen Geschichten ist, daß wir Steuerzahler nachher dafür aufkommen müssen, und daß die sozialdemokratischen Stimmen dadurch anwachsen.«

»Ich gehe ja nur als bescheidener Sekretär hin,« erwiderte Walden lachend, »da werde ich schwerlich Gelegenheit haben, ein Muspili zu entfachen.«

»Na Gottlob!« sagte Theophil und setzte dann hinzu: »Und wenn Sie das nächstemal auf Urlaub kommen, so besuchen Sie uns doch in Weltsöden.«

»Es wäre schon möglich, daß ich mal in Ihre Gegend käme,« antwortete Walden, »mein früherer Chef, Helmstedt, ist doch wohl Ihr Nachbar?«

»Sogar mein allernächster. Aber er ist bisher immer nur kurz dagewesen – die Gräfin hat, fürchte ich, keinen rechten Sinn für unser norddeutsches Landleben – aber vielleicht sind sie jetzt nach seinem Rücktritt mehr in Frohhausen.«

Doch da donnerte der Zug auch schon dröhnend und dampfend in die Halle. Die Waggontüren flogen auf. Eilige Menschen stiegen aus den Wagen, noch eiligere klommen hinein. Hurtige Träger belegten Plätze mit Handgepäck.

Nun lehnte Ilse am offenen Fenster ihres Abteils. Walden stand mit abgenommenem Hute unten auf dem Bahnsteig.

»Also – gute Fahrt!« rief er hinauf.

»Ihnen auch – glückliche Reise,« antwortete sie von oben.

Dann ging es wie ein plötzliches Erschauern durch die lange Reihe großer schwerer Wagen. Der Zug setzte sich in Bewegung.

Ilse schaute noch einmal zurück, und da war ihr, als habe sich Waldens Gesicht in dieser Sekunde völlig verändert – woher kam das Mitleid, die Trauer, die Ungeduld, in die sie da blickte? Wozu machte er die paar raschen Schritte dem Zuge nach, als wolle er ihn anhalten? Was hatte das zu bedeuten?

Aber schon waren sie aus der Bahnhofshalle heraus, ehe sie recht wußte, ob sie das alles denn auch wirklich gesehen hatte.

»Seltsam,« sagte sie sinnend, »wie wir diesem Herrn von Walden begegnen! Zuerst gleich nach unserer Verlobung und jetzt wieder gleich nach unserer Hochzeit – hat es nicht etwas – etwas Schicksalhaftes?«

»Schicksal,« antwortete ihr Mann, »ist ein Wort, das man nicht gebrauchen sollte – wir haben Pflichterfüllung und Gottvertrauen.«

Dabei zog er aus der Tasche seines großkarrierten Mantels die Kreuzzeitung, schob sie Ilse hin und vertiefte sich dann selbst in eine Broschüre über die Maul- und Klauenseuche.

Ilse hatte sich in die entfernteste Wagenecke gesetzt, wo seine weit vorspringenden Kniee ihr Kleid nicht streifen konnten. Sie schloß die Augen.

Es war später Nachmittag, als der Zug in Station Sandhagen hielt. Aus den tief hängenden Wolken drieselte ein feiner kalter Regen herab auf das weite, sandige, ewig dürstende Land. Ganz flach dehnte es sich aus, nur stellenweise anschwellend zu einstmaliger Dünenbildung. Kümmerliche, nordischem Krummholz gleichende Kiefern wuchsen da kärglich, alle durch den stetig wehenden Ostwind wie in trauernder Sehnsucht gen Westen geneigt. Die Stadt selbst lag weiter landeinwärts, man sah ihre Umrisse mit dem einen mächtigen Trutzturm grau in grau am Horizonte verschwimmen.

Einige Honoratioren waren von dort zur Station gekommen, um Herrn von Zehren zu beglückwünschen und als erste daheim erzählen zu können, wie die junge Weltsödensche Frau denn eigentlich ausschaue. Mit diesen stämmigen, vierschrötigen Herren mußte ein Glas geleert werden in dem kleinen Bahnhofsrestaurant, wo Töpfe mit verkümmerten Myrten am Fenster standen und auf der schokoladefarbenen Tapete, zwischen allerhand agrarischen Anzeigen, ein Öldruckbild der unglücklichen Königin Luise prangte, die einst in dieser Gegend auf ihrer Flucht gerastet haben sollte.

Jochem der Kutscher und Jürgen der Knecht, beide mit arg verregneten hochzeitlichen Sträußen im Knopfloch, verluden mittlerweile die Koffer zwischen Stroh auf dem Leiterwagen und breiteten eine Plane darüber; darauf fuhr Jürgen damit ab.

Als man dann endlich aus dem Bahnhofsgebäude heraustrat, sagte Herr von Zehren: »Aber Jochem, du hast ja den geschlossenen Wagen genommen?« »Ich dachte doch,« antwortete Jochem und kratzte sich hinterm Ohr, »von wegen die junge gnädige Frau, die doch aus der Stadt ist.« »Aber jetzt ist sie eine Landfrau, Jochem, und mit dem offenen Jagdwagen wären wir viel rascher vom Fleck gekommen.« – »Ja, zwei Stunden werden die Herrschaften bei den Wegen heute schon brauchen,« meinte der Stationsvorsteher, der Ilse in die schwere geschlossene Kutsche half. Dann stieg Theophil ein, Jochem knallte mit der Peitsche, an die er ebenfalls ein kläglich herabhängendes Sträußchen befestigt hatte, und das Gefährt setzte sich in Bewegung.

»Fatale Gewohnheit der Leute, dies Biertrinken,« knurrte Herr von Zehren nach einer Weile, »ich fürchte, die Kälte ist mir auf den Magen gefallen – aber weißt du, die Stadt Sandhagen wählt mit in unserem Kreise, und die Sozialdemokraten wühlen da schon gerade genug gegen uns – drum darf man's eben mit den paar guten Elementen nicht verderben.«

Nach einigen Minuten Fahrt hielt der Wagen, und durch die vordere Fensterscheibe gewahrte Ilse, wie Jochem oben auf dem Bock den Zylinder mit der Kokarde abnahm, ihn sorgfältig in eine Hutpappschachtel tat, die er hinter seinen Beinen wohl verborgen hielt und statt dessen eine Livreemütze aufsetzte. Dann ging es weiter.

Es dunkelte rasch. Ilse konnte bald nichts mehr von der Gegend unterscheiden. Sie fühlte nur, daß der Wagen die Chaussee verlassen hatte und dann auf tiefem Sandweg schwer und langsam weiter fuhr in die Finsternis hinein. An einigen besonders schwierigen Stellen hörte sie Jochem den Pferden ein ermunterndes »Man tau, man tau« zurufen – oder war das Papa, der zu ihr sagte: »Es ist nicht so schlimm, es ist nicht so schlimm« – sie wußte nicht mehr, was wirkliches Erleben, was träumendes Erinnern war. Aber sie mußte dann doch wohl eine Zeitlang fest geschlafen haben, denn plötzlich schreckte sie auf, konnte sich zuerst gar nicht recht besinnen, wo sie war und hörte dann Herrn von Zehren sagen: »Gleich werden wir ankommen.«

Der Wagen war in einen weiten Hof eingebogen. Auf der einen Seite sah Ilse hoch oben an einem Gebäude ein Transparent, an dem das Wort »Willkommen« in dem immer heftiger wehenden Winde unruhig hin und her flackerte, noch einmal aufflammte und dann zu erlöschen schien.

»Das hat der Verwalter am Giebel des Wirtschaftsgebäudes angebracht,« erklärte Theophil, »drüben auf der anderen Seite wohnen wir.«

Nun hielten sie vor dem Herrenhause. Aus der weit geöffneten Tür fiel Lichtglanz hinaus ins Dunkel, viele Menschen standen da wartend. Und Theophil stellte vor: Der Verwalter Rumkehr und seine Frau, die Hofmeister der Vorwerke, der Förster. »Na Treumann,« unterbrach er sich, »Sie haben sich ja auch mittlerweile mit der Anne Dore verheiratet?«

»Zu Befehl, vor vier Tagen,« antwortete strammstehend der große junge Förster, von dessen gebräuntem Gesicht die blaßblonden Haare und Brauen und die blauen Augen beinahe weiß abstachen.

»Und wo ist denn Ihre Frau?«

Eine junge rosige Frau, die mit strahlenden Augen zu dem Förster aufschaute, trat vor.

Wie glücklich sie aussieht! dachte Ilse, während Herr von Zehren weiter zu Treumann sprach: »Morgen komme ich raus und seh nach, wie weit Ihr in Teufelstrift seid.«

»Morgen schon?« entfuhr es dem erstaunten Förster.

»Gewiß,« antwortete Herr von Zehren feierlich und so laut, daß alle Umstehenden ihn hören mußten, »denn das Bewußtsein, eine Familie gegründet zu haben, muß uns erst recht mit neuem Arbeitseifer erfüllen.«

Und dann nannte er Ilse die noch übrigen, den Gärtner, seine Gehilfen, die Gartenweiber, den Schweizer, den Schäfer, die Mamsell, den Diener, die Mädchen.

Es waren beinahe lauter Leute aus der Gegend, die zum Teil schon lange auf dem Gute waren. Aus ihren meist wässerig blauen Augen schauten sie Ilse prüfend, aber ohne sonderliches Wohlwollen an: Sie war die neue Frau – ja – aber sie war vor allem eine Fremde, und vorläufig würde man sich ihr gegenüber abwartend verhalten. Unwillkürlich empfand das Ilse, und die wohlbekannten Gesichter der Leute daheim bei Greinchen stiegen in ihrer Erinnerung auf; sie hätte so gern ihr eigenes langgewohntes Mädchen von dort mitgenommen, aber Frau von Zehren hatte dagegen entschieden: »Fremde paßten nicht nach Weltsöden.«

Von den Menschen blickte nun Ilse zu den Dingen. An den Türen waren Girlanden aus Tannenreisern und Herbstlaub angebracht. Georginen saßen darin wie bunte regelmäßige Rosetten.

»Wie hübsch Sie alles geschmückt haben,« sagte Ilse freundlich.

»Ach wir hatten ja auch draußen so viel chinesische Laternen angebracht,« erzählte der Verwalter, »aber der Wind hat sie alle ausgelöscht – es wollte gar nicht recht festlich werden.«

»Auch die Georginen müßten viel schöner sein,« sagte der Gärtner, »aber sie sind mir zu sehr verregnet.«

»Ja,« warf die Mamsell ein und rümpfte die Nase, »sie riechen ganz säuerlich und lassen schon die Blätter fallen – wir werden die Girlanden bald wieder abnehmen müssen – auf alle Fälle, ehe die gnädige Frau Mutter zurückkommt, sie kann das nicht sehen, wenn irgendwo auch nur ein Stäubchen liegt.«

»Aber nun wollen wir zu Abend essen, Mamsell,« unterbrach sie Herr von Zehren, der die übrigen schon entlassen hatte, »ich möchte endlich was Warmes zu mir nehmen. Das kalte Bier von vorhin liegt mir immer noch auf dem Magen. Komm, liebes Kind!« Und damit führte er Ilse in das lange, niedrige, dunkel getäfelte Speisezimmer, in dem eine von Hirschgeweihen gehaltene Hängelampe den Eßtisch beschien. »Aber du hast ja falsch gedeckt, Peter,« wandte er sich sofort verweisend zum Diener, »hier oben an der Spitze ist doch der Platz meiner Mutter, der hat immer für sie frei zu bleiben; die gnädige Frau und ich werden rechts und links von ihr sitzen."

Als Peter den Tisch umgedeckt hatte, sagte Theophil zu Ilse: "Es ist besser, daß das von Anfang an so gemacht wird, Mama kömmt ja in einer Woche hierher zurück."

So saßen sie an jenem ersten Abend im Weltsödener Speisezimmer. Es gab da nahrhafte warme ländliche Gerichte, und Mamsell hatte rasch einen heißen Grog für Theophil gebraut. Der tat ihm wohl; er wurde sichtlich vergnügter, verlangte, daß Ilse auch davon koste, und einmal, als Peter gerade das Zimmer verlassen hatte, haschte er sogar über den Tisch nach ihrer Hand und drückte die dicken roten Lippen darauf, die wie ein Widerspruch in seinem mageren Gesichte standen. Ilse fuhr erschreckt zusammen, denn es war ihr gerade jetzt an diesem Tisch, der mit seinen Blumen und Früchten etwas beruhigend Behagliches hatte, zum erstenmal gelungen, all das aus ihrem Gedächtnis zu bannen, was sie den ganzen Tag wie ein unheimliches Gespenst hinter sich gefühlt hatte. – Sie schaute ihren Mann angstvoll an und gewahrte in seinen Augen den seltsamen Ausdruck wieder, den sie seit gestern abend kannte. –

Sie schob ihren Teller weg und wäre am liebsten davongelaufen – den ganzen weiten Weg zurück zu Papa und Greinchen – aber das war ja unmöglich. Sie kam sich plötzlich völlig verloren und hilflos vor. Nun zwang sie sich, recht langsam weiter zu essen. Das hielt wenigstens Peter im Zimmer. – Aber auch das zierlichste Spielen mit einer Treibhaustraube, das gedankenverlorenste Zerpflücken der Verveineblättchen im Wasser der Fingergläser und das sorgfältigste Abtrocknen der gewölbten rosa Nägelchen muß schließlich ein Ende nehmen.

Herr von Zehren war aufgestanden.

»Nun wirst du mir das ganze Haus zeigen, nicht wahr?« bat sie.

»Nein, dazu ist es heute wirklich zu spät, liebes Kind,« antwortete er, zog ihren Arm durch den seinen und sagte schmunzelnd: »Wir wollen in unser Zimmer gehen.«

Es war das Zimmer, das Frau von Zehren Ilse geschildert hatte. Nußbaum mit hellbraunem Rips. Über den Gardinen waren Lambrequins aus Straminstickerei angebracht, lila Stiefmütterchen zwischen rehfarben abschattierten gotischen Ornamenten; ebensolche Streifen zierten die Polstermöbel und waren alle Werke von Frau von Zehrens rührigen Händen. Auf der braun und goldenen Tapete hingen Daguerreotypen und Photographien von vielen Zehrens und Saßmackens, die, gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als die ganze bräutliche Einrichtung neu gekauft worden war, selbst auch jung und frisch gewesen sein mochten. Zwischen ihren verblaßten Gesichtern prangten verschiedene eingerahmte Bibelsprüche.

An einer Wand aber standen ernst und feierlich die beiden in Nußbaum geschnitzten Betten dicht nebeneinander, gemischte Vorstellungen von Altar und Schlachtbank erweckend. Auf dem schneeweißen Kopfkissen des einen Bettes lag, weithin sichtbar, ein Buch.

»Was ist denn das?« wandte sich Herr von Zehren, darauf weisend, an das derbe rothändige Stubenmädchen, das eben die Vorhänge an den Fenstern zusammenzog.

»Die gnädige Frau Mutter hat vor ihrer Abreise das Buch auf das Bett der jungen gnädigen Frau gelegt,« antwortete das Mädchen und stapfte mit einem mühsam unterdrückten Grinsen auf dem breiten Gesicht aus dem Zimmer.

Ilse nahm das Buch und schlug es auf. Theophil schaute neugierig über ihre Schulter hinein, und zusammen lasen sie:

F. A. Ammon.
Mutterpflichten.

Darunter stand in Frau von Zehrens steiler Handschrift:

»Meiner Schwiegertochter zu Beherzigung.«

»Ja, ja,« sagte Theophil, »Mama ist wie das Landrecht, sie denkt vor allem an den Zweck der Ehe – na, und weißt du, kleines Ilseken, der ist eben für einen Majoratsherrn auch wirklich verflixt wichtig.«


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