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Achtes Kapitel
Salazar

Bei Tagesanbruch saß Lhassa im gedeckten Abteil in der Mitte einer Proa; sie fühlte sich wie in einer unwirklichen, filmhaften Welt, die überall, selbst in der Luft, von grünen Farben und Lichtern erfüllt war.

Die lebenden Wesen in dieser Welt schienen mit ihren bronzenen Leibern, deren Arme und Schultern sich mit den Ruderschlägen hoben und senkten, ebenso fremdartig wie die Umgebung. Sie wußte, daß hinter ihr nach dem Heck zu, noch mehr solcher Bronzetorsos waren. Am Bug saß Salazar, von dem sie nur den Helm und seinen roten Nacken sehen konnte; sie haßte diesen Nacken, der roh und grausam aussah; seit fünf Tagen mußte sie ihn ansehen, ziegelrot war er im Sonnenlicht, purpurfarben in der Abendbeleuchtung. Aber von morgen an würden diese peinlichen Stunden zu Ende sein, heute, am späten Nachmittag, sollten sie ihr Fahrtziel erreichen.

Die Sonne hatte auch ihre Haut zu einem satten Braun verbrannt; der Schatten verdunkelte ihre europäische Kleidung und ließ sie wie ein loses, fließendes Gewand erscheinen, so daß sie mit ihren stolzen goldenen Zügen die Königin dieser bronzenen Männer hätte sein können, die eine Reise durch die Wälder ihres urzeitlichen Reiches unternahm.

Aber so hoheitsvoll sie aussah, ihre Gedanken weilten nicht bei Herrschaft oder Eroberungen.

*

Nie würde sie jenen ersten Abend nach ihrer Abfahrt von Sadok vergessen; die Landschaft lastete drohend an den Ufern; der üble Geruch der Mangroven und anderer faulender Pflanzen verstärkten diese Stimmung noch. Als der Nebel sich verzog, bot sich eine herrliche Aussicht auf üppige Haine und Dickichte und über die Wälder auf die Berge. Aber keine Naturschönheit konnte ihr das Gefühl ihrer völligen, schrecklichen Einsamkeit nehmen. Salazar saß mit seinem roten Nacken den ganzen Tag über am Bug, den er nur kurz verließ, um Essen zu verteilen; bei dieser Gelegenheit zeigte er ihr gegenüber eine Gleichgültigkeit, die sie hätte beruhigen können, wenn sie echt erschienen wäre.

In dieser Nacht lagerten sie auf einer Sandbank; von ihrem Lanko – einem improvisierten Zelt aus jungen Bäumen, Stroh und Fischerleinwand – konnte sie die Feuer der Eingeborenen wie rote Wespen, die in das Dunkel stachen, sehen. Salazar hatte sein Lager in der Proa; er kam nicht in ihre Nähe; zwei Malayen bedienten sie beim Essen. Danach saß sie unter dem Eingang des Zeltes mit der Pistole, die Tuan Muda ihr gegeben, auf dem Busen. Hinter ihr, im Sumpf, raschelten seltsame Insekten, über dem Fluß heulten Tiere einander zu; einmal hörte sie den kummervollen Ton eines Pfaufasans. Es war ihre Einweihung in die Dschungelnacht. Alles war für sie der Ausdruck ihrer verzweifelten Einsamkeit. Ihre erschöpften Nerven verlangten Schlaf; sie legte sich, die Pistole zur Seite, nieder, Aber der Schlaf wollte nicht kommen; einmal fiel ein langer Schatten auf die Zeltwand, er verschwand wieder, ließ aber ein eisiges Schauern in ihr zurück. Als sie endlich einschlummerte, schlief sie durch bis zur Morgendämmerung.

Am zweiten Tag trat ein Wechsel in der Landschaftsszenerie ein. Der Fluß trat in eine große dunkle Kathedrale von Dschungel, deren Mittelschiff sich unter Wölbungen aus Blattwerk hinstreckte, das giftige Dünste ausströmte. Durch das Rankendach drangen nur Sonnentropfen herein und erzeugten ein Zwielicht. Affen schnatterten unaufhörlich; manchmal sah sie rauhgefurchte Häute im Schlamm gebettet. Breitblättrige Pflanzen, farbenprächtige Blumen, Moose und Farnkräuter wuchsen an den Ufern; die schwülen Gerüche betäubten sie fast und bereiteten ihr solche Schmerzen im Hinterkopf, daß sie ermattet in einen Halbschlummer versank.

Zu ihrer großen Erleichterung wand sich der Fluß am Abend aus dem Dickicht des Dschungels heraus, und am Himmel schwammen wieder die Spitzen der Berge, die sie dankerfüllt begrüßte, ebenso wie die Wohltat frischer Luft.

Wieder saß sie am Abend im Eingang ihres Zeltes und beobachtete die Feuer der Eingeborenen und das Glimmen von Salazars Zigarre im Boot. Er machte sie verwirrt. Er ging ihr anscheinend möglichst aus dem Wege, aber sie fühlte, daß er noch einen anderen Zweck mit ihrer Verbringung nach der Plantage verband, den er verborgen halten würde, bis ihm die Zeit zur Enthüllung gekommen schien.

Sein Benehmen war gezwungen, und sie wußte, daß seinesgleichen sich nicht ohne selbstsüchtigen Grund beherrschte. Er wurde für sie ein Symbol des Dschungels, ein finsterer Geist, bedrohlich eben wegen seiner Zurückhaltung. Wartete Salazar auf etwas?

Wieder ein Morgen und vorne die Berge, die immer weit entfernt, unerreichbar schienen. Ab und zu machte der Wald einem palisadenumzäunten Dorf mit Bambushäusern, Hühnern, Büffeln und nackten, braunen Menschen Platz. Manchmal bereute Lhassa ihren Entschluß; es erschien ihr verrückt, in den Dschungel hineinzutauchen wegen einer Frage, die sie vermutlich doch nur in eine Sackgasse – und in Gefahr brachte. Aller Wahrscheinlichkeit nach kannte Conquest den Namen des weißen Abenteurers nicht, dessen Kind Pi-noi glich. Vielleicht war die ganze Geschichte selbst nur eine Erfindung. Und wenn sie wahr wäre, wenn ihre Mutter das Kind einer Khmerfrau und eines Amerikaners gewesen wäre. Was war dann? Nichts! antwortete sie sich selbst. Nichts, als daß das Geheimnis um ihren Großvater sich enthüllt hätte, daß sie dann die Wahrheit kennen würde. Das würde etwas Befreiendes für sie bedeuten.

Öfters dachte sie an Tuan Muda; wohin war er wohl gegangen? Ihre Erinnerungen und Zweifel waren bittersüß. Sie suchte ihre Einstellung zu ihm zu analysieren und kam zu dem Resultat, sie bestehe aus Sympathie und unpersönlichem Interesse; Sympathie für seine Einsamkeit, Interesse für seine romantische Lebenslaufbahn. Wie konnte sie mehr für ihn fühlen, da er doch ein Verbrecher – ein Dieb oder sogar ein Mörder – war. Eine seltsame Freundschaft aus einer seltsamen Situation entstanden, so faßte sie es zusammen. Darum wanderten in Augenblicken tiefster Vereinsamung oder Furcht ihre Gedanken zu ihm.

Eine weitere Nacht gleich der vorigen.

Am andern Morgen sah sie zum erstenmal einen weißen Reiher mit blauem Hals, einen Herold des exotischen Moorlandes, dem sie sich näherten. Der Fluß hatte sich zu einem bloßen Kanal verengt, so daß die Mannschaft statt der Ruder Stangen benützte. Auf dem sumpfigen Land sah man Lilien, korallenrote Knospen, Orchideen und Giftblumen; faulige Gerüche mischten sich mit süßen, betäubenden. In den reinen Spiegeln von Teichen sah man die Schattenflecken, die blaue und schwarze Schmetterlinge warfen. Wieder der Schein der Lagerfeuer im Dunkeln. Der Neumond schwamm am Himmel. Lhassa saß am Zelteingang, über den morgigen Tag grübelnd, als sie eine rote Kohle sich ihr nähern sah. Salazar hielt vor ihr, er nahm seine Zigarre beim Sprechen nicht aus dem Mund.

»Morgen, am späten Nachmittag, werden wir in Barabbasstadt ankommen.«

Sie wiederholte: »Barabbasstadt?«

Das Aufglühen der Zigarre zeigte ihr seine Überraschung, darauf wie zischend: »Sapristi, Monsieur le Rajah hat Ihnen nichts von Barabbasstadt erzählt? ... Hmm ... Nun, es ist die Niederlassung bei der Plantage, nahe beim Dorfe des Sultans.«

»Wer lebt dort? Warum heißt sie so?« Der Name Barabbasstadt entzündete ihre Phantasie.

»Wer dort lebt? Nun, die Sagoarbeiter; was den Namen Barabbasstadt anlangt, Monsieur le Rajah schien es Spaß zu machen. Warum, weiß ich nicht. Was es bedeutet? Monsieur le Rajah weiß es, fragen Sie ihn, wenn Sie ihn sehen.«

»Was sind das für Leute, die dort arbeiten?« forschte sie weiter.

Er zog an seiner Zigarre und lächelte:

»Sie sind zu neugierig. Aber jedenfalls werden Sie nicht durch sie gestört werden – denn Sie werden sie nicht zu Gesicht bekommen. Ich werde Sie im Sultansdorf bei den Frauen lassen und den Monsieur le Rajah aufsuchen, um ihn zu benachrichtigen, daß Sie ihn zu sehen wünschten.«

Sie war im Zweifel, ob sie die Idee billigen sollte.

»Warum wollen Sie mich nicht direkt zu Mister Conquest nach Barabbasstadt bringen?«

Er grunzte und schien die Frage zu überlegen, bevor er die dürftige Antwort gab: »Oh, aus einem Grunde.«

»Aus welchem Grunde?« drängte sie.

Wieder ein Grunzen: »Sie zwingen mich ... hm ... unzart zu sein. Im Fort sind Männer, die seit mehreren Monaten keine weiße Frau gesehen haben. Einige darunter ... nun ... vielleicht verstehen Sie.«

Sie lachte nicht über den Inhalt seiner Rede, sondern, über die Wahl seiner Worte. Er schien noch etwas sagen zu wollen, machte aber kehrt und entfernte sich. Sie wollte ihn zurückrufen und weiter befragen, aber sie konnte ihm nur nachstarren.

Im Zelt überlegte sie sich, ob in Barabbas die aus Guyana entkommenen Männer seien, ob dort die Lösung des Rätsels vom »Schwarzen Papagei« läge. Barabbasstadt – das Dorf der Diebe ...

*

Und nun war der Morgen des fünften Tages da. Jeder Ruderschlag brachte sie näher der Erlösung von den Ängsten, die sie seit dem Verlassen Sadoks beherrschten.

Es lag ihr wenig daran, daß ihr Kommen bei Conquest Mißfallen erregen würde. Er konnte sie höchstens zurückschicken, aber vorher würde sie die Wahrheit erfahren, würde die Prophezeiung, die Barthélemy in ihren Augen gelesen hatte, erfüllt haben.

Am Nachmittag versanken die Berge wieder unter einem großen Wald, der die ganze Welt in seine Umarmung einzuschließen schien. Einer der Ruderer stimmte ein Lied an, dessen Töne der Wald wiedergab, wie eine zitternde, geisterhafte Begleitung. Plötzlich sah Lhassa eine Bresche in dem dunklen Wall. Hohe Palisaden strebten in der Dämmerung empor; darüber stiegen spitze Dächer auf. Ein Feuerschein von innen her beleuchtete die Umrisse eines Tores. Sie seufzte auf, vor Erleichterung und Spannung. Ihre Proa lief neben anderen, leeren Kanus durch dicken Schlamm ans Land. Aus dem Tor tauchte eine Schar halbbekleideter Lebewesen auf. Die Bootsleute und die Dorfbewohner schrien einander an, es klang wie Affengeschnatter.

Salazar machte keine Anstalten, ihr aus dem Boot zu helfen; voll Ärger über seine Ungeschliffenheit packte sie ihre Handtasche, kletterte über die Schiffswand und sank bis zu den Knöcheln in Schlamm. Zwei Malayen hoben sie heraus. Ihr Ärger flammte zur Wut auf. Sie war erschöpft an Körper und Nerven, und der Schlamm schien ihr als der Gipfelpunkt der Beleidigungen ihrer Würde. Sie haßte den lärmenden Wirrwarr um sie, aber noch heftiger haßte sie Salazar, der eben kam und sagte, daß sie jetzt zum Palast gehen würden.

Innerhalb des Palisadenzaunes standen Bambushäuser in engen Gruppen zusammengepfercht. Etwa einen Kilometer vom Tor wurde ein überragend großes Gebäude sichtbar; ein unordentliches Gewirr von Grasdächern und Flechtenwerkwänden schwebte auf Pfählen; bei näherem Zusehen bemerkte Lhassa, daß es eine Gruppe von Einzelhäusern sei, die durch schmale Veranden miteinander verbunden waren. Salazar hielt vor Pfählen mit Einschnitten, die als Leiter zum Eingang des Palastes dienten. Ein schwerfälliger, sinnlich aussehender Malaye in Seide mit Goldverzierungen grüßte ihn; die beiden führten ein langes Gespräch, während sie danebenstand und sie voller Feindseligkeit betrachtete.

»Der Datu Tumanggong sagt, Sie könnten bei Dalima, des Sultans erster Frau, bleiben«, teilte ihr Salazar schließlich mit.

Sie hätte ihn lieber ignoriert, aber es gab Fragen, die zu beantworten waren.

»Wann werde ich Mr. Conquest sehen?«

»Morgen früh.«

»Warum nicht jetzt?«

»Das Fort ist noch zwei Meilen flußabwärts.«

»Sie können einen der Bootsleute hinschicken.« Er schüttelte den Kopf. »Monsieur le Rajah wird es gar nicht angenehm sein, zu erfahren, daß Sie hier sind, und ich habe da eine Sache, die ich mit ihm besprechen möchte, solange er in guter Laune ist. Ich werde ihn morgen früh herbringen.«

Sie war zu müde, weiter zu diskutieren. Mehrere Weiber waren hinter Salazar aufgetaucht und lächelten sie scheu an. Sie dachte sich gleich, daß es die Sultanfrauen seien, und schloß sich ihnen an. Die älteste, eine grauhaarige Frau, die ein Seidenkleid mit Perlen trug, deutete auf eine Leiter. Offenbar sprach keine von ihnen englisch. Lhassa kletterte hinauf. Durch ein Labyrinth von Bäumen führte man sie in ein Gemach, das nur mit zwei Truhen und einem Bett möbliert war. Das Bett, ein echt malayisches Stück, mit Vorhängen, bestand aus goldbestickten Stoffen und sieben steif brokatenen Kissen. Die älteste, offenbar Dalima, öffnete eine Truhe und holte einige seidene Gewänder heraus, die sie auf das Bett breitete. Dies gab Lhassa Gelegenheit, die Frauen zu entlassen; sie deutete auf die seidenen Gewänder und dann auf die Tür; die Grauhaarige nickte, sprach mit den andern, die unverzüglich abzogen.

Als Lhassa ihre Kleidung mit einem der einheimischen Gewänder getauscht hatte, überkam sie eine wohltuende Schläfrigkeit. Die Seide auf ihrer Haut schien ihre Erbitterung gegen die Welt, sogar gegen Salazar zu besänftigen. Sie sank auf das Bett. Schlafen, schlafen ohne Angst. Nichts kümmerte sie sonst. Die Sorgen des morgigen Tages waren eine Sache für sich. Plötzlich fiel ihr die Pistole ein; sie hätte sie gerne, ohne beobachtet zu werden, aus ihrer Handtasche zu sich geholt. Aber das war unmöglich, da die Hauptfrau sich neben ihrem Bett niedergelassen hatte, anscheinend für länger. Jedoch Lhassa sagte sich schließlich, es sei nicht wahrscheinlich, daß sie sie während der Nacht nötig haben würde.

Als die Weiber nach kurzer Zeit mit Speisen wiederkamen, winkte sie, schwach lächelnd, ab, und Dalima schickte sie fort. Offensichtlich hatte Dalima nicht die Absicht, sich zu entfernen, denn sie begann leise zu summen, wobei sie sich vor- und zurückbog. Lhassa schaute schläfrig nach ihr ... Das Summen klang schon weit weg – wie von einer Traumgestalt ...

War ihre Großmutter gelbfarbig wie Dalima? fragte sie sich; die Frage verursachte ihr schwachen Widerwillen. Aber im nächsten Augenblick ging er unter in der Leere, die sie umfing.

*

Sie erwachte früh; die Sonne brachte goldene Töne in den Raum; Dalima und die andern Frauen saßen betelkauend nahe beim Bett und betrachteten sie neugierig.

Sie machte ihnen begreiflich, daß sie Wasser zum Waschen brauche, dann Nahrung. Nach dem Frühstück, bestehend aus Früchten und Kokosmilch, brachte man ihr ein Kleid aus dunkelblauer Seide und ein Kopftuch aus Goldbrokat. Um nicht undankbar zu erscheinen, nahm sie das Gewand lächelnd an. Die Frauen halfen ihr bei der Toilette.

Danach saß sie nieder und erwog, wie lange sie wohl auf Salazar warten müsse. Es würde wahrscheinlich Mittag werden, bevor er mit Conquest zusammenkäme. Mit einem resignierten Seufzer erhob sie sich und schaute zu der Öffnung, die als Fenster diente, hinaus. Sonderbar aussehende Hütten, sie dachte Dyakshäuser, gaben ihr die Anregung, das Dorf zu besichtigen. Aber als sie zur Tür ging, versperrte Dalima ihr den Weg. Ohne daran zu denken, daß die andere nicht Englisch verstand, forderte sie, hinausgelassen zu werden. Dalima mußte verstanden haben, denn sie schüttelte den Kopf.

Als Lhassa eine ungeduldige Bewegung machte, um sie zur Seite zu schieben, packte die Hauptfrau sie am Ärmel und sprudelte einen Schwall von Worten heraus. Eine der Frauen ging eilig hinaus.

»Ich begreife nicht«, sagte Lhassa und versuchte ihre Frage in Gesten zu übersetzen.

Dalima sprudelte weiter Worte heraus. Die Situation entspannte sich, als die Frau, die sich eilig entfernt hatte, mit einem Mädchen zurückkehrte, das etwas arische Gesichtszüge hatte und Lhassa englisch ansprach; es habe auf der »skola« in Pontianak die Sprache der »Orang-dagang« gelernt, und deswegen habe man sie beauftragt, der »Mem« zu sagen, daß sie nicht ungehorsam gegen den Befehl des »Tuan-besar« sein dürfe, indem sie den Palast verließe. Diese Mitteilung wirkte auf Lhassas Empfinden wie eine kalte Dusche.

»Wer ist Tuan-besar?« fragte Lhassa, die Wahrheit ahnend.

»Nun, Ihr Gatte, der große Lord«, erwiderte das Mädchen, anscheinend verdutzt über eine so lächerliche Frage.

Erbitterung schüttelte Lhassa. »Gatte!«

»Hat er gesagt, wie lange ich hier eingesperrt bleiben soll?« fragte sie.

Das Mädchen übersetzte die Frage für Dalima und wiederholte deren Antwort: Bis er zurückgekehrt sei.

»Wann wird das sein?« fuhr sie hartnäckig fort. »Wohin ist er gegangen?«

Er sei zum Fort auf Tuan-Rajahs Plantage gegangen, und es sei unbekannt, wann er zurückkommen würde.

Lhassa sah ein, daß ihr nichts übrigblieb, als nachzugeben. Sie warf sich auf das Bett und ließ ihrem Zorn in flammenden Gedanken freien Lauf. Eine Gefangene! Warum? Warum? Einmal dachte sie daran, sich ihren Weg hinaus mit der Pistole zu erzwingen, aber sie sagte sich, daß eine so drastische Maßnahme nichts nützen würde. Wiederholt kam ihr der Gedanke, Salazar könnte, aus einem Grunde, bei dem sie lieber nicht verweilte, Conquest über ihre Anwesenheit in Unwissenheit halten. Aber jedesmal warf sie den Verdacht als lächerlich beiseite; bis jetzt hatte er sie nicht belästigt und würde es auch jetzt nicht wagen. Ihre Nerven waren für diese – sie nannte sie anormale – Gedanken verantwortlich.

Den ganzen Nachmittag saß sie wartend da, wie eine gefangene Königin, ungeduldig und stolz. Keine Sekunde war sie allein, mindestens zwei der Sultansweiber waren ständig bei ihr. Ihr Lächeln schien nicht mehr freundlich, sondern spöttisch; sie haßte sie alle, auch Dalima, die sie in Schlaf gesummt hatte.

Nachdem sie längere Zeit in nervöser Wut im Zimmer auf und ab gegangen war, hatte sie sich aufs Bett geworfen, die Finger gegen die Augen gepreßt; gleich darauf hörte sie jemand eintreten und vernahm Stimmen. Aber sie schaute nicht auf, bis sie eine Berührung an ihrem Arm fühlte.

Es war das Mädchen, das Englisch sprach ... Der Tuan-besar sei zurückgekehrt, verkündete sie.

Lhassa sprang auf. »Wo?«

Das Mädchen bedeutete ihr, ihm zu folgen.

Wieder das Labyrinth mit vielen Räumen und Veranden, dann kam ein großer, schwach beleuchteter Saal. Darin stand Salazar. Sie war nicht überrascht, ihn allein vorzufinden; sie hatte es in dem Moment gewußt, wo sie gerufen worden war, daß er allein sein würde. Er war nicht mehr das Symbol des Dschungels, sondern ganz simpel für sie geworden. Mit einem Schlage schien eine schwere Last von ihr gefallen; der Druck der geistigen Furcht verschwand; sie war jetzt ohne Angst, aber schwach, so schwach, daß sie unsicher war, ob ihre Kräfte noch zu einer kalten Haltung ausreichen würden.

»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, begann sie. »Ich weiß, Mr. Conquest ist nicht in Barabbas.« Sie stockte und fuhr dann leidenschaftslos fort. »Es war viehisch von Ihnen, mich alle die Tage warten zu lassen, bevor Sie sich mir – offenbarten. Es war mehr als viehisch. Ich nehme an, Sie haben in Cayenne gelernt, daß Warten die auserlesenste Folter ist.«

Wieder nach einer Pause: »Wo ist er?«

Salazar rührte sich zum ersten Male seit ihrem Eintritt. Bewunderung leuchtete aus seinem Blick.

»Monsieur le Rajah meinen Sie? Wahrscheinlich auf dem Weg hierher.«

Sie blickte im Zimmer umher; das Mädchen war gegangen. Sie suchte nach Worten, aber sie fühlte sich nur wie eine leere Hülse ihres wirklichen Selbst, ohne Kraft sich zu bewegen oder zu sprechen. Endlich wiederholte sie:

»Hierher? Wird Tuan Muda bei ihm sein?« Er zuckte die Achsel.

»Wo waren sie, als – als Sie mich anlogen?«

»In einem Dorf nicht weit von Sadok. Sie fuhren mit dem Sultan zusammen an jenem Morgen ab; aber sie zweigten von seiner Flotille bei dem Zusammenfluß – Sie erinnern sich? – ab.« Er fügte hinzu: »Sie wollten dort zwei Tage bleiben. Demnach, sie mußten erst nach Sadok zurück – hm – – vorgestern – danach könnten sie jetzt etwa auf dem halben Wege hierher ...«

»Sie werden unverzüglich gefolgt sein«, fuhr sie dazwischen.

Er nickte. »Monsieur le Rajah wird eine Armee seiner Malayen mitbringen. Ich habe damit gerechnet.«

»Gerechnet?«

»Ja. Er kann unmöglich mehr als zweihundert Mann haben, während die Krieger des Sultans ...«

Er machte eine Bewegung, die große Zahlen ausdrückte.

»Dann haben Sie also den Sultan bestochen?« sie war selbst überrascht über ihre Fähigkeit, kaltes Blut zu bewahren.

Er kicherte. »Was geschieht, wenn Sie ein Zündholz an Schießpulver halten? Zum Teufel. Er hat darauf gewartet, fürchtete sich aber zu handeln, ohne dazu ermutigt zu werden, aber jetzt ...«

Sie drängte weiter. »Was haben Sie vor, mit ihnen zu machen – Tuan Muda und Mr. Conquest?«

»Oh, die Krieger des Sultans werden im Hinterhalt, unterhalb des Dorfes, lauern.«

Aus irgendeinem Grunde war sie nicht bestürzt, ihre einzige Empfindung war eine Entrücktheit von allem. Sie fragte:

»Bin ich das – wert?«

Er lachte. »Es gibt noch andere Gründe.«

»Nämlich?«

»Warum sollte ich es Ihnen sagen?«

»Aber wie werden Sie sich aus der Sache ziehen?«

Er spreizte seine Hände aus, häßliche rote Hände, dachte sie, den Krieger hatte er damit erdrosselt.

»Ich habe die ganze Küste zwischen Sarawak und Sambas zur Verfügung. Wenn die Engländer – oder die Holländer – hören, was sich ereignet hat – nun dann bin ich längst außer Reichweite.«

Ein plötzlicher Gedanke ließ sie fragen: »Und was ist mit den Leuten von Barabbasstadt?«

Er lachte nur als Antwort.

»Sind es die Männer von Guyana, die Sträflinge?« hörte sie sich fragen.

Salazar, das schwarze Gespenst, nickte.

»Siebenundzwanzig«, sagte er, lächelte und saugte an den Zähnen. »Bartoli, ein Dieb; Guichon, der Münzen so gut fälschte, daß er sie selbst nicht mehr unterscheiden konnte; Troissard, der eine Meuterei in Algier angestiftet hat; Beluche, der König der Mörder« – er zählte sie an den Fingern auf – »Chevreul, ein Giftmischer; Marigny Conde usw. – – – Siebenundzwanzig.«

»Wollen Sie mir Angst einjagen?« sagte sie mit einer Stimme, die noch ruhig war, aber es war die Ruhe vor dem Sturme. Sie mußte der Unterredung ein Ende machen, und zwar schnell, oder er würde merken, daß sie schauspielerte.

»Ich nehme an, Sie wollen mich diesen Leuten ausliefern, wenn ich nicht tue, was Sie von mir verlangen. Und was verlangen Sie von mir?«

Sie wollte nicht lachen, aber – sie platzte los, sie sah schwarze Ringe vor sich tanzen.

»Sie sind zu unglaublich, Monsieur Salazar. Sie sind nicht wirklich – Sie – Sie müssen ja eine Romanfigur sein ... eine Romanfigur ... Komplott und Tod aus dem Hinterhalt. Ein Weißer, der Wilde aufhetzt, andere weiße Männer zu ermorden? Oh, Sie sind zu unmöglich. Aber ich vergaß, was Tuan Muda mir gesagt hat. Sie sind kein Weißer!«

Kleine Funken erschienen in den Ringen vor ihren Augen; ihr war schwindelig.

»Ich vergaß,« fuhr sie hysterisch lachend fort, »aber Sie sind so unmöglich. Beluche, König der Mörder! Als ob Sie mich damit schrecken könnten. Ich vermute, Sie wollen sagen, daß Sie mich am Tage, nachdem Sie Tuan Muda und Conquest getötet haben, fortschleppen – mich fortschleppen! Nicht Beluche, nein, Salazar ist der König der Mörder. Monsieur Salazar, der Unmögliche ...«

Plötzlich wurde der Mann zu einem Drehpunkt, um den sich der ganze Raum drehte – Lächerliche Bilder aus früheren Zeiten stiegen auf – irgend etwas war nicht in Ordnung, nicht in Ordnung, denn es warf sie plötzlich in eine Kohlengrube ...


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