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Fünftes Kapitel
Conquest

Lhassa Camber schiffte sich zwei Wochen später als Barthélemy nach Saigon ein, da zwischen Bangkok und der Hauptstadt von Cochinchina nur alle vierzehn Tage ein Dampfer ging.

»Klein-Paris des Ostens« wurde Saigon genannt. Auf Lhassa, deren Phantasie noch lebendig erfüllt war von den einzigartigen Herrlichkeiten Bangkoks, machte es keinen besonderen Eindruck, als das Schiff an einem Dock voller Europäer vor Anker ging. Ihr Interesse wuchs auch nicht, als sie in einer Rickshaw durch ein recht schmutziges Chinesenviertel und eine Avenue nach Pariser Vorbild fuhr. Saigon, urteilte sie, hatte nicht den freundlichen Reiz einer europäischen Stadt noch das lockende Gesicht eines tropischen Hafens. Es war – – Saigon.

Im Hotel fand sie auf einer Karte die erwartete Mitteilung:

 

»Meine verehrte Miß Camber, darf ich um das Vergnügen Ihrer Gesellschaft zum Dinner um acht Uhr heute abend bitten? Wenn Ihnen die Zeit nicht paßt oder Sie eine andere Verabredung haben, rufen Sie mich im Geschäftshaus der Saigon-Siam-Handelsgesellschaft an.

Ergebenst
Stephen Conquest.«

 

Sie betrachtete die kurzen, bündigen Worte, die regelmäßige Handschrift und den Namen, und kam zu dem Schluß, daß Mr. Stephen Conquest ein sehr tüchtiger, bedächtiger Brite sei. Es war eigentümlich, dachte sie, daß ein Mann dieses Typs ein intimer Freund von Barthélemy war.

Sie hatte gehört, daß die Gesellschaft Saigons am Abend die Hotels und Cafés besucht, und kleidete sich deshalb dementsprechend für das Dinner. Ein Kleid von tiefem Magentarot, auffallend durch seine äußerste Einfachheit, eine kühne Farbennüance, die den rötlichen Ton ihres Haares eher dämpfte als hervorhob. Silbergraue Strümpfe und silberne Schuhe.

Die Zeiger ihrer Uhr zeigten genau auf acht Uhr, als ein Boy meldete, Mr. Conquest warte auf sie. Sie lächelte bei diesem weiteren Beweis seiner Genauigkeit und vollendete rasch ihre Toilette; sie war sehr neugierig, warum Barthélemy sich nicht mit ihr getroffen und was er vollbracht habe.

Wenn sie durch die Erscheinung des Mannes, der im Lesezimmer auf sie wartete, überrascht war, so ließ sie es doch nicht merken. »Donatello, der Marmorfaun«, dachte sie; sie fragte:

»Wollen wir hier einen Moment sitzen?«

»Draußen wird es kühler sein«, schlug er vor. Sie gingen auf die Terrasse und nahmen an einem Tisch nahe am Geländer Platz. Sie musterte ihn ganz frei.

»Ich weiß sicher, daß Sie die Karte an mich nicht geschrieben haben«, sagte sie ihm nach einer Weile.

Er lächelte – ein Lächeln, das sonderbar melancholisch um einen Mundwinkel zuckte.

»Nein, ich habe sie nicht geschrieben, sondern eine meiner Sekretärinnen.«

Er schien die Tatsache, daß sie imstande war, einen Unterschied zwischen ihm und der oberflächlichen Mitteilung festzustellen, ohne Überraschung aufzunehmen. Es reizte sie, und sie betrachtete mißbilligend seine Ärmelaufschläge, die mehr als einen Zoll zu lang waren; im übrigen war sein Anzug, das übliche tropische Dinnergewand, tadellos; es war sogar, urteilte sie, zu vollkommen. Sein Gesicht machte auf sie den Eindruck, als ob sie es schon in Gips in irgendeiner Galerie von Florenz oder Rom gesehen hätte; es war von der typischen Schönheit und Regelmäßigkeit italienischer Skulpturen. Seine Farbe bestärkte die Illusion. Es war tatsächlich unglaublich, daß einer im Tropenklima so weiß bleiben konnte.

»Donatello«, dachte sie wieder; »oder Shelley.«

»Heute früh habe ich einen Brief von Remy bekommen«, benachrichtigte er sie. »Er sagt, ich solle Ihnen recht klarmachen, wie sehr er bedauert, nicht hier sein zu können; aber, Sie wissen, ein Soldat –«

»Wo ist er?« unterbrach sie.

»Da oben, hinter Siem-Reap, er ist zum ›Agent français‹ ernannt worden in irgendeinem gottverlassenen Nest am Mekong«, erklärte Conquest.

»Siem-Reap,« wiederholte sie, »das ist nahe bei Angkor, nicht wahr? – Was hat Ihnen Hauptmann Barthélemy erzählt? Ich meine über die – die Angelegenheit, die mich hierher brachte.«

Er bot ihr Zigaretten an und nahm selbst eine. Sie bemerkte, daß seine Zigarettendose mit einer auserlesen feingearbeiteten Figur in Gold verziert war; ihr Reichtum und ihre Vollkommenheit paßten zu dem Mann.

»Er wußte sehr wenig«, entgegnete er. »Er sagte mir, er habe eine Nacht ungefähr, nachdem er Bangkok verlassen, ein drahtloses Telegramm von Ihnen bekommen des Inhalts, es sei etwas geschehen und er sollte einen Mann im Auge behalten, der einen blauen Slendong trage oder getragen habe; auch hätten Sie ihn ersucht, diesen Mann nach der Ankunft in Saigon unter Aufsicht zu halten, aber nichts der Polizei zu melden. Da Remy unverzüglich seinen neuen Posten antreten mußte, sandte er Ihnen die drahtlose Nachricht, daß ich mit Ihnen zusammenkommen würde; dann, nach seiner Ankunft hier, bat er mich, den Slendongburschen nicht aus dem Auge zu lassen, überhaupt mich zu Ihrer Verfügung zu stellen, was ich mit großem Vergnügen tue.«

»Sie sind sehr freundlich«, warf sie ein.

»Ich versichere Sie,« – mit seinem sonderbar melancholischen Lächeln – »meine Zeit ist gegenwärtig nicht kostbar. Ich bin sozusagen auf Urlaub; wissen Sie, ich komme sehr selten von meinen Sagoplantagen weg, und solange ich hier bin, tue ich nichts als mich amüsieren. Ich hoffe nur, ich kann Ihnen von Nutzen sein. Bis jetzt habe ich nur in Erinnerung gebracht, daß der fragliche Mann sich Garon nennt und sich in Cholon aufhält.«

»Verkleinern Sie nicht die Bedeutung dieser Nachricht,« sagte sie, »es ist genau das, was ich zu wissen wünsche. Ich glaube, Sie werden mir sicherlich die Mühe und Ungelegenheiten verzeihen, die ich verursacht habe, wenn ich Ihnen erzähle, wie ernsthaft die Sache ist. Hauptmann Barthélemy und ich bemerkten den Mann in Singapore; seine Erscheinung fiel uns auf. Barthélemy meinte, er gliche jemandem, den er, glaube ich, in Saigon gekannt hatte. Später, als ich in Bangkok Dr. Garth, einen Familienfreund, besuchte, sahen wir ihn wieder, und ich bemerkte, daß er bucklig war; in ebendieser Nacht wurde der Doktor« – sie zögerte – »ermordet. Ich fand ihn so bei meiner Rückkehr in die Villa. Er hatte ... Die Einzelheiten sind schrecklich, aber Sie müssen es wissen; er war mit einem blauen Slendong erdrosselt worden.«

Sie machte eine Pause, dann nahm sie den Faden wieder auf.

»Es ist seltsam, wie man unwillkürlich zwei entfernt verwandte Zufälligkeiten miteinander in Zusammenhang bringt. Es gibt keinen logischen Grund, warum ich einen Mann des Mordes verdächtigen sollte, einfach weil er einen blauen Slendong trug, und ein ebensolches Kleidungsstück am Tatort gefunden wurde. Es wird hunderte von blauen Slendongs geben. Und doch fühlte ich – nun, vielleicht war es eine Eingebung. Ich fühlte einen Impuls, und ich folgte ihm, wie ich es immer tue. Impulse sind wahrer als Logik. Einer der Diener des Doktors verschwand in der Mordnacht. Dieser Diener, ein Eurasier, war seit seiner Kindheit bei Dr. Garth. Die Polizei hält ihn für den Schuldigen. Darum habe ich bis jetzt Schweigen bewahrt.

Ihr Blick wanderte auf die Straße hinaus. Franzosen mit hohen Tropenhelmen, hagere, sonnenverbrannte Forstbeamte aus Annam und Tongking, schlottrige Soldaten und nachlässig gekleidete Offiziere; barfüßige Eingeborene mit bloßer Brust, annamitische Schützen in Khaki, geräuschlose Kulis und Frauen, weiße und braune, deren gepuderte Wangen der Schweiß durchfurchte. Diese Gesichter widerten sie an; sie hatte sich immer fern von der Menge gefühlt, aber noch nie so besonders fern wie jetzt. Der Mann ihr gegenüber mit seinem untadeligen Anzug und seiner makellosen Blässe schien das Gefühl ihrer Abgesondertheit zu teilen, so daß ihre Einstellung zu ihm etwas wärmer wurde.

»Jeder von diesen Leuten da draußen«, fuhr sie fort, »hätte das Nächstliegende getan: sie hätten gemeldet, daß sie den Mann mit dem blauen Slendong gesehen hätten. Aber schon der Gedanke war mir schrecklich. Er widerte mich an. Polizeiämter und das übliche Gerichtsverfahren. Für mich war das ja die große Gelegenheit. Das war Romantik! So ließ ich sie auf der Spur des Eurasiers Domingo, während ich meinem fürchterlichen Abenteuer entgegenging.

Ich glaubte den Slendongmann noch in Bangkok. – Sie sagten, er nenne sich Garon, nicht wahr? – – – – Also sandte ich tags darauf meinen Boy in den Hotels herum, um nachzuforschen, ob jemand, auf den die Beschreibung paßte, untergebracht gewesen sei. Manuel fand eine Fährte im Hotel Oriental. Ein Mann mit Buckel und einem blauen Slendong hätte dort gewohnt, sei aber vorige Nacht nach Saigon aufgebrochen. Da in der voraufgegangenen Nacht nur ein Schiff nach Saigon abgegangen war, schloß ich, daß Garon auf dem gleichen Dampfer mit Hauptmann Barthélemy sein müsse, deshalb sandte ich das Telegramm und –« mit einem Achselzucken schließend – »bin hier.«

»Aber,« forschte der Mann, »was für einen Beweggrund hatte dieser Bursche, Ihren Freund zu töten?«

Sie schaute ihn prüfend an.

»Ich vermute, Sie werden mich auslachen, nein, ich glaube, Sie werden es nicht.« Sie neigte sich zu ihm, leise lächelnd: »Ich glaube, Garon steht irgendwo in Verbindung mit jenem fast sagenhaften Wesen, dem ›Schwarzen Papagei‹, vielleicht ist er sogar selbst der Papagei.« Nun lächelte er auch. »Der ›Schwarze Papagei!‹ Warum? Sie haben wahrscheinlich gehört, daß der Smaragd-Buddha aus dem königlichen Tempel in Bangkok geraubt wurde; sicher haben Sie davon gehört, nicht wahr? Also gut, er verschwand in der Nacht, da Dr. Garth ermordet wurde. Der Doktor hatte viele unverkäufliche Antiquitäten und Kostbarkeiten in seinem Heim, seltene Buddhas und Juwelensammlungen mit romantischer Geschichte. ›Der schwarze Papagei‹ ist, wie Sie wissen, berühmt als Dieb, der grade solche Sachen stiehlt und sie an skrupellose Sammler verkauft. Warum, frage ich mich, sollte ich nicht annehmen, daß der ›Schwarze Papagei‹ oder einer seiner Bande den Smaragd-Buddha gestohlen hat? Und, wieder knüpfe ich zwei entfernte Zufälligkeiten zusammen, warum sollte ich nicht annehmen, daß die gleiche Person in die Villa des Doktors kam, um ihn zu berauben?«

»War irgend etwas gestohlen?«

»Nach einem aufgefundenen Inventarverzeichnis wurde nichts vermißt. Jedoch kann irgend etwas den Dieb verhindert haben, sein Vorhaben auszuführen; zum Beispiel meine Rückkehr. Oh, es gibt viele Begründungen für eine überstürzte Flucht.«

Conquest fuhr fort zu lächeln. »Und glauben Sie wirklich, daß Garon der berüchtigte ›Schwarze Papagei‹ ist?«

»Oder einer seiner Genossen. Warum nicht? Er war in Bangkok zu der Zeit, als der Smaragd-Buddha gestohlen wurde, und verließ es unmittelbar danach. Ich hatte gehofft und hoffe es noch, Hauptmann Barthélemy könnte mir helfen. Sie entsinnen sich, daß ich sagte, er habe erwähnt, daß ihm eine Ähnlichkeit aufgefallen wäre, als er Garon in Singapore sah. Sprach er mit Ihnen darüber?«

Conquest nickte. »Er sagte, Garon sähe einem nach Cayenne verschickten Straßenräuber, einem Kerl, namens Letourneau, gleich.«

»Letourneau? In Bangkok nannte er mir den Namen des Mannes, der Garon glich, aber er hörte sich anders an als Letourneau.«

»Doch, das ist der Name. Auf Remys Vorschlag stellte ich einige vorsichtige Nachforschungen an und bekam heraus, daß dieser Letourneau einer der ersten Sträflinge war, die nach der Hinrichtung des ›Perroquet Noir‹ entsprangen. Sie werden wohl die Geschichte von der Hinrichtung des ›Schwarzen Papagei‹ gehört haben?«

»Ja. Dann – –« sie hielt plötzlich ein. »Dr. Garth wurde erdrosselt und Letourneau ist ein – – –«

»Oberflächlich betrachtet ist es bedeutungsvoll genug«, gab er zu. »Aber wir wissen nicht, daß Garon Letourneau ist, er sieht ihm nur ähnlich.«

»Trotzdem, es bekräftigt meine Annahme. Der Buddha, die Sammlungen des Doktors, der Slendong, alles weist auf den ›Schwarzen Papagei‹ oder einem Agenten von ihm. Sehen Sie das nicht ein?«

»Doch. Aber was können wir tun, um diese Annahme zu beweisen? Verständigen Sie die Polizei und lassen Sie ihn verhaften.«

»Nein, nein«, fiel sie dazwischen. »Es ist meine große Gelegenheit; ich weigere mich, sie aus der Hand zu geben!« Sie sagte es mit Heftigkeit und eine plötzliche Blutwelle strömte in ihr olivenfarbenes, blasses Gesicht. Sie gewahrte Conquests bewundernden Blick, der von ihrem glänzenden Haar bis zu ihrem silbernen Gürtel wanderte. Ein unbestimmtes Gefühl von Unbehaglichkeit dämpfte ihren Eifer.

»Prachtvoll!« hörte sie ihn murmeln. Dann sprach er laut: »Haben Sie je ›Freya von den sieben Inseln‹ gelesen? Oder machen Sie sich nichts aus Conrad?«

Das Wort »Prachtvoll« flößte ihr den Gedanken an ein besonders gut gezüchtetes Tier ein. Es wirkte wie eine Herausforderung.

»O, ich weiß, was Sie denken!« brauste sie auf. »Es scheint Ihnen lächerlich, daß ich, eine Frau, von Bangkok gekommen bin, um solch eine Aufgabe zu lösen. Wie unweiblich! Eine Frau soll kein anderes Ziel haben, als sich schön zu machen, sonst ist sie eben eine Amazone. Die Aussicht, nichts weiter als eine Erinnerung von Schönheit zu hinterlassen, entsetzt mich. Persönlichkeit, der individuelle Beitrag an die Welt durch Vervollkommnung, das ist die Eigenschaft, welche die Zeit umwandelt von Geschlecht zu Geschlecht.«

Sie neigte sich näher zu ihm, Glut im dunklen Glanz ihrer Augen.

»Es scheint etwas Kleines, Lächerliches zu sein, was ich unternehmen will. Einen Dieb fangen! Ein wenig grausam, nicht wahr? Aber Ehrgeiz ist von Natur grausam. Schließlich haben Diebe die gleichen Gemütsbewegungen wie wir, nur mit irgendeiner Entstellung.

Wahrhaftig, wäre es nicht um des Zaubers der Romantik willen, mein erster Schritt hätte sich auf das häßliche Niveau einer Polizeiamtssache beschränkt. Aber die Romantik bewahrt mich davor, so daß es mir erscheint, als erforsche ich irgendeinen dunklen, unbekannten Erdteil; Romantik! Begreifen Sie? Oder halten Sie mich auch, wie die übrigen, für eine Art geschlechtslosen Geschöpfes, das mit einem Fieber behaftet ist, wofür es nur das Heilmittel des Heimes und Herdes und irgendeines Mannes gibt, der mich über Winterabende hinwegbringt?«

Seine grauen Augen trafen sich über den Tisch mit den ihren und sie glaubte, einen Schimmer von Verständnis darin zu erblicken. Sein sonderbares melancholisches Lächeln zuckte um seine Mundwinkel.

»Interessiert es Sie, was ich persönlich denke?« fragte er. »Oder wünschen Sie bloß, daß irgendeiner. Ihrer Philosophie beistimmt?«

»Hat sie Zustimmung nötig? Nein, sie ist viel zu glänzend dafür.«

Sie wußte, er schmeichelte nicht; sie fühlte eine Sympathie der Ideen zwischen Conquest und ihr selbst; der Gedanken, nicht der Ideale. Es war etwas Störendes in seinem Charakter, ein unbestimmbares Element, dem sie ... mißtraute oder das ihr mißfiel. Was es auch sein mochte, es warnte sie vor Vertraulichkeit.

»Viel zu glänzend«, wiederholte er. »Romantik! Unbekannte Erdteile! Ich hoffe, Sie lassen mich mit Ihnen zusammen reisen. Was ist Ihr nächstes Ziel?«

»Meine Pläne sind noch unbestimmt. Sie sprachen davon, daß Garon sich in – wo war es doch? – aufhielte?«

»Cholon; er lebt im Haus eines wohlhabenden Chinesen; Cholon, wissen Sie, ist die Chinesenstadt – etwa drei Meilen vom eigentlichen Saigon entfernt.«

»Wer hat ihn dort ausfindig gemacht? Sie?«

»Nein; aber ich bin ihm mehr oder weniger auf den Hacken. Sehen Sie, als Remy Ihr Telegramm auf dem Dampfer erhielt, suchte er Umgang mit Garon, der sich als Vogelsammler ausgab. Als sie hier ankamen, schlug ihm Remy vor, er solle sich in seiner Wohnung einquartieren, statt in ein Hotel zu gehen, da er selbst unverzüglich nach seinem neuen Posten abreisen müsse, Aber Garon lehnte ab. Da Remy im Zollgebäude einen seiner Schützen sah, wies er den Burschen an, Garon zu folgen und zu melden, wohin er ginge. In der Nacht erhielt er die Nachricht, Garon sei in Cholon in das Haus eines gewissen Kaufmanns – mir fällt der Name jetzt nicht ein – gegangen. Remy kam am nächsten Morgen zu mir und ich entsandte meinen geschicktesten Boy, um Garon auf den Fersen zu bleiben. Er ist zweimal in der Stadt bei einem Schneider in der Rue Catinat gewesen und fast jede Nacht geht er zu Lily Wun.«

»Lily Wun?«

»Ja, ein Lokal, das von einem eurasischen Weib betrieben wird. Sie handelt mit Wein, Mohnsaft und anderen Dingen. Die Elite von Saigon verkehrt bei Lily.«

»Elite« – ein Anflug von Ironie lag in seinem Ton. »Natürlich; über ein Drittel der Bevölkerung nimmt Opium oder andere Narkotika. Seien Sie nicht schockiert! Die andern zwei Drittel trinken sich zu Tode. Was ist da für ein Unterschied, wenn es zum selben Ende führt?«

Sie sah ein Glitzern in seinen Augen, kalt wie Eis. Er konnte grausam sein, urteilte sie. Ein Träumer? Ja, aber ein Typ, der die Leute für seinen Zweck auf Abwege brachte, sich ihre Fehler zunutze machte, oder, von seinen Träumereien entflammt, sie mitleidlos seinem Erfolg opferte.

»Geht Garon der Rauschmittel wegen dorthin?« fragte sie.

»Offenbar.«

»Kennen Sie diese Lily Wun?«

Ein Schimmer von Verdacht veranlaßte sie, ihn sorgfältig zu prüfen. Nein, seine Augen waren zu klar ...

»Kann man sie ins Vertrauen ziehn?« fuhr sie fort.

»Wenn Ihr Preis höher ist, als der des andern? Aber ich würde nicht –«

»Was würden Sie nicht? Zu Lily Wun gehn? Warum nicht?«

»Nun, ich wußte gar nicht, daß Sie es beabsichtigten?«

»Ich tue es.«

»Allein?« Dann fügte er hinzu: »Ich wage nicht, Ihnen meinen Schutz, wohl aber meine Begleitung anzubieten?«

»Sie dürfen mitgehen – aber unter einer Bedingung.«

»Ja?«

»Sie müssen – nun, Sie müssen mir gehorchen«, lächelte sie.

»Einverstanden. Aber was erwarten Sie denn zu finden?«

Sie stellte eine Gegenfrage: »Sind Sie sicher, daß Garon um der Rauschmittel willen hingeht?«

»Wozu sonst?«

»Wenn, wie Sie sagen, jedermann diese Lily Wun kennt, würden Sie nicht – – vorausgesetzt, daß Garon so ist, wie ich vermute – –, würde er nicht dieser Umstände wegen Lily Wun's Bekanntschaft suchen? Denn Sie haben gesagt, man könnte sie kaufen.«

»Wann wollen Sie hingehen? Morgen abend?«

»Ja.«

»Sie haben keine Angst?«

Sie lächelte duldsam: »Vor Ihnen?«

Er lachte. »Was wollen Sie dort? Lily ausfragen?«

»Lassen wir die Dinge an uns herankommen!«

»Ausgezeichnet. Nebenbei, ich habe Karten für die Oper heute abend genommen. Haben Sie Lust hinzugehen? Es wird ›Der Barbier von Sevilla‹ gegeben.«

Ihre erste Regung war, abzulehnen, aber sie besann sich anders. Es war eine Kompliziertheit in seinem Wesen, die sie reizte, zwei Charakterelemente, die einander so schlugen wie seine Blässe und sein rabenschwarzes Haar.

Spät in der Nacht, nach der Oper, lag sie in ihrem mattbeleuchteten Zimmer und dachte an Stephen Conquest. Während der Vorstellung waren seine Ärmelaufschläge zurückgerutscht und hatten ihr Ringe von leichenfarbenem Grau um seine Handgelenke enthüllt. Narben. Als Lhassa sie sah, hatte sie ein phantastisches Bild vor Augen: Feuer und Rauch der Inquisition, und eine gefolterte Gestalt an die Mauer gefesselt. – – Stephen Conquest. – – Sie fiel endlich in Schlaf und träumte von finsteren Mönchen und flackernden Herzen und von einem weißen Gesicht in einer schwarzen

*

Lhassa, die den Vormittag im Zimmer verbracht hatte, fuhr im Auto am späten Nachmittag nach Cholon, wo sie gerade vor Sonnenuntergang ankam. In den Halbtönen des frühen Abends hatte die Chinesenstadt eine lockend böse Stimmung; enge Straßen, in denen die Dächer oben zusammenstießen; lustige Holzbuden und Kaufläden und eine endlose Prozession gelber Menschen. Sie suchte unter der bunten Masse eine bekannte bucklige Gestalt, sah aber nichts dergleichen.

Nach der Rückkehr ins Hotel dinierte sie allein auf der Terrasse, und musterte die andern Gäste. Sie machten ihr den Geist, der in Saigon herrschte, verständlich: Luxus und Lüsternheit. Sie schrieb diesen Zustand der lockeren Auffassung des Durchschnittsfranzosen über seine sogenannte Verbannung zu; er vergißt, daß man in Paris leichtfertig sein kann, ohne moralisch zu sein, daß dies aber in den Tropen schwerhält.

Sie hatte Conquest als einen Typ erkannt, der Wert auf Kleidung legte und hatte sich deshalb mit besonderer Sorgfalt angezogen. Graue schwedisch-lederne Schuhe, grauseidene Strümpfe, graues Chiffonkleid und einen schwarzen Florentinerhut mit orangefarbenen Rosen.

Nach der Mahlzeit auf ihrem Zimmer erwog sie die Frage, ob sie ihren »Boy« anweisen sollte, ihr zu folgen und vor Lily Wun's Lokal auf sie zu warten, aber schließlich entschied sie sich dahin, daß sie wohl jedem Zwischenfall gewachsen sei. Sie schlang einen Schleier um den Hut, steckte eine kleine Selbstladepistole in ihre Handtasche und setzte sich nieder, um Conquest zu erwarten. Er kam zur verabredeten Zeit, tadellos angezogen. Bei seinem Gruß bemerkte sie in seinen Augen ein scharfes, fast hungriges Verlangen, das ihr im Moment einen heftigen Schreck einflößte.

»Etwas Widriges ist passiert«, sagte er, als sie in einem Auto, das er selbst steuerte, abfuhren.

»Garon ist verschwunden?« fragte sie ahnungsvoll.

Er sah sie an: »Jawohl, so ziemlich. Vorige Nacht verließ er das Haus in Cholon, nahm einen Wagen und fuhr davon. Keo-lin – das ist mein Boy – konnte kein Fahrzeug finden, das ihm schnell genug hätte folgen können, und wartete daher auf Garons Rückkehr. Aber Garon kam nicht, das heißt, bis jetzt; die letzte Nachricht habe ich kurz vor Dunkelheit bekommen. Es tut mir verteufelt leid.«

»Das macht nichts,« antwortete sie, »wenn er wirklich Narkotika braucht, werden wir seine Spur finden. Ich bin optimistisch.«

Er schaute sie mit freimütiger Bewunderung an: »Sie erinnern mich an eine Frau, die ich einst im Dschungel sah.«

»Eine Amazone?«

»Nein, eine in eine Mauer gemeißelte Gestalt. Es war eine jener alten Königinnen des goldenen Chersones, die Gefährtin eines Gottes, Indras. Ich entdeckte sie in einer Tempelruine oberhalb Laos-Land. Sie war nur die Teilfigur eines Flachreliefs; kalt zum Anrühren, und doch erfüllte sie den Tempel mit ihrem Dasein und erfüllte ihn mit Feuer. Als ob der Bildhauer ihren Geist in dem Stein eingefangen hatte. Sie würde niemals sterben, auch nicht, wenn der Stein zerbröckelt. Sie hat etwas von der unsterblichen Ayesha in sich, einen Geist, der die Kunst selbst ist ...«

Ein sanftes Lachen antwortete. »Sehen Sie,« erklärte er, »ich male und modelliere ein bißchen, und oftmals geht meine Begeisterung mit mir durch. Aber Schönheit ist für die Sünden des Mannes Sühne. Schönheit und Kunst und Romantik, die Dreifaltigkeit.

Wenn Sie in irgendeinem fremden Hafen eingelaufen sind und sehen die Masten und Segel, die Dächer und Kirchtürme, spielerisch wie Regenbogenfarben im Dunst, haben Sie niemals dabei eine Vertrautheit empfunden, die Sie fast erschreckte? Wiederverkörperung? Nein. Es ist der Geist der Kunst, der so alt ist wie das Leben, der sofort die Schönheit erkennt. –«

Das Auto sauste ostwärts durch die Stadt; in seinen Worten lag ein düsterer, fast tragischer Unterton, der sie beklommen machte. Sein Profil leuchtete weiß durch die Dunkelheit.

»Romantik«, fing er wieder an, »ist die trügerische Person der Dreifaltigkeit. Sie ist weiblich. Warum? Vielleicht weil sie die Männer beherrscht und sie bis an das Ende der Welt führt. Berge, Dschungel, Meer, Städte und Ruinen, überallhin lockt die Romantik. Aber sie entschwindet immer, Romantik, die schöne Täuschung. Sich vorzustellen, daß junge Narren ihr Leben hergeben für eine Illusion; Illusion ist nicht ein Weib – Gott sei Dank. Es ist eine banale Sache, für eine Frau zu sterben – aber für eine Illusion ...«

Er lachte leise in sich hinein. »Romantik. Sie tyrannisiert die Männer, die meisten wollen es nur nicht zugeben. Und doch ist es so. Zum Beispiel: Ich habe eine Sagoplantage in Kawaras. Statt sie als ein prosaisches Geschäftsgrundstück anzusehen, betrachte ich es als mein Königreich. Einesteils stimmt das. Denn ich bin dort ein weißer Rajah. Wenn ich auch der Regierung eine prozentuale Gewinnsteuer für ihren Schatz zahle und an gewisse Vereinbarungen mit ihr gebunden bin, beherrsche doch ich das Gebiet. In der Nähe der Plantage lebt ein heimtückischer malayischer Sultan, und ich wünschte eher, er machte einen Aufstand, anstatt daß er belohnt wird, wenn er sich friedlich verhält. Widersinnig, nicht wahr? Aber es wäre prächtig. Eingeborene Krieger, malayische Kriegsboote, ein britisches Kanonenboot! Ich kann mir Sie vorstellen in einem solchen Rahmen; ich kann Sie deutlich im Geiste sehen, Sie – – – Herrscherin von Kawaras.«

»Herrscherin von Kawaras«, wiederholte sie, fast im Glauben, ein Knabe säße neben ihr und erzähle ihr seine Träume von Schätzen und märchenhaften Königreichen. »Ist das ein Antrag?« Sie bereute es im selben Augenblick, da sie es gesprochen, und wunderte sich, warum sie es gesagt hatte.

Er lachte mit einem Ton, den der heiße Wind von seinen Lippen verwehte.

»Es kann einer gewesen sein!«

Die Stimmung wurde plötzlich unbehaglich, sie fuhren schweigsam durch die nun herrschende Dunkelheit.

Das Ziel ihrer Fahrt erwies sich als ein hohes, weitschweifiges Landhaus, das von Palmen und Bambusstauden umgeben war. Eine einsame Laterne brannte unter dem Säuleneingang; Lichter drangen durch die Spalten der Fensterläden. Obwohl diese Anzeichen darauf schließen ließen, daß die Villa stark besucht sei, schien eine große Stille zu herrschen.

Ein Annamit in weißer Livree nahm das Auto in Empfang.

»Das war einmal das Wohnhaus eines hohen Regierungsbeamten,« erzählte Conquest beim Durchschreiten der Veranda, »der so tief bei Lily verschuldet war, daß er als Teilzahlung sein Heim hergeben mußte.«

Bevor sie eintraten, ließ Lhassa ihren Schleier herab. Ein kaltes Ekelgefühl überlief sie; nicht Angst, sondern Widerwillen. Das Gefühl rief ihr einen Spätnachmittag in Tokio ins Gedächtnis, als sie Yoshiwara besuchte.

Drinnen war eine Stille wie samtne Schwere, und ein scharfer Geruch von brennender Aloe lag in der Luft. Ein Boy kam lautlos hinter braunen Vorhängen hervor; Conquest ging auf ihn zu und flüsterte ihm etwas zu. Eine Lampe mit gelbem Schirme beleuchtete einen Raum mit vielen, durch Vorhänge verhüllten Sonderabteilen. Drachen aus Goldlack schmückten schwarze Täfelungen.

Man führte sie in ein kleines Gemach mit ebensolcher schwarzen Täfelung und goldenen Drachen darauf. In der Mitte standen ein Teetisch und Stühle; aus einer Kupferschale auf einem Ständer stieg Weihrauch in bläulichen Windungen empor.

Lhassas Herz begann rascher zu schlagen, als Conquest ihr einen Stuhl bot und der Boy hinausging. Es war im Zimmer, im Haus eine Luft von raffiniertem Laster, das sie zu besudeln schien; der Weihrauch, ein Jasmingeruch, war zum Ersticken.

»Bereuen Sie, daß Sie herkamen?« fragte er, indem er sie mit seinen grauen Augen forschend anblickte.

»Ich werde froh sein, wenn ich wieder reine Luft atme«, war ihre Antwort. »Haben Sie den Boy nach Lily Wun gefragt?«

»Nein, zuvor müssen wir etwas zu trinken haben; es ist nötig, um – um ›unser Gesicht zu wahren‹, wie die Chinesen sagen. Man mischt einen ausgezeichneten Cocktail hier, genannt ›Atem des grünen Drachens‹.«

Sie beobachtete ihn voll Zweifel.

»Kommen Sie oft her?«

Er lächelte. »Sooft es das Geschäft verlangt.«

»Geschäft?«

»Ja, ich habe eine ganze Anzahl Chinesen als Angestellte in Kawaras, zum Teil als Schreiber, zum Teil in den Godorons – Warenlagern, wissen Sie. Ich muß sie immer mit Opium versorgen.«

Das verletzte ihr moralisches Rechtsgefühl. »Sie begünstigen das Laster?«

»Nein, ich finde mich damit ab. Die Chinos würden nicht bleiben ohne ihre Pfeife ›schwarzen Rauches‹, außerdem, wenn ich ihn nicht an sie verkaufen würde, so täte es irgendein Wucherer. Sie sehen, so paradox es scheinen mag, ich bin ein Wohltäter.«

»Und was sagt die Behörde dazu? Läßt sie Lily Wun und ihren Betrieb gewähren?«

Er lächelte wieder: »Zweifellos betrachtet sie Lilys Geschäft als höchst einträglich.«

»Ist die französische Kolonialpolizei so korrupt?«

»Sie sind zu streng; Laster ist ein geduldeter Bestand jeder großen Organisation; es ist nur dann korrupt, wenn es nicht gestattet wird. Und, wissen Sie, man kann nicht so nah am Äquator ein Utopia errichten.«

Ein Boy kam mit einem Tablett. Conquest sprach einige Worte zu ihm, wie Lhassa glaubte, in einem chinesischen Dialekt, und der Boy verschwand.

»Lily wird gleich hier sein«, kündete er an. »Ich meine, sie wird weniger argwöhnisch sein, wenn ich sie ausfrage. Soll ich?«

»Selbstverständlich.«

Gleich darauf öffnete sich die Tür, um ein Weib hereinzulassen; ein raubtierähnliches, widerliches Geschöpf, begehrliche Augen lugten aus einer Maske von weißem Email.

»Sie wünschen mich zu sehen, Monsieur?«

Conquest stand nicht auf. »Ja, es handelt sich um eine vertrauliche Information.«

Als Lhassa Lily Wun betrachtete, dachte sie wieder an Yoshiwara, das Gesicht der Eurasierin war glatt wie das einer Puppe, aber alt, alt wie die Sünde.

»Ich möchte etwas erfahren über einen Mann, mit dem ich ein Geschäft machen will«, fuhr Conquest fort. »Ich höre, er kommt häufig hierher; er ist bucklig und heißt Garon. Kennen Sie ihn?«

Lhassa kam es vor, als ob das Weib leicht lächelte.

»Ich spreche nicht über meine Kunden, Monsieur«, erwiderte sie.

»Also ist er ein Kunde.«

»Er ist oft hier«, gab sie zu.

»Wegen des ›schwarzen Rauches‹?«

»Habe ich das gesagt?«

»Aber Sie leugnen es nicht?«

»Sie reden wie ein Gendarm.« – Ihre Augen verengten sich zu schwarzen Schlitzen. – »Er kommt in mein Haus, um einen Freund zu treffen. Was weiß ich, was er tut?«

»Sie wissen, was Sie ihm verkaufen.«

Ein Achselzucken. »Nichts als dann und wann etwas zu trinken. Aber er zahlt für die Benutzung des Zimmers.«

»Und was ist mit seinem Freund? Eine Dame?«

»Nein.«

Er lächelte. »Gut. Wir kommen weiter. Wissen Sie irgend etwas über diesen Garon? Etwas Interessantes?«

»Nein.«

»Sie waren nie so neugierig, um an der Tür zu lauschen – oder einer Ihrer Boys?«

»Nein, gewiß nicht.«

»Aber,« immer noch lächelte er – »Sie würden einem Ihrer Stammgäste erlauben es zu tun, wenn Monsieur Garon heute abend käme?«

»Er wird heute abend nicht hier sein«, verschnappte sie sich. »Warum stellen Sie diese Fragen an mich, Monsieur? Bin ich eine Verbrecherin? Was wünschen Sie eigentlich?«

Bevor Conquest antworten konnte, sprach Lhassa.

»Wie wissen Sie, daß er heute nacht nicht kommt? Hat er es Ihnen gesagt?«

Die schmalen Augen stellten sich auf sie ein.

»Nein.«

»Dann hat irgend jemand anders es gesagt? Jemand, der eine Nachricht für ihn hinterlassen hat? Der Mann, mit dem er sich hier trifft vielleicht?«

Die Eurasierin öffnete den Mund, schloß ihn aber rasch wieder und wandte sich zum Gehen.

»Ich werde für die Information zahlen«, sagte Lhassa.

Das Weib machte langsam wieder Front.

»Wieviel?«

»Fünfzig Piaster.«

»Fünfundzwanzig«, verbesserte Conquest hastig.

Lily Wun lächelte ihm verächtlich zu. »Fünfzig.«

Lhassa nickte. »Was enthielt die Nachricht?«

»Sie war versiegelt –«

»Aber Sie öffneten und lasen sie«, warf Conquest ein.

Wieder das geringschätzige Lächeln, sie wandte sich an Lhassa.

»Es war in chinesischen Schriftzeichen geschrieben und handelte von einer Überweisung einer eingetroffenen Schiffsladung von Tee, über die aber erst weiter verfügt werden könne, nachdem der Schreiber die daran Beteiligten verständigt habe. Das war alles; es war nicht unterzeichnet.«

»Wer brachte es?« forschte Lhassa.

»Ein Kaufmann von Cap St. Jacques, namens Ong-Yoi. Er sagte mir, ein Mann, dessen Namen er nicht sagen könne, habe ihn für die Überbringung der Botschaft bezahlt, und daß Monsieur Garons Boy sie am Morgen abholen würde.«

»Ist der Absender der Mitteilung der gleiche wie der, mit dem Monsieur Garon hier häufig zusammenkommt?«

Die Eurasierin zuckte die Achseln. »Wie kann ich das sagen. Monsieur Garons Freund ist heute abend nicht gekommen.«

»Wie heißt dieser Freund?«

»Ich weiß es nicht, Madame.«

Lhassa war überzeugt, daß die Frau lüge, aber sie sagte nur: »Aber Sie kennen die Adresse des Kaufmanns von Cap St. Jacques; Ong-Yoi lautete doch der Name?«

»Ja, ich weiß die Adresse.«

Conquest schrieb sie auf. Dann sagte das Weib: »Das ist alles, was ich weiß.«

Lhassa entlohnte sie, und ohne ein weiteres Wort ging sie hinaus.

»Sie hätten sich die Mitteilung zeigen lassen sollen«, meinte Conquest.

»Aber ich hätte sie doch nicht lesen können. Jedenfalls halte ich den Inhalt der Nachricht für nicht halb so wichtig wie die Adresse des Überbringers. Jetzt werden wir –«

Er unterbrach: »Wollen Sie nicht lieber weitersprechen, wenn wir draußen sind?«

Sie durchschaute die Klugheit seines Rates und tat so, als ob sie den Cocktail schlürfe. Gleich nachdem sie ihr Glas geleert hatte, schlug sie vor, aufzubrechen.

»Nun fahren Sie fort!« forderte er sie auf, als das Auto von dem hohen weißen Hause weglenkte.

Sie sog die reine Luft in großen Zügen ein, bevor sie sprach.

»Wie gesagt, die Adresse des Überbringers der Botschaft erscheint mir wertvoller für uns als diese selbst. Möglicherweise können wir von ihm die Persönlichkeit des Absenders erfahren, und das kann zu manchen Entdeckungen führen – Garon zum Beispiel.«

»Sie wollen also den Vorschlag machen, nach Cap St. Jacques zu gehen und diesen Ong-Yoi aufzuspüren?«

»Ja.«

»Cap St. Jacques liegt über vierzig Meilen flußabwärts. Wäre es nicht einfacher, statt diesen Ausflug zu machen, ich beauftrage meinen Keo-lin, Lily Wuns Haus zu bewachen und Garons Boy zu verfolgen?«

»Warum nicht beides tun?«

»Beim Zeus! Sie sind entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Wenn Sie auf Cap St. Jacques bestehen, dann wollen wir meine Yacht nehmen. Ich bin auch in ihm von Kawaras hergekommen.

Wir brauchen für die Fahrt ungefähr vier Stunden. Ich würde vorschlagen, die ganze Sache mir zu überlassen, aber ich weiß, Sie wollen nichts davon hören.«

»Nein, ich will auch nicht. Aber«, sagte sie nach einer Pause, »ich möchte Ihr Anerbieten, mich zu begleiten, annehmen.«

»Ausgezeichnet. Wenn wir um drei Uhr nachmittags abfahren, sind wir bei Dämmerung in Cap St. Jacques.« Er fügte hinzu: »Wir können vor Mitternacht in Saigon zurück sein.«

Sie war sich klar darüber, daß ihr Vorschlag unvorsichtig, wenn nicht ungehörig war. Aber es lag nicht in ihrer Natur, sich durch gesellschaftliche Etikette eine gute Gelegenheit stören zu lassen. Und sie zweifelte nicht an ihrer Fähigkeit, sich selbst zu schützen; auch dachte sie nicht weiter über das impulsive Anerbieten Conquests nach. Er war ein anormaler Fall. Es schien etwas in ihm zu fehlen, ein moralisches Element, das sie aber nicht bestimmen konnte. Manchmal zeigte es sich plötzlich ganz nah an der Oberfläche, wie ein schuppiger Fischleib in einem Waldteich. Aber es war zu entfernt, zu wenig greifbar, als daß es ihr mehr wie einen vagen Argwohn verursacht hätte.

Beim Hotel angelangt, lehnte er ihre Einladung, noch ein Weilchen auf der Terrasse zu sitzen, ab. Eine schweigsame Zurückhaltung in seinem Wesen und ein eigentümlicher Eifer, wegzukommen, standen in Widerspruch zu einem verzehrenden Blick, so daß sie plötzlich den Eindruck hatte, er zwinge sich selbst gegen sein Verlangen zum Fortgehen. In blitzartiger Eingebung sah sie, daß er Angst hatte, – – – vor ihr.

Diese Enthüllung wirkte wie ein verwirrender Nebel. Er sagte formell »gute Nacht« und streckte seine Hand aus. Der Ärmelaufschlag schob sich zurück.

»Handfesseln,« sagte er, auf seine Gelenke blickend, »Der gefesselte Prometheus.«

Als er seine Augen erhob, erfaßte sie einen Blick, kalt wie Frost; er tat ihr weh. Sie konnte nichts sagen. Er wandte sich rasch um und ging.

»Handfesseln«, wiederholte sie, als sie in ihr Zimmer hinaufging. Wieder wie in der vergangenen Nacht fühlte sie die heiße Qual in Stephen Conquest, wieder fühlte sie sich bedrückt von schattenhaften Mönchsgestalten.

*

Am Morgen beschloß Lhassa, an Hauptmann Barthélemy zu schreiben und ihm ihre Resultate zu berichten. Da sie seine Adresse nicht kannte, telephonierte sie an das Büro der Saigon-Siam-Handelsgesellschaft, um Conquest danach zu fragen. Aber man teilte ihr mit, daß er wohl vor Mittag nicht da sein werde. Darauf telephonierte sie die Kaserne der Kolonialinfanterie an; man verband sie mit dem Nachrichtenchef.

Ob er ihr den Namen des Postens sagen könne, wohin Hauptmann Remy Barthélemy versetzt worden sei? fragte sie. Barthélemy? wiederholte der Nachrichtenchef den Namen. Wußte Madame von seinem – die Stimme stockte; o, Hauptmann Barthélemy! Ach ja! Ob sie mit dem Herrn Hauptmann befreundet sei. Sie erwiderte: Ja. Und – ob sie erst jetzt nach Saigon gekommen sei. Sie bejahte verwirrt. Ach ja, es falle ihm grade der Name des Ortes nicht ein, diese asiatischen Namen! Mon dieu. Sein Gehilfe, der grade fort sei, habe die Schlüssel zur Schublade mit den Berichten. Madame möchte diesen unvermeidlichen Umstand entschuldigen, ob sie ihm ihren Namen angeben möchte? Er würde die Mitteilung sobald als möglich besorgen und sie anrufen. Sie sagte ihm Namen und Adresse, und immer noch verdutzt, hängte sie an.

Die Höflichkeit des Nachrichtenchefs war außergewöhnlich gewesen.

Eine Stunde wartete sie vergebens; dann, als sie das Hotel verlassen wollte, um Einkäufe zu machen, wurde sie von einem kleinen schnurrbärtigen Offizier mit rotem Gesicht angesprochen, der seinen Helm abnahm und steif in hochachtungsvoller Haltung dastand.

»Miß Camber? Verzeihen Sie. Ich habe eben nach Ihnen gefragt. Darf ich Sie einen Moment aufhalten; ich bin der Nachrichtenchef – – – Ja. – – – Wollen Sie sich nicht setzen? Ich werde kurz sein.«

Er macht eine ziemlich lächerliche Figur mit seinem roten Gesicht, dem langen Schnurrbart und der engsitzenden Uniform, dachte sie.

»Da ich auf Delikatesse Wert lege,« fuhr er fort, »dünkte es mich besser, persönlich vorzusprechen statt zu telephonieren.

Soviel ich weiß, sind Sie seit langem mit Hauptmann Barthélemy befreundet?«

Eine unbestimmte schattenhafte Angst stieg in ihr auf. »Warum, ja?« antwortete sie. »Er ist nicht gerade ein alter Freund, aber – – –«. »Sie kennen ihn von Frankreich her? Ja?« »Nein. Ich habe in Singapore seine Bekanntschaft gemacht und Aber warum fragen Sie danach?«

Eine übertriebene Geste. »Aus Zartgefühl, nicht um Sie zu verletzen, Mademoiselle. Es hat sich ein unglückseliger Vorfall ereignet, ein –« Er hielt ein, wieder mit einer Gebärde. »Sehr schauerlich, gnädiges Fräulein, sehr ... Ein tüchtiger Offizier und ein Gentleman ... Sehen Sie – verzeihen Sie meine schroffe Eröffnung; – Hauptmann Barthélemy hat sich vor etwa zwei Wochen das Leben genommen.«

Er schien enttäuscht, daß sie nicht in Ohnmacht fiel. Die unklare Furcht war zur Wirklichkeit geworden; sie fühlte einen schweren Druck auf ihrer Kehle und suchte nach Worten, aus ihrem sonstigen Gleichgewicht geworfen.

»Zwei Wochen!« wiederholte sie. »Nach seiner Rückkehr?«

»Nein, Gnädige, unterwegs. Die Begleitumstände sind etwas – nebelhaft; es ereignete sich, als das Schiff in einem Hafen lag, in Kep, glaube ich. Niemand hat in Erfahrung gebracht, wie es zuging. Er sagte zu einem Mann der Besatzung, er wolle an Land gehen, und ging in seine Kajüte. Als er nicht wiederkam, sah man nach ihm – und er war – war weg. Seine Kleidungsstücke waren da, er hatte sie abgelegt. – Aber ...« Sein Gesicht wurde immer röter; er schien ganz aufgeregt. »Die Öffnung der Luke, Mademoiselle ... Der einzige Weg ... O ja – weit genug. Kein Brief war da, nichts als seine Kleider.«

Die dumpfe Schwere in ihrer Brust wuchs. Barthélemy tot! Ein heftiges, trostloses Gefühl kam über sie, wich wieder, ließ aber die Ahnung von etwas Heimtückischem zurück. Sie sah in Gedanken Conquests graue Augen.

»Da ich ein Mann von Zartgefühl bin,« sagte der kleine Offizier, »wollte ich es Ihnen am Telephon nicht erzählen. Es ist wirklich sehr bedauerlich; ein guter Soldat, ein Gentleman – – –. Ich fühle mit Ihnen, Mademoiselle. Kann ich irgend etwas für Sie tun?«

»Nein«, sagte sie wieder im Gleichgewicht. »Sie haben sehr taktvoll gehandelt; ich weiß es zu schätzen.«

»Nicht der Rede wert«, versicherte er. »Nur etwas Zartgefühl, Sie verstehen ... eine Tochter in Frankreich – ja, Paris. Ah, mon Dieu! Paris! ...«

Mit einer tiefen Verbeugung verabschiedete er sich; Lhassa war nahe daran, krampfhaft aufzulachen, als sie der kleinen, lächerlichen Gestalt nachsah.

In ihrem Zimmer sank sie auf einen Stuhl; ein ganzer Schwarm von Fragen stürmte auf sie ein, argwöhnische Gedanken marterten ihren Geist und hinterließen schmerzende Spuren. Barthélemy – ein Selbstmörder. Sie konnte es nicht glauben. Conquest; ihre drahtlose Depesche von Bangkok. Selbstmord – nein, Mord! Auf irgendeine Weise hatte Garon ihre Depesche abgefangen und Barthélemy getötet. Conquest war mit im Spiel, ein – – phantastisch! – – es konnte nicht sein. Und doch, wenn es kein Komplott war, warum wollte Conquest, daß sie glaube, Barthélemy sei auf einen Posten im Innern versetzt worden! Was für ein fein ausgearbeiteter Plan. Plötzlich fiel ihr alles ein, was Conquest über Garon und das Haus in Cholon erzählt hatte, fiel ihr Lily Wun und sein Anerbieten, sie nach Cap St. Jacques zu bringen, ein. Was für ein Gewebe!

Sie überblickte im Geist nochmals die letzten Tage und sah jetzt jede Tatsache ganz klar. Es war phantastisch, aber wahr.

Garon hatte Dr. Garth erdrosselt; Garon alias Letourneau, der Straßenräuber, der Würger; er hatte den Smaragd gestohlen, hatte ihre Depesche in Empfang genommen und Barthélemy umgebracht. Dann hatte er mit Conquest ausgemacht, er solle mit ihr zusammenkommen und erforschen, was sie wüßte. Garon war der ›Schwarze Papagei‹. Oder Conquest. Oder keiner von beiden. Nur Werkzeuge.

Sie ging im Zimmer auf und ab, setzte sich wieder. Sie konnte wohl glauben, daß Garon so ziemlich jeden Verbrechens schuldig sein könne, weil er für sie gewissermaßen keine wirkliche, sondern eine so schattenhafte Person war, daß sie zeitweise an seiner Existenz zweifelte. Aber nicht so leicht war es, Conquest, einen Mann von Fleisch und Blut mit einer Verbrecherbande in Zusammenhang zu bringen. Aber ohne Frage war er mit hineinverwickelt. Jetzt, im Lichte dieser neuen Entwicklung der Dinge kamen ihr zahllose kleine Vorfälle ins Gedächtnis zurück und verstärkten ihren Verdacht.

Zuerst dachte sie daran, die Polizei zu verständigen. Aber rasch verwarf sie den Gedanken wieder. Nein, sie war bis hierher ihre eigenen Wege gegangen und wollte dabei bleiben. Und wäre es auch nur des Glanzes der Romantik wegen. Es gab einen anderen Weg, der ihr besser und vollkommener erschien. Sie fragte sich nur, ob sie es wagen könne, ihn zu beschreiten. Vielleicht plante Conquest, sie in Cap St. Jacques gefangen zu halten oder sie aufs Meer zu bringen. Unsinn. Aber der ganze Fall war mehr oder weniger absurd. Sie mußte alles durchdenken, alles wohl überlegen.

Nach einer halben Stunde war sie zum Entschluß gekommen, sie ließ Manuel, ihren »Boy« rufen.

»Manuel, ich werde heute nachmittag mit Mister Conquest auf seiner Yacht eine Fahrt den Fluß hinab machen«, sagte sie zu ihm. »Merke dir diesen Namen, Conquest, Stephen Conquest. Sein Büro hier in der Stadt ist im Hause der Saigon-Siam-Handelsgesellschaft, am Quai François Garnier. Merke dir das auch! Wir müssen nach Cap St. Jacques. Gegen Mitternacht werde ich wohl zurück sein, aber es könnte auch etwas später werden. Wenn ich bis zwei Uhr – nein, drei Uhr nicht hier bin und du nichts mehr von mir gehört hast, geh zur Polizei und melde, was ich dir erzählt habe.

Außerdem wünsche ich, daß du heute nachmittag um halb drei in einem Auto vor dem Hotel bist und mir folgst, wenn ich abfahre. Merk dir den Namen der Yacht und ihren Platz an der Mole.

Danach kannst du machen, was du willst, bis sieben Uhr; zu dieser Zeit geh ins Hotel zurück, denn es kann sein, daß ich anrufe ...«

Als sich die Tür hinter dem Filippino schloß, sank sie schaudernd in den Sessel. Zuerst Dr. Garth, dann Barthélemy innerhalb eines Monats. Was für ein Monat! Sie sah ihn wie ein Stoffmuster von brutalen Farben; den weißen blendenden Glanz der Tage, die stechenden grauen und purpurnen Töne der Nacht und in diesen Stoff hineingewoben den blauen Slendong, der abwechselnd verschwand und wieder erschien. Er schien unsichtbar um sie geschlungen, sie nachziehend, fort zu einer Enthüllung, der sie mit wachsender Angst entgegenging.

Wieder schauderte sie. Sie blickte auf ihr graues Morgenkleid nieder, dessen tote Farbe sie bedrückte, sie mußte sich umziehen. Das Kleid aus tiefbronzenem Crêpe de Chine paßte zu ihrer Stimmung.

*

Lhassa war nervös, als sie hinabging, um Stephen Conquest zu treffen; aber als sie ihn dann erblickte, hatte sie ihre Sicherheit wieder.

Es war doch unglaublich, dachte sie, daß er an diesem heimtückischen Komplott gegen sie beteiligt war, und einen Augenblick lang war sie im Zweifel, ob die Unterhaltung mit dem Nachrichtenoffizier bloß in ihrer Phantasie existiere.

Jedoch alle Zweifel wurden durch die Erinnerungen verjagt, die sich ihrem Geist eingeprägt hatten.

Sie fuhren nicht direkt zum Fluß, sondern auf einem Umweg, was sie etwas stutzig machte. Conquest war noch gesprächiger als gewöhnlich, und während er plauderte, studierte sie sein langes, schmales Profil von tadellosem Schnitt, aber es lag doch ein Makel darüber.

Conquests Yacht, ein schlankes, weißglänzendes Fahrzeug, frisch gestrichen, war viel größer, als sie es sich vorgestellt hatte.

»Eintausend Tonnen«, sagte er, als sie an Bord gingen. »Beachten Sie den Namen«, fügte er lächelnd hinzu. »Ich habe sie nach Conrads ›Narzissus‹ getauft. Dort« – er deutete auf einen schwärzlichen, uniformierten Mann beim Steuerhaus – »diesen Nigger habe ich in Macao gefunden. Er hat alles mit Ausnahme seines Navigationszeugnisses verloren. Ich nehme mir meine ganze Mannschaft aus aufgelesenen Schiffbrüchigen. Es ist eine Art Spiel. Gottesspiel. Nicht jedes Menschenwrack ist wurmstichig; oft ist es nur die Barke. Und sie sind treu ergeben, treu wie Hunde.«

»Aber,« fragte sie dagegen, »haben Sie nicht Angst, sie könnten eines Tages tollwütig werden und Sie beißen?«

»Nein; ich habe mehr Zutrauen in Treibholz als in das fertige Produkt der Sägemühle. Verstehen Sie mich recht; ich bin kein Wohltäter; ich verlange ein gleiches Maß von Dienstleistung für das, was ich gebe. Ich habe kein Mitleid für diese Leute; ich schätze nur ihren Wert richtig ein.« Nach einer Pause: »Möchten Sie nicht gern einen Gang über das Schiff machen? ...«

Der »Narzissus« war vollendet ausgerüstet und tadellos vom Bug bis zum Heck. Neben dem Speiseraum war ein Empfangszimmer mit mehreren Bücherschränken. Er führte sie auch durch alle Kajüten bis auf eine, die er seltsamerweise als die »Blaubarts« bezeichnete. Sie wunderte sich, daß er sie ihr nicht zeigte und schloß daraus, daß er sie absichtlich wißbegierig machen wolle. Jedenfalls fiel es ihr schwer, ihre Neugierde zu unterdrücken, und als sie weitergingen, blieb in ihrem Geist die nicht geöffnete Tür haften.

Als der gedämpfte Ton der Schiffsglocke und ein schwaches Beben bekundeten, daß sie in Fahrt seien, durchrieselte sie unwillkürlich Schrecken. Sie fragte sich mit einem heftigen Anfall von Zweifel, ob sie klug gehandelt habe. Auf jeden Fall war es nun zur Reue zu spät. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde die Fahrt ohne Erfolg sein, und sie würde nach ihrer Rückkehr, wenn überhaupt etwas, nur wenig mehr wissen als vorher. Wenn irgend etwas geschehen sollte –. Es war eben ein verzweifeltes Wagnis.

Sie lagen auf Deck in Liegestühlen. Feuchte Hitze stieg vom Fluß herauf und schlug vom Himmel herab.

Als er ihr Zigaretten anbot, fiel ihr die goldgetriebene Figur auf der Dose auf, und sie erinnerte sich schwach, sie schon früher bemerkt zu haben.

»Sie ist nach einem antiken Relief gemacht«, sagte er, ihr Interesse bemerkend.

Sie nahm die Dose und studierte die Zeichnung. Es war ein nacktes Weib, das nur mit einem kunstvoll gearbeiteten Gürtel, einer Anzahl Halsketten und Armbändern und einer dreizackigen Tiara geschmückt war; die Figur war so fein verfertigt, daß jede Einzelheit deutlich hervortrat.

»Es stellt eine Apsara oder himmlische Kurtisane dar«, erklärte er. »Die Khmers verewigten sie in Flachreliefs an den Mauern von Angkor. An das Original knüpft sich eine Geschichte, die ich Ihnen einmal erzählen werde. Entsinnen Sie sich der Frau aus Stein, von der ich Ihnen vorige Nacht erzählte? Dies hier ist eine Nachbildung davon; ein Goldschmied in Bangkok hat sie nach einer Photographie gefertigt.« Bei der Erwähnung von Bangkok wandte sich ihre Aufmerksamkeit mit einem Schlag von der Dose auf ihren Besitzer.

»Sie sind in Bangkok gewesen?«

Er nickte.

Sie war nahe daran, ihn zu fragen, ob sein Besuch erst neueren Datums gewesen sei, als es ihr bewußt wurde, daß die Frage zu anzüglich wäre. Statt dessen sagte sie:

»Erzählen Sie mir etwas von Angkor!«

»Angkor,« sagte er versonnen, auf die Zigarettendose blickend, »Steinkobras, tödliches Schweigen und Fledermäuse ...; man kann die Fledermäuse nie vergessen. Ich wanderte in einer Nacht durch Angkor unter schwirrenden, flatternden Tieren, sie jagten mir Schrecken ein, wie die Geister von Draculas Vampyr ...«

Mit halbgeschlossenen Augen hörte sie hin, aber ihre Gedanken weilten mehr in Bangkok als in Angkor. Wann war er in der siamesischen Hauptstadt? fragte sie sich. Vielleicht war er dort auf seiner Yacht in der Nacht, da Dr. Garth ermordet wurde. Aber das erschien ihr nicht logisch. Denn wenn er dort war, warum fuhr dann Garon mit dem Postdampfer ab? Nein, er war kein unmittelbarer Täter in der Bangkoksache, aber indirekt war er beteiligt. Er, Stephen Conquest ... »Donatello« ... Der Mann ihr gegenüber, der von Resten einer alten Kultur plauderte, war ein Verbrecher ... Am späten Nachmittag, als die blauen Berge von Annam ihre Spitzen gegen das Abendrot des Himmels erhoben, ertönte von der Mitte des Schiffes her ein Gong, mit sanftem, lockenden Ton.

»Ich habe einen Boy, der so gut kocht wie der Küchenchef eines Kalifs,« belehrte sie Conquest, »drum habe ich das Dinner auf dem ›Narzissus‹ statt in Cap St. Jacques angeordnet. Vor einer Stunde werden wir nicht dort sein.« Lhassa war die Ablenkung willkommen. Ein Chino servierte. Das Essen war vorzüglich, aber sie hatte keinen Appetit. Sie war aufgeregt und fühlte, daß sie auf der Schwelle eines fürchterlichen Abenteuers stand.

Nach dem Mahl gingen sie ins Empfangszimmer; Conquest holte aus einem Bücherschrank einen Band.

»In dieser alten geographischen Zeitschrift finden Sie einige ausgezeichnete Ansichten von Angkor Thom«, sagte er. »Würden Sie sich dafür interessieren, während ich mich erkundige, wo wir sind?«

Um ihre Nervosität nicht merken zu lassen, nahm sie die Zeitschrift und blätterte anscheinend interessiert darin. Conquest ging an ein Sprachrohr und berichtete nach kurzem Gespräch, daß sie in kurzer Zeit Cap St. Jacques erreichen würden. Erleichtert schloß sie die Zeitschrift.

»Wollen wir an Deck gehen?«

»Ja, – aber zuerst habe ich eine Überraschung für Sie. Wenn Sie wirklich gerne das Geheimnis der ›Blaubart‹-Kajüte ergründen wollen, können Sie es.«

Eine plötzliche unerklärliche Furcht schnürte ihr die Kehle zu. »Blaubart-Kajüte,« wiederholte sie, »das klingt unangenehm.«

Er lachte mit einem unergründlichen Ausdruck. »Oh, ich habe die Köpfe alle zugedeckt!«

Sie verzog ihr Gesicht, zögerte und folgte ihm dann in den Gang zu den Kajüten. Es fror sie bis in die Fingerspitzen. Beim laut rasselnden Geräusch des herumgedrehten Schlüssels fuhr sie in nervöser Angst zusammen. Conquest öffnete die Tür, knipste ein Licht an und trat dann mit seiner geheimnisvollen Miene zur Seite.

Zuerst sah sie nur ein weißes Schlafzimmer mit einem Kleiderschrank in der Wand und mehreren Koffern und Schachteln auf dem Boden. Im nächsten Moment erfaßte ihr Blick, der durch die bange Erwartung scharf geworden, daß die Gepäckstücke ihre eigenen waren.

Sie starrte; Eiseskälte kroch ihr bis ans Herz. Das Pochen ihres Pulses war so laut, daß sie meinte, der Mann könne es hören. Regungslos stand sie da.

Der plötzliche Gedanke an Manuel löste ihre Lähmung und gab ihr die Kraft, sich umzudrehen und Conquest ins Gesicht zu schauen.

»Das ist abgeschmackt,« hörte sie sich selbst sprechen mit einer kalten, tonlosen Stimme, »abgeschmackt. Ich ...«

Sie stürzte zu dem offenen Guckloch.

Beim Geräusch von Conquests Schritten wandte sie sich um.

»Es wäre unwahr, wenn ich sagen würde, ich bedaure sehr – Sie zwangen mich hierzu –«, begann er.

»Machen Sie mir keine Erklärungen, sondern sagen Sie mir, wohin wir fahren.«

Er lächelte und machte eine weitausholende Geste gegen das Guckloch hin.

»Da hinaus unter die Sterne. Sie begehren Romantik, Abenteuer. Sehr schön! Ich werde die Rolle eines Gottes spielen.«

Er zuckte die Achseln, ging zur Tür, hielt aber inne.

»Ich vermute,« sagte er, »Sie denken, Ihr Filippino wird Ihr Fernbleiben melden. Aber das wird er nicht. Ich habe meine Maßnahmen getroffen, es zu verhindern.«

Diese Eröffnung flößte ihr momentan einen panischen Schrecken ein. Dann aber durchdrang sie plötzlich das Gefühl ihrer Macht.

»Sie sind sehr gründlich«, sagte sie mit kaltem, verächtlichen Lächeln. »Sogar an meine Kleider haben Sie gedacht. Ich sollte eigentlich ängstlich sein. Aber ich bin es nicht. Noch habe ich den Wunsch, zu entkommen. Ich hatte Sie im Verdacht, daß Sie etwas Derartiges, etwas äußerst Phantastisches tun würden. Sehen Sie, heute entdeckte ich, daß Hauptmann Barthélemy – wie soll ich sagen? – sich das Leben genommen hat? – – – Ich müßte Sie verabscheuen und verfluchen; statt dessen bemitleide ich Sie. Ihre unsinnige Handlungsweise gibt mir die Gelegenheit; zum erstenmal in meinem Leben habe ich etwas zu tun – verstehen Sie? Und vielleicht wird es mir glücken; vielleicht werde ich den ›Schwarzen Papagei‹ finden; wer weiß? Nein, ich fürchte mich nicht. Sie können grausam sein, aber nicht gegen mich. Sie wissen, warum. Sie brauchen mich nicht zu bewachen. Ich werde nicht versuchen loszukommen, – wenigstens zur Zeit nicht. Aber wenn ich entschlossen bin, wegzugehen, werde ich es tun, ja, ob Sie es glauben oder nicht.«

Sie sahen sich in die Augen, die ihren blickten zielbewußt, die seinen waren höhnisch und kalt. Das lebende Bild dauerte nur kurz, dann schritt er mit leisem Lächeln hinaus und schloß die Tür.

Sie fühlte eine unbestimmte Enttäuschung.

*

Gleich nachdem Conquest sie verlassen hatte, steckte sie den Schlüssel in die Innenseite der Tür und schloß zu. Dann warf sie sich auf das Bett und wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie tat keins von beiden, sondern kauerte sich zusammen, in die Luft starrend, wie ein Leopard in der Ruhe. Erbitterung gegen Conquest brannte in ihr. Es verlangte sie danach, ihn in sein fehlerloses Gesicht zu schlagen. Ihre Wut, Auswirkung ihres Schreckens, war so heftig, daß ihr fast schlecht wurde.

Allmählich erlosch das Feuer ihres Zorns, aus dessen Asche ein heißes Verlangen nach einem Gefährten erstand. Ein tiefes Gefühl von Verlassenheit ergriff sie. Allein, immer allein. Der Macaw, der glänzende Vogel, der von Ort zu Ort flog, frei wie der Wind und ebenso einsam! ...

Sie sprang auf, nahm aus ihrer Handtasche den Selbstlader und steckte ihn schaudernd bei dem Gedanken, daß der kleine blinkende Zylinder Leben zerstören könne, unter die Matratze.

Die Nacht kam und der Schlaf.


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