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Sechstes Kapitel
Der Traumhändler

Als Lhassa erwachte, brauchte sie einige Sekunden, um sich zurechtzufinden; ein Gefühl der Unwirklichkeit blieb bestehen.

Die Hitze in der Kajüte wurde durch eine Brise von der Luke her gemildert; mit ihr kam der Geruch kochenden Kaffees herein. Dieser Wohlgeruch regte ihren Appetit an. Hungrig. Komisch und banal, inmitten solch unsinniger Ereignisse an Essen zu denken; aber sie sagte sich, daß auch Abenteurer essen müssen.

Beinahe zehn Uhr! Sie schaute zur Luke hinaus, auf die einsame, trostlose Schönheit des Meeres! ...

Als sie ihren Blick wieder in die Kajüte wandte, fragte sie sich, ob Conquest sie im Speisezimmer zum Frühstück erwarte. Beim Gedanken an ihn runzelte sie die Stirne. Welche Haltung sollte sie ihm gegenüber annehmen? Offene Feindschaft würde ihren Zielen im Wege sein; aber andererseits lag Kompromiß nicht in ihrer Natur. Ihre angeborene Würde empörte sich dagegen, daß er ihr die Freiheit geraubt; ihr Stolz forderte, daß sie ihm Trotz bieten solle. Aber sie machte sich klar, daß sie nur durch Nachgeben, scheinbares Nachgeben, ihren Zweck erreichen könne. Jedoch war sie so klug, zu erfassen, daß in diesem Falle eine Nachgiebigkeit, die zu weit ging, ihre Macht schwächen würde.

Conquest mußte das Gefühl bekommen, daß sie sich beruhigt, aber keineswegs unterworfen hätte.

Im Begriff aufzustehen, bemerkte sie einen Klingelknopf bei ihrer Bettstelle; sie drückte. Wenige Minuten später klopfte es; sie schlüpfte in ihren Kimono und ließ einen Chino mit einem beladenen Tablett herein. Das war mehr, als sie erwartet hatte.

Geräuschlos servierte er das Frühstück auf dem Tisch und verschwand.

Danach kleidete sie sich an und ging auf Deck; zu ihrer Erleichterung fand sie dort nur zwei Leute der Mannschaft, die nur einen offenbar nicht überraschten Blick auf sie warfen und in ihrer Arbeit fortfuhren. Sie war gespannt darauf, wie sich Conquest benehmen würde; obwohl sie sich jeder Situation gewachsen fühlte, hatte sie Angst vor der Begegnung.

Nachdem sie zweimal um das Deck herumgegangen war, bei jedem Umkehren erwartend, auf Conquest zu stoßen, entschied sie sich endlich, der Spannung ein Ende zu machen und wandte sich an die zwei Leute an Deck, die sie neugierig anstarrten. Ob sie wüßten, wo sie Mister Conquest finden könnte. Der eine erwiderte, er glaube, er sei im Kartenhaus.

Kurz entschlossen kletterte sie auf das Brückendeck, ohne auf den Blick des schwärzlichen, bemützten Mannes am Steuer zu achten, und schritt in das Kartenhaus.

Conquest saß an einem Tisch und schrieb, aber bei ihrem Eintreten stand er auf. Seine grauen Augen sahen sie einen Moment forschend an, dann wie beruhigt, keine Feindseligkeit zu spüren, lächelte er.

»Guten Morgen.«

Sie gab seinen Gruß, nicht aber sein Lächeln zurück. »Ich möchte mit Ihnen sprechen.«

»Wollen Sie Platz nehmen?«, er deutete auf einen Stuhl.

»Nein.« Ihre Haltung war hoheitsvoll, in ihrem Ton lag stolze Herablassung; ihr Haar bekam im Sonnenlicht einen hellen Glanz und wurde wie eine strahlende Krone. »Ich möchte Sie sprechen«, wiederholte sie gebieterisch.

Er nickte. »Es wird Sie von der Spannung befreien, wenn wir uns verständigen; das meinen Sie wohl?«

»Ganz genau. Was also haben Sie mit mir vor?«

Ein launischer, knabenhafter Ausdruck belebte seine Züge, ein Ausdruck, der auf der geisterhaften Blässe seines Gesichts fast widersinnig wirkte.

»Wenn Sie je an der Wasserseite eines großen Seehafens entlang gewandert sind, werden Sie das, was ich Ihnen sagen will, besser verstehen. In jedem Hafen gibt es in der Nähe der Docks Läden, die mit Segelstoff, Tauwerk und Schiffsmaterial aller Art handeln; meist sind es düstere Lokale, die nach Salzwasser, Teer und Wasserhanf riechen. Man nennt sie Schiffskrämereien.«

Er machte eine Pause, und sie fragte kühl:

»Nun, was soll diese Parabel bedeuten?«

Er zuckte die Achsel. »Statt Schiffe auszurüsten, ist es mein Vergnügen, Menschen mit Träumen zu versehen; wenn ich finde, daß ihre Ausrüstung damit mangelhaft ist, liefere ich ihnen das Fehlende. Das ist mein Geschäft. Da Sie vorigen Abend gesagt haben, Sie verlangen nach Abenteuern, gebe ich Ihnen die Möglichkeit zu Abenteuern.«

»Erwarten Sie, daß ich das glaube?« entgegnete sie verächtlich.

Wieder ein Achselzucken. »Glauben Sie es oder nicht, es ist wahr.«

»Was ist mit Garon? Ich vermute, daß Sie mehr von ihm wissen, als Sie mir erzählt haben?«

Da er nicht antwortete, fuhr sie fort:

»Warum bin ich hier? Nur wegen einer lächerlichen Schrulle von Ihnen? Sie möchten gern, daß ich das glaube; aber das tue ich nicht. Ich bin hier, weil ich eine Bedrohung für Ihre Pläne bedeute, wenn ich frei wäre. Nach allem, was ich erfahren habe« – sagte sie rückhaltlos – »können Sie es gewesen sein, der Dr. Garth getötet hat. Sie können der ›Schwarze Papagei‹ sein. Auf jeden Fall bin ich nicht so dumm, zu glauben, daß ich aus einem wohlwollenden Beweggrund entführt worden bin.«

Er verzog seinen Mund zu einem Lächeln.

»Wie Sie zu verstehen geben,« begann er, »vielleicht bin ich der ›Schwarze Papagei‹, vielleicht auch nicht. Vielleicht weiß ich ein gut Teil über Garon, vielleicht nur sehr wenig. Warum soll ich Ihre Illusion darüber zerstören, indem ich es Ihnen sage? Ungewißheit. Das ist das Wesentliche am Abenteuer! Überdies, ob ich verneine oder bejahe, Sie würden mir doch nicht Glauben schenken – nicht wahr?«

Sie überhörte seine Frage. »Wohin wollen Sie mich bringen?«

»Zum letzten Bollwerk der Romantik. In ein Reich, wo Abenteuer keine Illusion ist.«

Sein Lächeln erbitterte sie, aber sie beherrschte sich, und ihre Stimme blieb kalt, als sie sprach.

»Sie haben eine Verständigung angeregt«, erinnerte sie ihn.

»Ja, eine zeitweilige Verständigung. Sie werden sich vollkommener Freiheit erfreuen, bis wir Kawaras erreichen. Dort werde ich es so einrichten –«

»Kawaras?« unterbrach sie ihn, »gibt es wirklich einen solchen Ort; sind Sie Besitzer einer Plantage?«

»Ja. Ich bin Rajah von Kawaras.«

»Gibt es Weiße dort?«

»Einige wenige. Die meiste Arbeit verrichten Chinesen und Malayen. Aber, wie gesagt: Sie sind frei, solange Sie auf dem ›Narzissus‹ sind. Der Versuch, irgendeinen Mann der Schiffsbesatzung zu bestechen, wäre nutzlos für Sie. Denken Sie daran, daß die Leute mir ihre Existenz verdanken; sie gehören mir gewissermaßen, denn ich habe sie aus dem Schiffbruch gerettet. Sie werden keinerlei Unannehmlichkeiten oder Ungehörigkeiten ausgesetzt sein, vorausgesetzt, daß Sie sich selbst nicht welche schaffen. Ihre Mahlzeiten können Sie bei sich oder im Speiseraum einnehmen. Ist dies klar genug?«

»Nein.« Neugierde stachelte sie. »Was haben Sie mit meinem Boy gemacht? Umgebracht?«

Er spielte Entrüstung und lächelte. »Sie bestehen darauf, einen Mörder in mir zu sehen. Sehe ich so aus?« Er umklammerte den Tischrand und beugte sich näher zu ihr hin. »Kann nichts Sie überzeugen, daß ich einfach ein absonderlicher Narr bin, der die Launen befriedigt, die ihm als Knaben nicht vergönnt waren, wobei ich für die, welche mein Interesse erregen, die Rolle des Schicksals spiele? Ich kämpfe gegen eine Welt von schmutzigem Realismus. In einem früheren Zeitalter hätte ich prunkende Rüstung getragen und jetzt – jetzt bin ich nur ein Abtrünniger, ein Narr.«

Das seltsam melancholische Lächeln lag während seiner ganzen Rede auf seinem Gesicht. Es verwirrte sie, so daß sie im Zweifel war, ob er im Ernst spreche oder spotte. Sie sagte:

»Sie versuchen meiner Frage auszuweichen.« Er machte wieder eine Handbewegung: »Sehen Sie, nichts kann Sie überzeugen. Sie wünschen schlagende Tatsachen. Nun gut. Ihr Boy wird festgehalten an einem Ort, wo er meine Pläne nicht stören kann. Ich beabsichtige ihn dort zu behalten, bis ich es für klug erachte, ihn freizulassen. Nun, sind Sie zufriedengestellt?«

»Nein, wie haben Sie mein Gepäck an Bord gebracht?«

»Noch mehr Tatsachen? Bestehen Sie darauf? – Also gut«, erwiderte er spöttisch seufzend. »Während ich gestern auf Sie wartete, gab ich, anscheinend in Ihrem Auftrag, Anweisung, daß sobald Sie herunterkämen, zwei Boys auf Ihr Zimmer gehen, Ihre Sachen packen und sie in einen Wagen bringen sollten, den ich bestellt hatte. Ich habe auch Ihre Rechnung beglichen.«

Sie lächelte eisig. »Sie sind wirklich sehr tüchtig. Zu schade, daß Sie Ihre Fähigkeiten nicht einem besseren Beruf gewidmet haben.«

Sie milderte ihren Ton, als sie ihn so leblos bleich, fast wie ein geschnitztes Bild der Trauer dastehen sah. »Können Sie denn nicht sehen, was für sinnlose Dinge Sie unternehmen? Begreifen Sie nicht, daß Sie sich selbst Ihre Falle stellen? Zuletzt –«

»Zuletzt,« fiel er ein, »werde ich zwar – wie heißt es rasch? – ins Dunkel sinken, in meinem innersten Wesen unverstanden, vergessen, ohne Vergebung gefunden zu haben. Unerhört romantisch bin ich vielleicht, denn wer möchte, könnte glauben, daß ich all dies nur aus Romantik tue? Sie wünschen den ›Schwarzen Papagei‹ zu finden; Sie wollen wissen, wer Ihren Freund, den Doktor getötet, wer den Smaragd-Buddha geraubt hat, was mit Barthélemy geschehen ist; ob Garon der Straßenräuber Letournau ist; warum ich so handle. Alle diese Dinge werden Sie zur rechten Zeit erfahren – weil es in meiner Macht steht, für Sie Schicksal zu spielen. Und zuletzt –« er zuckte mit den Achseln, »sitzen Sie an Winterabenden am Kamin und träumen vom großen Abenteuer, und ich ... im Dunkeln ... vergessen, unverziehen.«

Entweder war er verrückt oder ein ganz besonderer Schurke, sagte sie sich. Aber Narr oder Spitzbube, er war malerisch mit seinen blassen, vollkommenen Zügen, den Narben an den Handgelenken und dem seltsamen Lächeln. Sie versuchte gar nicht auf seine phantastische Rede etwas zu erwidern; es war nicht nötig. Sie lächelte über seine Narrheit, lächelte aus Mitgefühl – und verließ ihn. Sein bleiches Gesicht, das Feuer, das sie in seinen Augen erblickt, verfolgten und beunruhigten sie.

*

Als der Gong zum Lunch rief, ging Lhassa mit sich zu Rate, ob sie allein oder mit Conquest speisen solle; nach kurzer Überlegung entschied sie sich für das letztere. Sie hatte nichts dabei zu gewinnen, wenn sie sich isolierte, im Gegenteil bestand die Gefahr, etwas zu verlieren.

Conquest hatte gewartet, als ob er mit ihrem Erscheinen gerechnet hätte, was sie etwas ärgerlich machte. Er brachte das Gespräch auf unpersönliche Dinge – gerade als ob sie unter ganz prosaischen Umständen dinierten.

Für sie war das Mahl eine Groteske sondergleichen. Ihr kam es vor, als ob sie statt menschlicher Wesen ein paar Puppen seien, die sich auf das Kommando einer unsichtbaren Person bewegten und sprachen. Es schien ihr irgendwie unglaublich und unmöglich, daß dieser Mann sie entführt haben sollte. Welchen Anteil konnte er an Garths Ermordung, am Raub des Smaragd-Buddha und am Tode Barthélemys haben? Wenn auch vielleicht nicht direkt, stand er ohne Zweifel zu allem in Beziehung. Er war nicht nur ein Werkzeug, dessen war sie sicher; auch Garon nicht. Sie waren Genossen. Wo war Garon? In Saigon? Höchstwahrscheinlich. Die Annahme, daß sie miteinander den Plan entworfen hatten, sie irgendwo festzuhalten, bis Garon in Sicherheit sei, schien einleuchtend. Aber wie lange sollte das dauern? Andererseits war ein gewaltiger Irrtum hierüber nicht ganz ausgeschlossen. Aber es war unwahrscheinlich. Denn weshalb wäre sie sonst entführt worden als deshalb, weil sie zu viel wußte.

Als sie sich später zum Dinner umkleidete, dachte sie an ihren Selbstlader und fühlte unter die Matratze, um sich zu vergewissern, daß er dort sei. Ihre Hand fand nichts, so daß sie überrascht die Matratze aufhob. Ihr erstes Gefühl war Schrecken, dann Zorn. War Conquest in ihrer Kajüte gewesen? Oder hatte der Boy, der ihr Bett in Ordnung gebracht hatte, die Waffe gefunden und sie seinem Herrn übergeben? Gleichviel, es war bedeutungsvoll, daß sie weg war. Sie empfand heftige Entrüstung. Sie würde sie von Conquest fordern.

Sobald sie mit dem Umkleiden fertig war, suchte sie Conquest auf. Er war weder im Salon noch auf Deck; so stieg sie in das Kartenhaus hinauf.

Es war leer. Eine Karte an der Wand erregte ihre Aufmerksamkeit; sie war über einem Tisch angenagelt und zeigte einen Teil von Indochina, Siam, die ganze malayische Halbinsel, Sumatra, Java und Borneo. Eine rote Linie ging von Saigon über die südchinesische See nach Borneo. An ihrem Ende stand in roter Tinte geschrieben »Sadok« und »Kawaras«. Sie empfand einen heftigen Schlag. Kawaras – lag an der Küste von Borneo! Bisher hatte sie es als selbstverständlich angenommen, es läge irgendwo an der Küste von Indochina oder der malayischen Halbinsel. Kawaras war, wie sie feststellte, ein schmaler Gebietsstreifen zwischen Sarawak und Sambas; Sadok war offenbar sein Hafen. Kawaras ein unabhängiger Staat von Borneo! Und Conquest sein Rajah! Sie starrte mit verhaltenem Atem auf die gezackten Umrisse der großen Insel.

Dösende Krokodile in grünschäumenden Flüssen, Orchideen und andere exotische Pflanzen, so stellte sie sich Borneo vor. Und dorthin sollte sie. Die Bilder davon riefen ihr mit einem leichten Erzittern die Erinnerung an etwas zurück, was Barthélemy gesagt hatte. »Dschungeln ... unerforschte Flüsse.« Gebannt blickte sie weiter auf die Karte. Ihr Gefühl von Vertrautsein mit der Dschungel-Insel war so stark, daß es ihr einen Augenblick lang schien, als ob sie ihre Persönlichkeit verlöre und ein Teil davon würde.

Die Töne einer Schiffsglocke rissen sie aus ihrer Versunkenheit; sie eilte aus dem Kartenhaus hinab.

Im Gang begegnete sie Conquest; ihre fehlende Pistole fiel ihr ein, und ihr kaum verrauchter Zorn glomm wieder auf.

»Sie sind wirklich zu gründlich«, eröffnete sie ihm, vor ihm haltmachend.

Er zeigte einen überraschten Ausdruck. »Ich verstehe nicht.«

»Nicht? Ich wünsche meine Pistole zurück.«

»Pistole?«

»Vermutlich ahnen Sie nichts davon, daß jemand heute einen kleinen Selbstlader unter meinem Bett hervorgeholt und entfernt hat.«

Er tat erstaunt. »Nein! Wirklich? Ich werde mit dem Boy sprechen, der Ihren Raum besorgt. Diese Chinos haben eine Leidenschaft für Feuerwaffen. Jedenfalls, wenn er sie genommen hat, werden Sie sie wiederbekommen.«

Sie lächelte nur kalt, ging in ihre Kajüte und verschloß die Tür. Sie war zornig, weil sie erschreckt war. Der Verlust der Waffe offenbarte ihr, daß sie sich mitten in einer schlimmen Intrige und nicht in einer unterhaltsamen phantastischen Geschichte befand. Jede Hilfe, schien ihr, war ihr genommen; sie sah sich verlassen einer Situation gegenüber, in die sie sich selbst mit Vorbedacht gebracht hatte. Jedoch die Tatsache, daß sie nun ausschließlich auf ihre Kaltblütigkeit angewiesen sei, reizte wieder ihren Mut. Der Macaw war in die Falle gegangen; aber eben der Käfig, der sie gefangen hielt, würde ihr auch als Schutz dienen. Ein Gefühl von Sicherheit kam über sie. Sie schloß die Tür auf. Ja, sie wußte, wie sie mit Stephen Conquest umzugehen hatte.

*

In der folgenden Nacht fuhr der »Narzissus« in undurchdringlicher Dunkelheit auf den leuchtenden Vollmond zu, der über Borneo stand.

Lhassa versuchte zu lesen, aber sie fand keine Ruhe und in der Kajüte war es heiß. Die Sterne lockten sie auf Deck.

Hier saß sie, die Arme um die Knie geschlungen, versunken in die nächtliche Symphonie.

Auf einmal fuhr sie erschreckt auf und gewahrte, daß Conquest neben ihr stand.

Er zündete eine Zigarette an; das Aufflammen des Streichholzes mußte ihm ihren ärgerlichen Ausdruck verraten haben, denn er fragte:

»Bin ich Ihnen so unsympathisch?«

Sie hob ihre Augen zu ihm; im trüben Mondlicht verschwamm das Oval seines Gesichts.

»Heute nacht ja«, gab sie kalt zurück und fuhr gleich darauf mit grausamer Absicht fort. »Manchmal verfluche ich Sie; ein andermal sind Sie nichts, gar nichts als Mittel zum Zweck; ein andermal wiederum habe ich Mitleid mit Ihnen.«

Er lachte auf eine Art, die ihre Stimmung besänftigte; sie wußte, daß sie seine verwundbare Stelle berührt hatte.

»Warum verfluchen Sie mich?« fragte er eindringlich. »Weil Sie mich für einen Dieb – einen Mörder halten?«

Ein Rest ihres Unwillens war zurückgeblieben, sie formulierte ihre Antwort vorsichtig. »Eine Frau,« erklärte sie, »kann einem Mann einen Diebstahl verzeihen, ja – sogar einen Mord – aber niemals eine Versündigung an ihrem Stolz. Es liegt in ihrer Natur, Unrecht zu vergeben. Aber wenn ein Mann sich anmaßt, ihr heiliges Recht auf Selbstbestimmung anzutasten, wie Sie es getan haben, indem Sie mich, meine Person und das Gepäck hierher verschleppt haben, dann macht er sich eines unverzeihlichen Vergehens schuldig.«

Er spielte schweigend einige Sekunden mit seiner Zigarettendose, dann sagte er:

»Sie formulieren es sehr klar. Wenn ich Ihnen jedoch jetzt Ihre Freiheit anbieten könnte, bezweifle ich, ob Sie sie annehmen würden.« Er lachte leise. »Eine komplizierte Psychologie, die Frau, – nein, Sie würden nicht. Und ich habe nicht die Absicht, Ihnen das eine große Abenteuer vorzuenthalten.

In kommenden Jahren werden Sie auf mich als einen Wohltäter zurückblicken. Stephen Conquest, der Narr, der um Romantik kämpfte. Und der Lohn? Ein Schatten auf dunkler See, eine Erinnerung ... Oh, Sie werden an mich zurückdenken; Sie werden nicht imstande sein, zu vergessen. Darin liegt meine Genugtuung.«

Sehr nachdenklich forschte sie: »Wieso liegt darin eine Genugtuung?« Und schon bedauerte sie diese Frage.

Er machte eine unentschlossene Handbewegung.

»Weil – gut, Sie haben mich gefragt, so werde ich es Ihnen sagen: weil ich niemals eine Frau in dieser Art gerade geliebt habe – das heißt, keine lebende Frau. Ich liebe Sie nicht als Fleisch und Blut, sondern als etwas Fernes, als eine herrliche und unnahbare Persönlichkeit. Der delphischen Sibylle, ihr gleichen Sie; zu fein, um wirklich zu sein. Wenn ich Sie berühren würde, so weiß ich, daß Sie kalt wären, kälter als Stein, und doch erfüllen Sie mich mit Feuer. Oh, keine Angst! Ich werde Sie nicht berühren. Ich ...« Seine Rede endete in Schweigen.

Lhassa, deren Herz höher schlug, erschien mit einem Male das Schiff mit dem Deck, den Masten und den Segeln unwirklich; ebenso der Mann, der über ihr stand, im Mondlicht. Ein leichter Schauer überlief sie.

»Es war einmal eine andere Frau,« nahm er plötzlich seine Rede wieder auf, »ebenso ferne und unnahbar – eine Figur an eine Mauer gemeißelt.« Er lachte bitter. »Eine Figur an einer Mauer – ein Flachrelief. Stellen Sie sich vor, ein Mann, der eine Frau aus Stein liebt; aber es war nicht der leblose Stein, es war der Geist.« Er sah auf seine Zigarettendose nieder. »Das ist sie in Metall getrieben, die Figur, die Sie bemerkten, – die Apsara, von der ich Ihnen einmal in Saigon erzählte. Ich sagte, es sei eine Geschichte damit verknüpft, erinnern Sie sich, es ist eine ziemlich lange, eine ziemlich närrische Geschichte – doch –« Er zögerte, wie wenn er auf ihre Antwort wartete, aber sie sprach nicht.

»Wenigstens«, fuhr er fort, »verbieten Sie es mir nicht, sie zu erzählen. Sie kennen natürlich die Entstehungsgeschichte von Angkor? Sie entsinnen sich meiner Beschreibung der Figuren an den Mauern. Nun, es gab da auch Inschriften und Zeichen, die den heutzutage in Cambodia üblichen ähnlich sind. Diese Schriftzeichen, ergänzt durch den Bericht eines chinesischen Diplomaten aus dem Altertum, geben an, daß die Khmers, die Erbauer von Angkor, wie Sie wissen, einer brahmanischen Rasse angehörten, die von Indien her einwanderte. Beim Zeus, ich liebe es, mir diese Einwanderung auszumalen; sie kamen als Eroberer, welche die Schwächeren niederschlugen und zu Sklaven machten. Stellen Sie sich die Farben und das rauhe Drama vor, mit seinen brahmanischen Edlen, gepanzerten Kriegern, Reitern und Fußsoldaten, Elefanten und Streitwagen. Wunderbar!«

Lhassa saß regungslos da und starrte ihn verwirrt an. Sie staunte über seine unermüdliche Begeisterung und den Sinn für Romantik, der ihn entflammte. Ohne Zweifel war er geistesgestört, verrückt von zu viel Träumen.

Er schien die Dunkelheit anzureden, als ob dort ein unsichtbarer Gerichtshof sei, vor dem er die Sache einer verschwundenen Rasse vertrete.

»Ich schweife nicht ab,« erklärte er weiter, »sondern führe nur zu meiner Geschichte hin. Vor einer ganzen Anzahl von Jahren – vielleicht fünfzig – gab es einen Mann, einen Forscher, der glaubte, daß Teile der Khmers sich auf dem Marsche durch Vorderindien von dem Hauptheer abzweigten, sich ansiedelten und Städte bauten, die jetzt in Dschungeln verborgen und vergessen sind. Er zog aus, um es zu beweisen. In Manipur fand er eine Spur, die ihn nach Oberburma und von da in die Shanstaaten führte; dort in dem wilden Gebiet, wo Burma, Siam und Laosland aneinandergrenzen, stieß er auf die Reste einer Stadt, die Ähnlichkeit mit Angkor hatte.

Die Bevölkerung der benachbarten Dörfer hatte eine hellbraune Hautfarbe und Gesichtszüge, die durchaus verschieden von denen der Shans waren. Auch ihre Religion war verschieden; es war eine merkwürdige Mischung von altem Brahmanismus und Teufelskult.

Vor drei Jahren, als ich von jenen Ruinen gehört hatte, habe ich sie auch aufgesucht. Was ich dabei, einer Laune wegen, durch Fieber und Krankheit zu erdulden hatte, ist kaum zu schildern.

Mein Kopf war ausgebrannt vom Delirium, als ich schließlich die Ruinen erreichte. Aber ich zwang mich. Und was ich zu sehen bekam, wog all die Leiden der Reise auf. Natürlich waren die Ruinen nicht so weitläufig wie die von Angkor, aber es waren dieselben architektonischen Schönheiten dort. Und was für ein Verfall, nicht zu beschreiben. Die Ruinen waren vom Dschungel verschlungen, einem grausamen, bestialischen Dschungel. Das größte Bauwerk, ein Tempel, war besser erhalten als die übrigen. Die Flachreliefs waren fast unversehrt. Eine lange Fläche ist mir unvergeßlich; auf ihr waren heilige Tänzerinnen dargestellt. Die letzte Figur war gerade unter einem Dachspalt, und im Sonnenlicht schien sie in einem Lichtkreis zu tanzen. Sie ... aber ich habe Ihnen ja schon in Saigon davon erzählt. Die Gesichtszüge waren arabisch, nicht mongolisch. Sie – wie soll ich sie beschreiben? Das Geheimnis der Beate Beatrix, die Fleckenlosigkeit der syrischen Astarte; die Schönheit der Alabasterfrau in Dantes Traum, und verbunden damit ein unergründlicher, ganz orientalischer Charme. Jeden Tag während meiner Genesung ließ ich mich von den Kulis in den Tempel tragen, um sie anzuschauen. Das klingt, als ob ich von Sinnen wäre, nicht wahr? Sie würden nicht so denken, wenn ich Ihnen die seltsame Schönheit der Figur vor Augen führen könnte. Wenn ich sie anschaute, empfand ich – wie soll ich sagen – wie wenn,« er zögerte und lachte leise, »ja, wie wenn ich sie in einem früheren Leben geliebt hätte und sie in Stein erhalten geblieben wäre, um meiner zu spotten, wenn ich auf die Erde zurückkehrte. Vielleicht hatte das Fieber eine geistige Störung zurückgelassen. Alles für einen Traum zu halten, hätte ich nicht einen greifbaren Beweis. Mein Führer hörte von den Eingeborenen eine Legende über die Figur. Sie stellte dar, nein sie war Pi-noi, eine antike Bajadere, eine Gefährtin des Gottes Indra. Sie war das Symbol körperlicher Vollendung, und wenn eine Frau ein Kind erwartete, war es Sitte, für sie täglich zu dem Bild von Pi-noi zu beten, das Kind möge, falls es ein Mädchen werde, die Züge von Indras Gefährtin bekommen. Ein ziemlich ironisches Anhängsel zu der Geschichte ist die Tatsache – wenigstens behauptet man, es sei die Tatsache – daß das einzige Kind, welches je Ähnlichkeit mit der himmlischen Kurtisane gehabt habe, das Kind einer eingeborenen Frau und eines weißen Abenteurers war! ... Ich photographierte die steinerne Pi-noi und ließ sie in Bangkok auf dieser Zigarettendose in Gold ausarbeiten – als ein Andenken an meine Verrücktheit.«

Als er eine Pause machte, betrachtete ihn Lhassa mit einem Gefühl von Niedergeschlagenheit.

»In der Zusammensetzung des Mannes,« fuhr er unvermittelt fort, »gibt es einen besonderen Stoff, den die Frau nicht verstehen kann. Ein Mann kann zwei Arten von Liebe haben, eine gute und eine schlechte, ohne mit Bewußtsein untreu zu sein. Die eine ist ein seltsames geistiges Mysterium, die andere, nun ja, ein Mittel, sein körperliches System gesund zu erhalten. Es ist sonderbar, nicht wahr, daß man nach dem Monde langt und, wenn es mißlingt, sich mit etwas Ähnlichem, das glänzt, zufrieden gibt? ... Nach meiner Rückkehr zur Zivilisation sah ich in einer Nacht in Saigon ein Gesicht – wie dunkles Gold und schön, aber schön wie das Schlechte. Pi-noi, die Bajadere, war ein Weib aus Stein, ein unnahbares Ideal. So ...« sie sah ihn wieder die Achseln zucken, »so gab ich mich, da der Mond unerreichbar war, mit einer Nachahmung zufrieden ... Und nun kommen Sie mit dem Geist von Pi-noi in sich, mit dem gleichen bestrickenden Zauber – und ebenso unerreichbar. Sie als Frau, können die Episode mit dem goldenen Gesicht nie verstehen. Sie haben es gut ausgedrückt, als Sie sagten, eine Frau könne Diebstahl oder Mord, aber nicht Versündigung an ihrem Stolz verzeihen. Und eine andere Frau, eine von dem Typ mit dem goldenen Gesicht, ist eine Sünde gegen den Stolz einer Frau, die sich über bloße Leidenschaft erhaben fühlt.«

Aus irgendeiner Ursache nahm Lhassa an seiner Rede keinen Anstoß. Ihre einzige Gemütsbewegung war Staunen; es war phantastisch, unfaßbar, daß ein offenbar gewissenloser Mann eines solchen Idealismus und einer so tiefen Schwärmerei für Schönheit, wie seine Geschichte enthüllt hatte, fähig war. Sie war überzeugt, daß ein dunkler Fleck in seiner Seele war, ein Makel, ebenso bemerkenswert wie die Narben an seinen Gelenken; er war nach dem Modell eines Gottes geformt worden – aber ein Schlag hatte dem Bild einen Riß gegeben. Sein Schweigen und seine erwartungsvolle Haltung reizten sie zum Sprechen; aber was konnte sie dazu sagen. Die Situation nahm einen scharfgespannten Charakter an, so daß sie sich anschickte, sich zu erheben. Aber bei ihrer ersten Bewegung fing er wieder zu sprechen an.

»Es ist eine Plattheit, zu behaupten, die Beichte sei gut, um sein Herz zu erleichtern. Aber das ist nicht mein Fall – ich zweifle, ob ich eine Seele habe. Nein, ich hatte eine andere Absicht, die Sie erst verstehen können, wenn ich – nun, wenn ich in einer Wolke dahingegangen bin.« Er hob seine Arme, starrte auf die Gelenke. »Fesseln«, sagte er mit bitterem Lachen. »Pi-noi, die Frau aus Stein, die Unnahbare, Unerreichbare. Und doch – doch ... besitze ich sie in alle Ewigkeit.«

Er ging. Lhassa sah ihm nach. Was meinte er damit? »Ich besitze sie in alle Ewigkeit.« Fieberkälte schüttelte sie. Sie übersetzte das »sie Pi-noi« in »Sie – Lhassa«. Die Geschichte von der Bajadere hatte ihr aber auch offenbart, daß sie, obwohl Conquests Gefangene, eine größere Macht über ihn hatte. Es war eine Waffe, die sie erschreckte. Von nun ab – sagte ihr ihr Takt – mußte sie ihm möglichst aus dem Wege gehen.


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