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Drittes Kapitel
Der blaue Slendong

Sechs Tage später, bei Morgendämmerung, fuhr ein Schiff der Straits-Dampfergesellschaft durch die Barre an der Mündung des Menam.

Lhassa Camber war absichtlich früh aufgestanden, um den Tempel von Paknam zu besichtigen. Sie stand an der Reling und schaute stromaufwärts. Für sie war es eine uralte, ehrwürdige Szenerie: der blasse Mond, der spitztürmige Tempel und die braunen Männer im Kanu. Es erfüllte ihre Phantasie mit Visionen des toten Ruhmes von Ayuthia und Angkor, von Göttern, die dort unter Weihrauch, Seide und Sandelholz gethront hatten, und die gefallen waren, die Ruinen ihres Reiches zurücklassend, auf daß sie in einer Gruft aus lebendem Dschungel begraben würden. Sie hatte die Geschichten und Legenden der alten Königreiche des goldenen Chersones gelesen.

Nun, da sie nahe den wirklichen Stätten dieser Geschichten war, fühlte sie bedrückte Aufregung und Furcht, Furcht vor Enttäuschung.

Bald gesellte sich Hauptmann Barthélemy zu ihr, der auf der Reise von Singapore her ihr ständiger Gefährte gewesen war. Aber sie war sich seiner Gegenwart und Unterhaltung nur nebelhaft bewußt. Erst als Bangkok in Sicht kam, konnte sie sich aus ihrer abwesenden Stimmung herausreißen.

Der Menam weitete sich hier, wie um den mannigfachen Fahrzeugen, die auf seiner gelben Fläche schaukelten, Raum zu geben, den Sampans, Dschunken und Leichtern, den Kanus mit Blumendächern, den Flußdampfern und einigen Frachtschiffen aus anderen Häfen. Rasch strömte die Flut unter schwimmenden Häusern und Werften hindurch, vorbei an Warenlagern und Mühlen, und entlang an einer Menge von buntfarbigen Ziegeldächern und goldenen Obelisken. Wacklige Holzhütten, auf Pfählen gebaut, bedeckten die zahlreichen Klongs (mit dickflüssigem, stagnierenden Wasser gefüllte Kanäle), die einen wesentlichen Bestandteil dieses orientalischen Milieus bilden ... Das war Bangkok; es erschien Lhassa Camber auf den ersten Blick als ein glänzendes, vielfarbiges Gemälde.

»Wenn ich all dies anschaue,« sagte sie zu ihrem Begleiter mit einer Handbewegung, »so fühle ich etwas von Wiedererkennen, eine Art Suggestion von Vertrautheit.« Und lächelnd fügte sie hinzu: »Seien Sie nicht banal und sagen Sie nicht ›Reinkarnation!‹«

Er gab ihr Lächeln zurück: »Es ist leicht zu erklären; diese Art gleicht hunderten anderer asiatischer Häfen, der gleiche schmutzige Fluß, dieselben Palmen und das gleiche Blattgold, um seine Laster zu verhüllen.«

Das Hotel lag am Fluß; der Offizier blieb bei ihr, bis Manuel, ein kleiner Filipino mit unbeweglichem Gesicht, mit dem Gepäck anlangte.

»Selbstverständlich werde ich Sie doch wiedersehen?« sagte Barthélemy, sich verabschiedend. »Morgen? Ich möchte Ihnen gerne die Stadt und die Pagoden zeigen. Darf ich Sie morgen früh abholen?«

»Wollen wir nicht lieber sagen, ich benachrichtige Sie, nachdem ich Dr. Garth gesehen?«

»Ich werde Sie um 10 Uhr aufsuchen, falls ich nicht vorher von Ihnen höre. Ich wohne bei meinem Freund, Monsieur Achille Bergaigne, in der Klong Pong-Straße. Auf Wiedersehen, meine Gnädige.« –

Nach dem Lunch in einer durch elektrische Fächer gekühlten Halle, bei dem mongolische Boys bedienten, erkundigte sich Lhassa nach Dr. Garth.

Oh, Dr. Garth! tat der Hotelier eifrig. Madame sei wohl eine Freundin des Doktors? Er sei seit langem hier ansässig, Dr. Garth, und ein angesehener Mann. Ob sie seine Buddha-Sammlung schon gesehen? Ah, sie sei zum erstenmal in Bangkok. Eine wundervolle Sammlung. Der Doktor habe ein Landhaus, ein ganz eigenartiges Anwesen, am Rande der Stadt.

Sie schickte sofort Manuel mit einer Karte fort und zog sich in Erwartung der Antwort auf ihr Zimmer zurück.

Die Antwort kam in auffallend kurzer Zeit; eine mit Maschine geschriebene Mitteilung. Er sei entzückt, daß die Enkelin eines seiner liebsten Freunde in Bangkok sei und bedaure nur, daß er nichts von ihrem Kommen gewußt habe. Sie müsse während ihres hiesigen Aufenthaltes sein Gast sein; er werde seine Boys schicken, um ihr Gepäck abzuholen. Und sie möchte seine scheinbare Unhöflichkeit, daß er sie nicht persönlich aufsuche, entschuldigen; er sei seit einiger Zeit nicht recht wohlauf und habe selten sein Grundstück verlassen. Aber sein Wagen werde um halb sechs Uhr am Hotel sein. Die Unterschrift war ein fast unleserliches Gekritzel, das sich bis an die untere Ecke der Briefkarte hinabzog.

Sie dachte bei sich, es sei sonderbar, daß er mit der Maschine geschrieben habe; überlegte weiter, ob eine höflich dankende Ablehnung der Einladung nicht das richtige sei, obwohl sie von Anfang an wußte, daß sie schließlich annehmen würde. Also sie würde um halb sechs Uhr, nein um sechs Uhr bereit sein.

*

Dämmerung brach herein, als sie die Viktoria des Dr. Garth bestieg, die von einem Diener mit Turban gelenkt wurde. Sie fuhren durch die Stadt, durch eine gelbe und braune Menschenmenge, die bis zu den Knöcheln im Staub ging. Die Läden, Fahrzeuge und seltsamen Gestalten, die leuchtenden blauen und purpurroten Töne, dunkelbraune Schatten, kontrastierend mit orangefarbenen hellen Lichtern, all dies befriedigte ihren leidenschaftlichen Hunger nach Farbe, formte sich in ihrem Innern zu einem lebhaften Brokatmuster und verschmolz in wollüstig aufregende Phantasien. Aber sie hatte ihre Gefühle doch so in der Gewalt, daß sie stets gleichgültig und unbewegt erschien. Wer jetzt einen Blick auf sie warf, die so tadellos von den Schuhen aus schwedischem Leder an bis zum Florentinerhut dasaß, sah nur einen halb gleichgültigen, halb duldsamen Ausdruck, eine Frau, die ebenso kalt wie blaß und schön war. Dr. Garth's Landhaus lag nahe an einem mit Lotos und Wasserhyazinthen bedeckten Kanal. Es war ein geräumiges Gebäude, fast verborgen unter Bananen, Tamarinden und Betelpalmen.

Wie ein Geist tauchte eine Gestalt auf der Veranda auf. Es war ein Hausboy, der ihr die Handtasche abnahm und ihr in die Halle vorausging. »Der Herr Doktor ist in seinem Studierzimmer«, meldete er in sanftem Tone; er war jung, sie schätzte kaum 20 Jahre, hatte eine gelblich-elfenbeinfarbene Haut und etwas schief liegende Augen. Ein Eurasier, stellte sie fest.

»Wünschen Sie zuerst in Ihr Zimmer zu gehen, Miß Camber?«

Jede seiner Bewegungen war so geräuschlos, seine ganze Art so geheimnisvoll, daß sie ihn vor ihren Augen zu verschwinden erwartete, gleich einem Schatten.

»Ich ... nein, ich denke, ich will zuerst den Herrn Doktor sprechen.« Sie folgte dem Boy in einen großen, halbdunklen Raum, dessen Möbel mit weißem Leinenstoff überzogen waren. An einer Wand hing ein Ölgemälde, das Porträt einer Frau, die ernst versonnen, ja traurig aus ihrem Rahmen auf die verhüllten Stühle herabblickte, als ob jeder der Geist eines Traumes sei. Der Eurasier trat zur Seite, um sie durch eine Portiere aus Schilfrohr zu lassen.

Eine hohe hagere Gestalt stand im anschließenden Raum; ein langer, erstaunlich weißer Vollbart dehnte sich wie ein Küraß von dem Gesicht herunter, das braun wie indisches Eichenholz und voller Falten war. In tiefen Höhlen lagen blaue Augen, von einem glanzlosen, verblichenen Blau, die auf Lhassa den Eindruck machten, als ob sie weit über sie hinweg schauten, in grenzenlose Weite. Sie empfand ein eigentümliches Verlangen, zu erfahren, was diese blauen Augen sahen.

»Es tut mir leid, daß ich nicht imstande war, Sie abzuholen.« Seine Stimme dröhnte aus seinem breiten Brustkorb. »Aber wie ich schon in meiner Karte sagte, ich verlasse sehr selten mein Haus – Lhassa, ich darf Sie doch so nennen, denn ich bin ja soviel älter, älter sogar, als Ihr Großvater jetzt wäre.«

»Natürlich dürfen Sie mich so nennen«, versicherte sie.

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, die seine griff darüber hinweg. Mit einem Male verstand sie die glanzlosen Augen, und rasch faßte sie nach seiner Hand. Sein Griff war durchaus nicht schwach; Kraft schien noch in seinem Körper zu glühen und in heißen, elektrischen Fluten den Raum zu durchfluten. Und was für ein Raum! Jetzt erst nahmen ihre Augen seine seltsamen Einzelheiten auf.

An den Wänden befanden sich Reihen von Glasschränken mit einer Menge von Schiffsmodellen, Segelschiffe aller Art, bis ins kleinste durchgearbeitet und vollständig aufgetakelt. Ferner moderne und alte Kriegsschiffe, endlich fremdartige Boote, Dschunken, Kanus usw. Der Raum, dessen Teile außerhalb des Lichtkegels der Lampen im tiefen Schatten lagen, wirkte auf Lhassa wie eine unterseeische Höhle, der Mann wie ein Meeresgott, der seine Spielzeugflotten zum Sonnenlicht emporsandte.

»Sie betrachten meine Schiffe?« sprach der Doktor, ihre Gedanken fühlend. »Ein Steckenpferd von mir; ich war viel auf See, auch Besitzer einer Frachtdampfer-Reederei. Nun habe ich nur mehr meine kleinen Schiffe – und Domingo, der mir ›Opfer des Meeres‹ und andere Geschichten vorliest, die nach Salzwasser schmecken.« Er lachte leise, sanft für einen Mann mit einem solchen Stimmumfang.

»Künstliche Anregungen, was? ach ja, meine Schiffe und Bücher sind besser für die Gesundheit als Whisky und Soda, der Mensch muß irgendeine Art von Zerstreuung haben ... Domingo«, wieder las er ihre Gedanken, »ist einer meiner Schätze. Er ist der Boy, der Sie hereinführte; ich habe ihn in Macao aufgelesen, als er noch ein kleiner Kerl war. Sein Vater war ein Portugiese, seine Mutter Chinesin oder Malayin, jedenfalls hat er seine liebenswürdige Natur von ihr geerbt. Er liest mir vor, pflegt den Garten und besorgt fast alles. Sie müssen auch den Garten ansehen, er ist ein anderes meiner Steckenpferde.«

Er ging mit sicheren Schritten nach einer Seite des Zimmers und öffnete die Tür; sie folgte ihm und schaute in einen Garten, der von starken Düften aus tausenderlei Blumen und Büschen erfüllt war. Ein kleiner Teich leuchtete darin wie ein dunkler Spiegel.

»Ich habe ihn angelegt für meine Frau, damit sie hier träumen könnte, während ich fort war auf der Jagd nach Seltsamkeiten«, erzählte der Doktor. »Oh, ich habe noch ein Dutzend oder mehr anderer Steckenpferde, Bronzen, Juwelen, Antiquitäten und Buddhas, ja, Buddhas von Indien, Ceylon, Burma, Cambodia und Annam, Buddhas aus Silber und aus Elfenbein geschnitzt, und solche aus Jade und anderen Halbedelsteinen. Morgen werde ich Ihnen meine Sammlung zeigen. Aber sie wird Ihnen unbedeutend erscheinen, wenn Sie erst den Smaragd-Buddha gesehen haben werden, und Sie werden, müssen ihn sehen; er steht in dem Pra-Keo-Tempel. Es ist kein echter Smaragd natürlich, aber sehr klarer, durchsichtiger Fei-tsui-Jade, ein schönes, auserlesenes Kunstwerk. Er glüht wie grünes Feuer. Manchmal, wenn ich seine runden Konturen und den kühlen Jade befühle, schmerzen mich meine Finger.«

Seine Rede war eine Enthüllung für sie. Raritäten! Seltsamkeiten! Instinktiv wußte sie, daß die zarte Frau auf dem Bilde seine Frau war. Vielleicht hatte sie Grund für ihren versonnenen Ernst gehabt. Lhassa fühlte, daß nicht nur eine Blindheit der Augen zwischen dem Doktor und seiner Frau einen Wall aufgerichtet haben mußte. Sie hatte Männer mit Steckenpferden gekannt ... plötzlich bekam die Stille des Gartens etwas Schmerzliches für sie. Seine Schönheit war der Ausdruck tiefer Hoffnungslosigkeit. Sie fühlte inniges Mitleid mit diesem alten Mann, der so allein war mit seinen Erinnerungen und Spielzeugflotten.

»Er ist so still, Ihr Garten,« sagte sie, »und doch fühle ich darin die Geister alter, aufregender Dinge, sonderbar, nicht wahr? Er ist wie der Osten selbst, er greift nach mir, zieht mich ... ich fürchte ihn halb, den Osten, aber sein Zauber ist zu mächtig, um ihm zu widerstehen.«

»Blut,« murmelte Dr. Garth, »es liegt im Blut. Ihr Großvater wußte viel von Siam, und vorher schon sein Vater. Sie waren Abenteurer.« Sie hörte seine Worte, ohne zuerst ihren Sinn zu erfassen, aber als sie gleich danach sich ihrer Bedeutung bewußt wurde, befiel sie eine starke Erregung. Es war die Empfindung einer Entdeckung, halb ein Schock, halb eine zweifelnde Unsicherheit. Sie hörte sich selbst in einem Ton, der farblos wie Eis klang, sprechen: »Mein Großvater – ja – er war –«, dumme, leere Worte, aber sie konnte keine anderen finden.

»Einmal machten wir einen Ausflug in den Dschungel zusammen«, sagte er sinnend. »Auf Elefanten von Chieng-Mai, oder waren sie von ... ich hab' es vergessen, ist ja gleich. Auf diesem Ausflug fand er einen Hungersnot-Buddha für mich, aber ich darf Sie nicht mit diesen dummen Erinnerungen aufhalten, da Sie wohl auf Ihr Zimmer zu gehen wünschen. Wir speisen um sieben Uhr.«

Er klingelte nach dem Diener. »Domingo,« erklärte Dr. Garth, »dies ist Miß Camber, führe sie, bitte, auf ihr Zimmer.«

Lhassa legte ihre Hand auf des Doktors Arm. »Es ist lieb von Ihnen, mich hier aufzunehmen, und ich höre Sie so gerne von Ihren Sammlungen und Abenteuern mit Großvater reden. Sie müssen mir später noch mehr erzählen.« Als sie dem gespensterhaften Domingo auf ihr Zimmer folgte, wiederholte sie in Gedanken, was Dr. Garth gesagt hatte. Ihr Großvater ... und er hatte ihr nichts erzählt, warum? Vielleicht war sie nahe daran, den fehlenden Teil des Rätsels seiner Absonderlichkeit zu lösen.

*

Am Morgen strahlte die Sonne blutorangenfarben über der Stadt, dem Menamstrom und seinen schäumenden Nebenflüssen und über Dr. Garths Musterboy Domingo, als er die Villa am Rande der Stadt verließ.

Domingo als Eurasier verachtete die Trambahn, weil sie fast ausschließlich von den Eingeborenen frequentiert wurde, und da die Art seines Auftrags die Benutzung eines Wagens des Doktors nicht zuließ, ging er zu Fuß.

In der Si-Lom-Straße angelangt, nahm er sich eine Rickshaw. Dieses Gefährt verschaffte ihm jedesmal einen außerordentlichen Genuß. Er liebte es, sich genießerisch in den Sitz niederzulassen und mit halbgeschlossenen Augen das Muskelspiel am Rücken des nackten, schweißtriefenden Kulis zu beobachten und sich dabei vorzustellen, daß unzählige Energieatome für ihn verbraucht würden.

Sein Auftrag – der Gedanke daran durchschauerte ihn kalt – führte ihn in eine Straße mit chinesischen Schriftzeichen und großen Laternen. Er trat in ein Pfandleih-Haus ein. Ein Chinese döste am Ladentisch und grüßte brummend. Domingo erwiderte von oben herab den Gruß und ging in einen darunterliegenden Raum; hier war ein Weib mit einem von Betelkauen scharlachroten Mund, die grinste und ihn mit einer Kopfbewegung zu einer auf den Hof hinausführenden Türe wies.

Auf dem kleinen Hofplatz saß unter einer schattenspendenden Mauer ein Wesen, das wie eine polierte Statue aussah, in Wirklichkeit aber ein fast nackter Mann mit einem glattrasierten Kopf war. Schmale Augen wandten sich von einem Buch aus Palmenblättern (einem heiligen Buch in Pali-Schrift) zu dem Eurasier; dieser erwiderte den Blick mit sichtbarem Widerwillen und dankte Gott und der Muttergottes heiß, daß wenigstens ein Teil seines Blutes weiß war. Des Mannes haarlose, fettige Haut und sein nackter Schädel waren ihm widerlich.

Das Geschöpf auf dem Boden neigte seinen Kopf leicht nach vorn. »Möge die Quelle des Lichts deine Gedanken erleuchten!« murmelte er.

»Behalte deinen Segen für dich«, erwiderte der Bastard scharf. Ein Lächeln flackerte in den Augen des Haarlosen auf. Als er wieder zu sprechen anfing, gebrauchte er eine andere gewöhnliche Redeweise.

»Du kommst, um das Geschäft abzuschließen?«

»Ich bin gekommen, um die Hälfte des abgemachten Preises zu bezahlen«, antwortete Domingo, unbehaglich umherblickend.

»Und die andere Hälfte?«

»Danach, wenn ..., du weißt, wann.«

»Tam-chai«, nickte der Kahlkopf. Domingo zog aus seiner Tasche einen Beutel, dessen Inhalt klimperte, und ließ ihn in den Schoß des Mannes fallen. Er hatte es eilig fortzukommen, denn das nackte, ölige Fleisch verursachte ihm leichte Übelkeit.

»Ich werde heute nacht wiederkommen«, sagte er und ging zur Tür.

Der Kahlkopf nickte: »Tgion,« sagte er, »wenn du stirbst, möge deine Seele reif sein, um ins Nirwana einzugehen!«

Domingo lächelte verächtlich und eilte weg. Der Hofbewohner leerte den Geldbeutel und zählte rasch das Geld. Dann trat er ins Haus, holte sich aus einer Ecke einen safranfarbenen Rock, das heilige Kleid des Bonzen und Priesters.

Gegen Mittag langte er an der Pagode Pra-Keo an, der sein Besuch galt. Außen im Hof reinigte er seine Hände und seinen Mund und trat dann in das kahle Innere des Tempels, der mit Ausnahme von drei Mönchen in der Nähe des Altares leer war. Der Bonze kniete nieder, gegenüber einem Glanz, so märchenhaft wie Ophirs Hort. Der Altar in Pyramidenform war von der Basis bis zur Spitze mit Götterbildern, juwelenbesetzten Büchsen, Kelchen und lackierten Rollen bedeckt. Am oberen Ende in einem gewölbten Schrein, flankiert von zwei behelmten Gottheiten, saß ein kleines Götterbild: der Smaragd-Buddha! Der Bonze heftete seine Augen auf das grüne Idol, faltete seine Hände und betete laut. Wie der Buddha die Sonne in sich sog, und wie er glühte, grün wie ein sumpfiger Teich, dachte er. Die Diamanten um den Hals der Figur funkelten wie die Augen einer Kobra.

Nach Beendigung seines Gebets ließ er sich nahe beim Altar nieder und verblieb dort, anscheinend in frommer Betrachtung versunken, für den Rest des Tages. Aber nur wenig entging seiner Aufmerksamkeit. Er beobachtete unter halbgesenkten Lidern die vielen, die kamen und gingen, die Tempeldiener, die Andächtigen und die neugierigen Fremden, unter diesen einen Offizier in glänzender Uniform mit einer Dame. Als es dunkelte, war er allein bis auf einen anderen Mönch ...

Als er sich endlich entfernte, war die Nacht hereingebrochen, im Hofe begegnete er einem Mönch. »Tgion«, murmelte er und eilte zum Tore hinaus, unter dem Rock einen Gegenstand fest an sich drückend.

Neumond ging über Bangkoks dschungelartiger Wirrnis von Spitztürmen und Dächern auf, und über der Straße, wo Domingo unter scharlachroten Chinesenlaternen dahinschlich, über der Villa, wo Dr. Garth in seinem Studierzimmer auf und ab schritt, und über dem Klubhaus, wo Lhassa Camber dinierte. Sie hatte am Nachmittag mit Barthélemy und seinen Freunden, Monsieur und Madame Bergaigne mehrere Pagoden und den Königspalast besucht; sie trank all die Herrlichkeit in tiefen Zügen; aber obwohl der Trunk sie mit einem gewissen Frohsinn erfüllte, hatte er doch einen herben Nachgeschmack. Sie konnte aus ihrem Geist das Bild des alten Doktors und seiner Traumflotten nicht bannen.

Er hatte eine verborgene, und wie sie fühlte, tragische Bedeutung für sie. Sie suchte es sich damit zu erklären, daß er zu der dunklen Vergangenheit gehöre, in der ihr Großvater so geheimnisvolle Wege gewandelt war.

Am vorigen Abend hatte sie Bruchstücke, nur Bruchstücke aus Dr. Garth herausbekommen. Zusammen gaben sie nur ein unvollendetes Bild: Asien, das Geheimnis von Tempelruinen und Dschungeln, und auf diesem Hintergrund, seltsam in Nebel gehüllt, ihr Großvater ... Dieser neue Denkkreis nahm sie so völlig in Anspruch, daß sie den Besuch Barthélemys fast unangenehm empfunden hatte; den ganzen Tag über hatte sie einen nachdenklichen, abwesenden Ausdruck im Gesicht. Nach dem Essen, als sie einen Sampan nahmen, um die Kanäle zu sehen, gab der Offizier ihr zu verstehen, daß er ihre Zerstreutheit bemerkt habe.

»Abwesend, immer geistesabwesend,« sagte er halb im Ernst, »manchmal glaube ich, Sie sind ein Symbol und keine Frau.«

Sie lächelte, ihr Gesicht, dicht neben seinem, war bleich wie ein Blumenblatt aus Silber im Dunklen.

Monsieur Bergaigne und seine Frau saßen auf dem Vordersitz.

»Ein Symbol?« gab sie zurück, »wovon?«

»Von der Kunst vielleicht, denn Sie haben die Macht, zu begeistern, ohne selbst in Erregung zu geraten. Und doch – sind Sie zu kalt, um Kunst zu sein.«

»Symbol«, wiederholte sie, in ihren Gedanken beherrscht von einem Bild, das in ihr haften geblieben war seit dem Besuch der königlichen Pagode. »Grünes Feuer, nannte es Dr. Garth ...«

»Der Smaragd-Buddha?«

»Ja. Was stellt er dar? Offenbar die Allwissenheit des Ostens, aber das war es nicht, was für mich in ihm enthalten war; nein, etwas anderes, etwas Trügerisches. Er bedeutet mir Romantik, ja gerade dies. Romantik und der Smaragd-Buddha, beide gingen aus dem Nebelschleier hervor. Blendwerk. Schon die Ungewißheit seiner Herkunft ist romantisch. Eine Laos-Legende sagt, er sei aus dem Erdboden hervorgegangen, während einer von Buddhas Heimsuchungen. Es gibt noch andere Erzählungen, alle gleich phantastisch. Grünes Feuer; es betört mich. Ich wundere mich, daß niemand es raubt.«

Barthélemy rauchte, und das Aufglimmen der Zigarette zeigte ihr ein Lächeln.

»Vielleicht wird es jemand tun – der ›Schwarze Papagei‹ zum Beispiel.«

»Schwarzer Papagei?«

Er lachte. »Ja, der Schurke, der Sammlungen von Juwelen und alten Kunstschätzen beraubt.«

»Ich habe nie etwas von ihm gehört.«

»Wirklich nicht? Aber ich vergaß, daß Sie erst vor kurzem hergekommen sind. Weil wir von Romantik sprechen. Er ist die Quintessenz von Romantik. Es ist eine Geschichte über ihn im Umlauf, wonach er ein berüchtigter Dieb sein soll, der solche Kostbarkeiten stiehlt und sie an skrupellose Sammler verkauft. Man sagt, er sei aus Guyana entsprungen und ...«

Sie unterbrach ihn: »Aber warum heißt er der ›Schwarze Papagei‹?«

»Achille,« rief Barthélemy, »Miß Camber möchte gerne wissen, wie der ›Schwarze Papagei‹ zu seinem Namen kam. Erzähle es ihr bitte, du kannst es besser als ich.«

Monsieur Bergaigne wandte sich um.

»Remy hat künstlerische Veranlagung. Er schmückt gern etwas aus, meine Gnädigste«, erklärte er scherzend. »Er hat recht, für Tatsachen bin ich zuverlässiger. Also: ein Mörder wurde nach Guyana verschickt. Er war ein Halb – wie sagt man in Ihrem Lande? Nigger, ja? Schön, er war ein Bastard mit einer Schnabelnase und ...«

Er gab die Geschichte vom »Perroquet noir« wieder.

»Übrigens,« schloß er mit einer gallischen Geste, »die Sache ist nicht so geheimnisvoll. Der Straßenräuber, der entsprungen ist, dieser Letourneau, hat eine Bande gebildet, er und seine Spießgesellen ziehen von Platz zu Platz und arbeiten sehr planmäßig. Für einen Höhergestellten vielleicht. Ich bin im Zweifel. Wenn nun ein recht geschickter Raub vorkommt, sagt die Polizei: ›Le Perroquet noir!‹ Allerdings, die Geheimpolizei oder die Kolonialregierung – ich spreche jetzt von Indo-China – zahlt keine so hohen Gehälter, um intelligente Männer in ihren Dienst zu locken. Was kann man also erwarten? Unter der jetzigen Verwaltung war einmal einer –«

»Sei vorsichtig, Achille«, warf seine Frau dazwischen.

»Vorsichtig? Was kann ich denn viel sagen? Nichts weiter, als daß unter der jetzigen Verwaltung im Geheimdienst ein fähiger Offizier da war, dessen Gehalt so niedrig war, daß er gezwungen war, zu stehlen, um seine gesellschaftliche Stellung aufrechtzuerhalten. Unter solchen Verhältnissen ist es nicht absonderlich, daß der ›Schwarze Papagei‹ und seine Schar der Deportierten unbelästigt an der Küste hin und her fliegen ...«

Seine Stimme verlosch in dem Lärm und Wirrwarr von Bangkoks Menschenflut.

»Das ist das echte Siam«, bemerkte Barthélemy, mit seiner Stimme den Lärm übertönend. »Nicht das Siam der Reisebücher. Diese Helme mit der merkwürdigen Form, die Sie hier drinnen sehen – er wies auf eines der Theater, – sind nach dem Muster der Kopfbedeckungen der Tevadas und Apsaras, den heiligen Tänzerinnen der Khmers gemacht, wie man sie noch an den Tempeln von Angkor-Thom gemeißelt sehen kann.«

»Angkor?« sagte Lhassa nachsinnend. »Im Geiste habe ich ein Bild davon, große Straßendämme und Türme, geisterhaft blau im Mondlicht. Ich möchte es sehen, aber nur bei Nacht ...«

»Das ist nicht unmöglich«, fiel Barthélemy ein. »Ich könnte ja ..., ja, ich könnte an Major Brouchart, den Residenten von Siem-Reap, schreiben, um zu erfahren, wann seine Frau in Saigon weilt. Sie bringt die Hälfte ihrer Zeit dort zu – und man könnte es so einrichten, daß Sie mit ihr zusammen nach Siem-Reap fahren.«

»Es klingt verlockend ... wer weiß, ob ich Ihr Angebot nicht annehme. Wie lange dauert die Reise nach Saigon?«

»Nach Saigon? Mein Dampfer geht morgen früh ab und kommt am Freitag in Saigon an. Saigon ist ein Klein-Paris, es würde Ihnen gefallen ...«

Vor ihnen hatte ein kleines Boot an einem Landungssteg angelegt; Lhassa bemerkte einen Mann in Weiß, der herauskletterte. Er sah merkwürdig grotesk aus, wie ein Buckliger. Sie bekam ihn, sein bärtiges Gesicht und den Schal um seine Taille nur flüchtig zu Gesicht, da er gleich in der Dunkelheit verschwand.

»Schauen Sie!« rief sie aus, fügte aber gleich hinzu: »Es ist zu spät, schon ist er weg. Erinnern Sie sich an den Mann, den wir im Hotel in Singapore sahen, der einen – ist Slendong das richtige Wort? – anhatte? Ich sah ihn eben hier an diesem Dock. Er sah aber verwachsen aus, und ich entsinne mich nicht, dies in Singapore bemerkt zu haben. Wirklich, ich bin sicher, daß er –«

»Es war wohl eine Täuschung«, meinte Barthélemy.

»Vielleicht«, erwiderte sie, aber nicht überzeugt.

»Der in Singapore hat mein Aufsehen erregt,« überlegte er laut, »er hatte eine sonderbare Ähnlichkeit mit einem Mann, der in die Strafkolonie verschickt worden ist. Achille, du kennst doch Lestron?«

»Nein, aber ich war in Hanoi, als er verurteilt wurde. Mon Dieu, er war ein tüchtiger Kerl!«

»Seltsame Hände hatte er, dieser Lestron, ganz lang und schmal ...«, sagte Barthélemy zu Lhassa. »Ich sprach schon davon, erinnern Sie sich?«

Sie erinnerte sich daran, auch daran, daß der Mann, der aus dem Kaffee in Singapore ging, gerade gewachsen war. Und der, den sie jetzt am Dock einen Augenblick gesehen hatte, war ein Buckliger. Alles sonst war gleich. Auch der Bart und der Slendong. Sie konnte es nicht glauben, daß es solche Doppelgänger gäbe, die einander so glichen, selbst in der Art sich zu kleiden. Einen Augenblick lang war sie von der Illusion beherrscht, die Gestalt am Landungssteg sei nicht wirklich, sondern nur das Bild aus einem brüchigen Spiegel.

*

Es war spät, als Lhassa zu Dr. Garths Landhaus zurückkehrte. Barthélemy stand auf der Treppe neben ihr und plauderte in seiner leicht ironischen Art. In der dunklen Beleuchtung hatten seine Züge einen lebensvollen Ausdruck, den sie bisher noch nicht bemerkt hatte; er war – ja, recht hübsch. Die Nacht hauchte einen schweren Duft aus. Sie erlaubte ihm ihre Hand länger, als es nötig war, festzuhalten. Er sagte ihr, er hoffe sie bald in Saigon erwarten zu dürfen, er würde an seinen Freund in Siem-Reap schreiben ... Plötzlich fühlte sie, daß er seine Lippen auf die ihren gedrückt hatte, beinahe brutal, daß ein scharfer Schmerz ihr durch die Brust fuhr; sie war sich aber auch bewußt, daß sie den Kuß weder erwidert noch sich ihm entzogen hatte. Eine eisige Ruhe kam über sie. Sie begegnete seinem fragenden Blick mit Schweigen.

»Königin der Polarnacht«, sagte er spöttisch. »So werde ich Sie im Gedächtnis behalten:

Vernichtung hinter ihr, die ohn' Erinnern,
Zu schön zur Liebe, still entschreitet,
Des Blickes Schutz ob ihre Gletscherbrust gebreitet.«

Dann war er gegangen. Sie blieb regungslos stehen und blickte ihm starr nach.

Ihr Herz hämmerte ... gegen Eis, dachte sie. Hatte er sie geküßt oder bildete sie es sich nur ein? Zweifellos, er hatte es getan. Ihr Geist schien eingefroren; als sie sich endlich rührte, trat sie nicht in das Haus, dessen kalte Dunkelheit sie jetzt nicht ertragen hätte, sondern wandelte in den Garten, der mit heißen Düften erfüllt war. Seine Stille war ebenso bedrückend wie in der vorigen Nacht, hatte aber nicht die Macht, ihr wieder tiefe Hoffnungslosigkeit einzuflößen, sondern schärfte nur ihre Sinne.

Sie machte bei dem Teich halt und sah hinab auf das Spiegelbild der Sterne. Eine plötzliche Brise kräuselte das Wasser, und ihr eigenes Bild schwankte wie eine erschütterte Statue darin und machte sie traurig. War sie kalt? Manchmal wurde sie von heißen Erregungen erfaßt, ihre Zurückhaltung war mehr geistiger als körperlicher Art, ihre Kälte mehr in ihrer Art sich zu geben als in ihrer Natur. Und doch – warum hatte Barthélemys Kuß in ihr nur eine eisige Ruhe hervorgerufen? Sie wußte sofort die Antwort. Sie liebte ihn nicht; sie konnte Gefühle nicht heucheln, Königin der Polarnacht, vielleicht hatte er recht ...

Als sie wieder des Gartens gewahr wurde, schien er ihr fremd und sein Duft erstickend. Wie sie sich dem Eingang zuwandte, fuhr sie plötzlich erschrocken zusammen: es war ihr, als ob eine Gestalt an ihr vorbeigehuscht sei. Sie fühlte die Erscheinung nicht als etwas Leibhaftiges, sondern eher als geistigen Eindruck einer Persönlichkeit, die eng mit dem Garten im Zusammenhang stand und die sich in der unheimlichen Stimmung verkörpert hatte. Mit einem Male fühlte sie die grausige Nähe des Todes.

»Doktor Garth!« rief sie unwillkürlich. Als die Worte ihrem Munde entflohen waren, schämte sie sich ihrer. Sie eilte auf die Hausfront zu, der Klang ihrer Schritte machte ihr die Tatsache klar, daß sie rannte, wie vor einem unfaßbaren Wesen fliehend. Sie blieb stehen. Es war albern von ihr. Dr. Garth, wenn er noch wach und in seinem Arbeitszimmer war, mußte sie zweifellos gehört haben. Sie mußte zu ihm gehen und ihm eine Erklärung geben. An der Tür des Arbeitszimmers hielt sie an; sie klopfte leise; als sie eine Weile gewartet hatte, sagte sie sich, er sei eingeschlafen. Sie ging auf den Fußspitzen über die Veranda, aber eine unbestimmte wachsende Unruhe zwang sie umzukehren; diesmal klopfte sie nicht an, sondern trat ein.

Eine Lampe brannte auf dem Tisch; ihr Schirm warf einen Schatten gegen die Zimmerdecke und ließ die Glasschränke im Halbdunklen. Es war niemand im Raum.

Sie war im Begriff wegzugehen, als ihr Blick auf einen Gegenstand unter dem Tische fiel, der sie bestürzt machte. Es war das Modell eines Schoners, dessen dünne Masten zersplittert waren. Ohne zu wissen, warum, und ohne darüber nachzudenken, kam ihr der Vergleich mit einem zerstörten Traum in den Sinn ...

»Doktor Garth!« rief sie.

Das Herz in ihrer Brust schlug im Takt mit einer Uhr. Wo war die Uhr? Dieser nebensächliche Gedanke drängte sich ihr in den Vordergrund; im Arbeitszimmer war sie nicht, vielleicht hinter den Schilfportieren?

Wieder rief sie. Beklemmendes Schweigen herrschte. War er krank? War er ...? Aber die Uhr, wo war sie; sie machte sie nervös.

Sie schlug die Portiere zur Seite; auch im Wohnzimmer war niemand – bis auf die ernste Frau des Bildes. Aber Lhassa sah jetzt in ihrem Antlitz nicht den versonnenen Ernst, sondern einen Widerschein ihres eigenen Schreckens.

Sie ging ins Arbeitszimmer zurück. Ein drittes Mal rief sie. Die unsichtbare Uhr tickte weiter. Diese Uhr! Ihre Augen durchforschten das Arbeitszimmer und entdeckten einen langen Wandteppich, der zwischen zwei Schränken hing. Rasch, mit verhaltenem Atem, ging sie darauf los und lüftete ihn.

Der Raum dahinter war dunkel, aber ein Lichtstrahl vom Studierzimmer stahl sich herein und beleuchtete mancherlei Figuren – und einen großen weißen Fleck am Boden.

Tick-tack, tick-tack, tick-tack, tick-tack ... Irgendwo in diesem Zimmer war es. Sie stand unter der Tür, am Wandteppich sich festhaltend, und starrte nieder auf eine weiße Hemdbrust, die sie zu blenden schien ... Remy Barthélemy hatte sie geküßt, wie absurd ... Ein Kuß ...

Als ihre Erstarrung sich löste, schritt sie über die Schwelle, der Wandteppich fiel herab und verhüllte das Licht.

Das Grauen der Dunkelheit legte sich ihr auf die Brust, und panischer Schreck packte sie. Im nächsten Moment aber lag sie auf den Knien.

»Doktor Garth, Doktor!«

Vergebens, zu rufen; vergebens, ihn zu schütteln; vergebens, eine seiner kalten Hände zu nehmen, um sie zwischen den ihrigen zu wärmen.

Ihr Sehvermögen hatte sich nun der schwachen Beleuchtung angepaßt. Sie erblickte ein dunkles Ding um den Hals des Doktors, etwas, das unter seinem Bart zusammengerollt war und auf phantastische Art in einem Vipernkopf endete. Der Anblick des gerollten Tuches war grausig. Erdrosselt!

Dieser hilflose Blinde, der im Dunklen lebte – der Schrecken preßte ihr das Herz in scharfem körperlichen Schmerz zusammen. Sie empfand einen plötzlichen unerklärlichen Drang zu lachen.

Er hatte ihr die Tür zu lange verborgenen Geheimnissen geöffnet – und nun war die Tür wieder versiegelt. Dies war das Ende seiner Träume – das Ende aller Träume? Oder war er nur aus dem dunklen Haus hinausgewandert? Sie fühlte mit Schaudern, daß das Leben etwas Vorübergehendes und nur der Tod unsterblich sei. Sie erhob die Augen: schwach funkelnde Figuren, viele Götzenbilder auf Tischen und in Glasschränken. Das bleiche Zifferblatt einer Uhr starrte aus einer Ecke. Ihre Zeiger gingen weiter, ohne sich um die Tragödie zu kümmern. Aber sie mußte sich zusammenraffen. Was tun? Jemanden herbeirufen, einen der Hausboys, Domingo?

Sie erhob sich und ging ins Studierzimmer. Als sie an der Glockenschnur – wie lächerlich altmodisch – riß, kam es ihr vor, als ob sie hinter sich ein leises Geräusch hörte. Sie lauschte nach dem Klang von Fußtritten, vernahm aber nur das Säuseln der Blätter im Garten. Plötzlich kam ihr der Verdacht, der Mann, der das dunkle Tuch gebraucht hatte, könnte sich noch im Hause herumtreiben.

Unwahrscheinlich. Trotzdem riß sie wieder an der Glockenschnur. Schweigen. Als sie eben wieder läuten wollte, hörte sie Schritte im Wohnzimmer.

»Wer ist da?« rief sie.

Einer der chinesischen Boys erschien zwischen den Vorhängen. Sie fühlte sich plötzlich schwach auf den Füßen und tastete nach einem Stuhl.

Hatte die Frau geläutet? Eben als er auf der Heimkehr von der Stadt den Hof betreten habe, habe er geglaubt, die Glocke zu hören.

Ja, sie habe zweimal geläutet; wo Domingo sei?

Er sei noch nicht heimgekommen.

Ob die anderen Boys auch ausgegangen seien?

Ja, der Doktor habe ihnen für den Abend frei gegeben.

»Ruf die Polizei her«, hörte sie sich selbst mit kalter Stimme sagen.

»Etwas Furchtbares ist geschehen! Der Doktor – Steh nicht da und glotze! Ruf die Polizei!«

Wieder allein, ergriff sie von neuem das Grauen. Aber sie war entschlossen, nicht schwach zu werden. Sie verachtete Schwäche!

Allmählich verlor sich die Erregung. Aber das Gefühl, als habe sie einen Strick um die Kehle, blieb zurück, wurde sogar stärker. Eine Minute oder mehr mochte vergangen sein, als der Boy zurückkam; ihr war es wie eine Ewigkeit erschienen. Als sie ihn eintreten hörte, wandte sie sich zu ihm, ihre Hände an der Kehle.

»Nimm das Ding von seinem Hals weg«, flüsterte sie mit einer Handbewegung nach dem dunklen Raum. »Es ist mir gleich, was man sagen wird, tu es nur rasch!«

Einen Augenblick danach konnte sie wieder richtig atmen, und sie sank in einen Sessel, nicht mehr voller Angst, nur grenzenlos müde.

*

In einem der vielen Wohnschiffe auf dem Fluß saß ein kahlköpfiger Eingeborener unter einer Laterne und betrachtete den Rauch seiner Pfeife.

Quer über dem Innenraum, auf Binsen, lagen zwei Gestalten, ein Chinese und ein Weib, deren Mund scharlachrot von Betelflecken war, beide schliefen; ihr Atem vermischte sich mit den saugenden Tönen des Wassers unter dem Boden.

Der Mann mit dem glattrasierten Kopf (der nämliche, der an jenem Morgen nach der Pagode Pra-Keo gewandert war) hatte unter der starken Nachwirkung zuviel genossenen Arraks zu leiden. Seine Gedanken verweilten nicht bei Mu-so-kwa, dem Asamguika-Himmel, sondern bei seinem Glück am Abend.

Wahrhaftig, Diacoco, der Gott des Geldes, hatte ihm zugelächelt. Er hatte die Ticalstücke, die ihm der dumme Bastard gezahlt hatte, fast verdoppelt.

In diesen Gedankengang schlich sich eine nicht so angenehme Erinnerung ein und ließ ihn erschauern. Er fühlte etwas Kaltes, wie wenn eine Spinne oder eine Eidechse an seinem Rückgrat herunterkröche.

Im Geist sah er ein Bild, grün wie ein sumpfiger Teich, sah er Diamanten, die glitzerten wie die Augen der Kobra. Wenn nur – – – Nun, ja; immer gibt es Bodensatz im Becher und Kerne in der Pflaume. Man kann den Wein nicht trinken und die Frucht nicht essen ohne irgendeine Unannehmlichkeit. Und man hatte ihm seinen Preis bezahlt. Schließlich ...

»Mypenary?« flüsterte er, das heißt in siamesischer Volkssprache: was liegt daran? In einer Stunde ungefähr würden sie stromaufwärts verschwinden und außer Gefahr sein ... So saß er da, rauchte und lauschte auf das Nachtlied des Stromes.

Gleich darauf glitt wieder ein kalter Schauer seinen Rücken entlang; diesmal war er nicht durch einen Gedanken, sondern durch ein Geräusch verursacht. Eine weiße Gestalt wurde sichtbar und trat auf das Wohnschiff. Er erkannte den Eurasier Domingo; eine Hand behielt er unter dem Rock.

»Ich geh mit euch«, erklärte der Bastard. Seine Haut war feucht von Schweiß und farblos wie weicher Talg. In seinen Augen war ein leidender Schimmer, jedoch heuchelte er ein sorgloses, überlegenes Benehmen.

»Ich geh mit euch,« wiederholte er, »ihr habt mich mitzunehmen, verstanden?«

Der Chinese und sein Weib waren inzwischen aufgewacht.

»Hör mich an!« fügte Domingo hinzu und ließ sich mit sichtlichem Widerwillen neben dem Kahlkopf nieder. »Bist du sicher, daß du heute nacht nicht verfolgt wirst?«

Der haarlose Siamese nickte.

»Er ist tot und ...« Domingos Kehle schnürte sich zusammen und er zitterte heftig. »Ich war in mein Zimmer gegangen. Ich hörte einen Fall ... Er lag im Studierzimmer ... Ich wußte, was die Polizei sagen würde ...« Er seufzte und rieb sich die Augen. »Sie treiben mich von meinem Heim weg. Sie würden uns hereinlegen mit ihren Verhören. Also, ihr müßt mich mitnehmen. Ihr müßt!« Er zog seine Geldbörse. »Ich will dafür zahlen.« Er warf etwas Geld auf den Boden und gierig wurde es von braunen Händen aufgerafft. »Können wir nicht jetzt gleich abfahren oder recht bald?«

Der Kahlkopf sprach zum ersten Male: »Je nach der Strömung.«

Domingo löschte, noch zitternd, die Laterne aus und ließ sich neben dem Siamesen auf den Boden nieder.

»Du stinkst«, klagte der Eurasier und kroch etwas weg. »Heilige Jungfrau,« wimmerte er, »es war um seinen Hals gewickelt.«

Der glattrasierte Eingeborene zog noch immer an seiner Pfeife, mit dem Blick auf den bleichen Fleck am Körper des Bastards. Der Gedanke an Domingos Geldbörse wollte ihm nicht aus dem Kopf.

Da fiel ihm ein, daß seine Hand immer noch das Heft des Messers unter seinem Panung umfaßt hielt. Anstatt es loszulassen, versteifte sich sein Griff. Er rauchte und überlegte.

*

»Wäre es nicht bald Zeit, daß sie hier wären?« fragte Lhassa den Boy.

»Mit wem hast du gesprochen?«

Der Klang ihrer Stimme weckte sie aus der Betäubung, die sie befallen hatte.

Der Chinesenboy grinste scheu.

»Ich gesprochen haben mit dem Polizeikommissar – Er Freund von Doktor. Sie wissen? Er sehr aufgeregt, viel zu tun. Aber doch bald kommen will.« Ihr Blick fiel auf einen dunkelblauen zusammengerollten Haufen auf einem der Schränke, ein Tuch, dessen Enden unbeweglich an der Glastür hingen. Sie schaute rasch weg.

Nur weil sie sprechen wollte, sagte sie: »Ja, er hat sicher viel zu tun. Wie dumm!«

»Hay ya,« flüsterte der Chinese mit seinem scheuen Grinsen, »er wollen fangen Dieb.«

Sie wiederholte: »Dieb.« Sie wußte kaum, was sie sagte und kümmerte sich noch weniger darum. Nur etwas sagen, um das Schweigen zu brechen! »Ja, Dieb gestohlen grünen Gott. König sehr aufgeregt. Ich Soldaten haben gehört erzählen zu meinem Vater heute nacht. Sagt er Götter zornig. Aber ich gehören zu Christenboys. Götter nicht zornig werden, nur Jesu Christ zornig wird.«

Lhassa hörte ihm verständnislos zu, bis ihr plötzlich wieder ein Satz ins Gedächtnis kam und sie aus ihrer Betäubung riß.

»Du meinst doch nicht den Smaragd-Buddha?«

Der Boy nickte: »Jaa, ›Mem‹. Grüner Gott im Tempel vom König.«

»Wo hast du das gehört?«

»Mein Vater dort leben« – er wies nach der Stadt – »und heute abend ich höre Soldaten ihm erzählen. Er sagen, jemand gestohlen grünen Gott und getötet Priester.«

Der Smaragd-Buddha gestohlen – das grüne Feuer. Sie fühlte, daß diese Nachricht sie hätte erschüttern sollen, aber es war nicht der Fall. Ein Stück Jade. Und der König und der Kommissar waren aufgeregt wegen eines Götzenbildes – während im Zimmer hier nebenan ein toter Mann lag!

Ein Schaudern unterdrückend, sagte sie: »Geh und sieh nach, ob die anderen Boys gekommen sind.«

Als er hinausging, wurde ihr Blick wieder zu dem Tuch auf dem Schrank hingezogen. Sie starrte, widerstandslos, eine prickelnde Kälte im Leib, und plötzlich schien die blaue Schärpe Leben anzunehmen und auf den Boden zu gleiten. Fast hätte sie aufgeschrien, dann brach sie in ein hysterisches Lachen aus. Die Schärpe war einfach auf den Boden heruntergefallen.

Als der Boy zurückkam, zeigte sie auf das Tuch und befahl:

»Heb es auf!«

Er gehorchte und faltete es mit einer Sorgfalt, die ihr leise Schauer verursachte. Sie stellte fest, daß es die zwiefache Länge seines Körpers hatte und offenbar eine Art Draperie war. Eine Frage drängte sich ihr auf: »Was ist das?«

Der Boy hielt das Tuch unter die Lampe, so daß das seidene Gewebe zu kriechen schien.

»Javafrauen solche tragen,« sagte er mit einer anschaulichen Geste, »Baby tragen. Manchmal auch Malaienfrauen tragen.«

Zu gleicher Zeit blitzte durch ihr Gehirn das Bild eines Mannes in Weiß ... Slendong ...

Die Erregung machte sie fast ohnmächtig. Ihre Gedanken fügten sich wie Stücke farbigen Glases in ein glänzendes Muster zusammen, ein Bild, das über ihren Geist hinausstrahlte, das sie forttrug in wechselnden Schatten und Lichtern.

Wie in einer seltsamen Wiedergeburt wurde sie ein Teil dieses Bildes. Sie rührte sich nicht, selbst nicht, als sie an der Hausfront läuten hörte und der Boy ging, um nachzusehen; still, wie eine bronzene Walküre, saß sie da mit ihrem Haar, das glühte wie ein Kupferhelm.


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