Emmy Ball-Hennings
Märchen am Kamin
Emmy Ball-Hennings

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Hähnchen und Hühnchen im Nußwalde

Am Sonntag hatte der kleine Michael Geburtstag, was niemand im Hause leicht vergessen konnte, da er selbst von Zeit zu Zeit daran erinnerte. Schon am Morgen lag ein großes Mandelbrot, von fünf brennenden Kerzen umstellt, auf dem Tische. Seine Mutter hatte ihm ein paar himmelblaue Hosen genäht und dazu einen Kittel von der nämlichen Farbe, den die Geschwister mit Blumen bestickt hatten. Michael war um so stolzer auf seinen Anzug, weil die Männer im Frühling und Sommer Anzüge von derselben blauen Farbe trugen. Carola schnitt das Brot, aber Michael durfte es anbieten, weil es sein Brot und ihm zuliebe gebacken worden war. Im Gegensatz zu den andern Kindern, die alle braunes oder schwarzes Haar besaßen, hatte Michael sehr helles blondes Haar, nur Francesca und Nicola hatten Haar von ähnlichem Blond. Immer wieder bot Michael seiner Nonna vom guten Brot an, und sie mußte noch ein Extrastück nehmen, das sie gleichsam als Belohnung zum voraus für ein Märchen erhielt. Als man am Nachmittag am Kamin saß, in dem das Feuer kaum nachts ausging, fragte Michael: »Riecht ihr nichts?«

»Was? Wir riechen nichts!« 189

»Riecht doch etwas genauer«, forderte Michael auf. »Nun? Was riecht ihr?«

Das Schwesterchen Francesca sagte: »Ich rieche schon, was du meinst, aber ich sag's nicht. Die andern mögen es raten.«

Niemand fand es. Schließlich aber wurde entdeckt, was roch, weil Michael die Augen in recht auffallender Weise nach oben wandte.

»Oh, Veilchen, Anemonen, Primeln und sogar Brautglöckchen!«

Das Kind hatte die Blumen gepflückt und eine Vase neben der andern auf das Kaminsims gestellt. »Ich habe mich eigens auf den hohen Stuhl stellen müssen, aber die Blumen sind alle für euch. Ich schenke sie euch zu meinem schönen, himmelblauen Geburtstag.« Das »himmelblau« war eine Anspielung auf sein blaues Gewand. Die ganze Familie bedankte sich für die Blumen, und dann begann die Großmutter ihre Erzählung.

Hähnchen und Hühnchen im Nußwalde

altes norwegisches Märchen.

Hähnchen und Hühnchen gingen einmal zusammen in den Nußwald, um sich Nüsse zu sammeln. Da bekam Hühnchen ein Stück Nußschale in den Hals, so daß es sich verschluckte, und da lag es nun und zappelte mit den Flügeln.

»O Hähnchen, hole mir einen Schluck Wasser, dann könnte es wieder besser mit mir werden, damit ich nicht sterben muß.«

Da lief Hähnchen zur Quelle: »Quelle, gib mir Wasser. Das Wasser bring' ich Hühnchen, meinem Schatz. Das liegt auf den Tod krank im Nußwalde.« 190

Die Quelle antwortete: »Ich gebe dir kein Wasser, wenn du mir nicht Laub gibst.«

Da lief Hähnchen zur Linde.

»Linde, gib mir Laub. Das Laub gebe ich der Quelle. Die Quelle gibt mir Wasser. Das Wasser bringe ich Hühnchen, meinem Schatz. Das liegt auf den Tod krank im Nußwalde.«

Die Linde antwortete: »Ich gebe dir kein Laub, ehe du mir nicht ein rotes Goldband gibst.«

Da lief Hähnchen zur edlen Jungfrau: »Jungfrau, gib mir ein Goldband. Das rote Goldband geb' ich der Linde. Die Linde gibt mit Laub. Das Laub geb' ich der Quelle. Die Quelle gibt mir Wasser. Das Wasser bringe ich Hühnchen, meinem Schatz. Das liegt auf den Tod krank im Nußwalde.«

Da antwortete die edle Jungfrau. »Ich gebe dir kein rotes Goldband, wenn du mir nicht ein Paar Schuhe gibst.«

Da lief Hähnchen zum Schuhmacher: »Schuhmacher, gib mir ein Paar Schuhe. Die Schuhe gebe ich der edlen Jungfrau. Die edle Jungfrau gibt mir ein rotes Goldband. Das rote Goldband gebe ich der Linde. Die Linde gibt mir Laub. Das Laub geb' ich der Quelle. Die Quelle gibt mir Wasser. Das Wasser bringe ich Hühnchen, meinem Schatz. Das liegt auf den Tod krank im Nußwalde.«

Da antwortete der Schuhmacher: »Ich gebe dir keine Schuhe, ehe du mir nicht Borsten gibst.«

Da lief Hähnchen zum Eber: »Eber, gib mir Borsten. Die Borsten geb' ich dem Schuhmacher. Der Schuhmacher gibt mir Schuhe. Die Schuhe gebe ich der edlen Jungfrau. Die edle Jungfrau gibt mir ein 191 rotes Goldband. Das rote Goldband gebe ich der Linde. Die Linde gibt mir Laub. Das Laub gebe ich der Quelle. Die Quelle gibt mir Wasser. Das Wasser bringe ich Hühnchen, meinem Schatze. Das liegt auf den Tod krank im Nußwalde.«

Da antwortete der Eber: »Ich gebe dir keine Borsten, ehe du mir nicht Korn gibst.«

Da lief Hähnchen zum Korndrescher: »Korndrescher, gib mir Korn. Das Korn geb' ich dem Eber. Der Eber gibt mir Borsten. Die Borsten gebe ich dem Schuhmacher. Der Schuhmacher gibt mir Schuhe. Die Schuhe gebe ich der edlen Jungfrau. Die edle Jungfrau gibt mir ein rotes Goldband. Das rote Goldband bringe ich der Linde. Die Linde gibt mir Laub. Das Laub gebe ich der Quelle. Die Quelle gibt mir Wasser. Das Wasser bringe ich Hühnchen, meinem Schatz. Das liegt auf den Tod krank im Nußwalde.«

Da antwortete der Korndrescher: »Ich gebe dir kein Korn, ehe du mir nicht Brot gibst.«

Da lief Hähnchen zum Bäcker: »Bäcker, gib mir Brot. Das Brot bringe ich dem Korndrescher. Der Korndrescher gibt mir Korn. Das Korn bringe ich dem Eber. Der Eber gibt mir Borsten. Die Borsten bringe ich dem Schuhmacher. Der Schuhmacher gibt mir ein Paar Schuhe. Die Schuhe bringe ich der edlen Jungfrau. Die edle Jungfrau gibt mir ein rotes Goldband. Das rote Goldband bringe ich der Linde. Die Linde gibt mir Laub. Das Laub bringe ich der Quelle. Die Quelle gibt mir Wasser. Das Wasser bringe ich Hühnchen, meinem Schatz. Das liegt auf den Tod krank im Nußwalde.« 192

Da antwortete der Bäcker: »Ich gebe dir kein Brot, ehe du mir nicht Holz gibst.«

Da lief Hähnchen zum Holzfäller: »Holzfäller, gib mir Holz. Das Holz bringe ich dem Bäcker. Der Bäcker gibt mir Brot. Das Brot bringe ich dem Korndrescher. Der Korndrescher gibt mir Korn. Das Korn bringe ich dem Eber. Der Eber gibt mir Borsten. Die Borsten bringe ich dem Schuhmacher. Der Schuhmacher gibt mir ein Paar Schuhe. Die Schuhe bringe ich der edlen Jungfrau. Die edle Jungfrau gibt mir ein rotes Goldband. Das rote Goldband bringe ich der Linde. Die Linde gibt mir Laub. Das Laub bringe ich der Quelle. Die Quelle gibt mir Wasser. Das Wasser bringe ich Hühnchen, meinem Schatz. Das liegt auf den Tod krank im Nußwalde.«

Da antwortete der Holzfäller: »Ich gebe dir kein Holz, ehe du mir nicht eine Axt gibst.«

Da lief Hähnchen zum Schmied: »Schmied, gib mir eine Axt. Die Axt bringe ich dem Holzfäller. Der Holzfäller gibt mir Holz. Das Holz bringe ich dem Bäcker. Der Bäcker gibt mir Brot. Das Brot bringe ich dem Korndrescher. Der Korndrescher gibt mir Korn. Das Korn bringe ich dem Eber. Der Eber gibt mir Borsten. Die Borsten bringe ich dem Schuhmacher. Der Schuhmacher gibt mir ein Paar Schuhe. Die Schuhe bringe ich der edlen Jungfrau. Die edle Jungfrau gibt mir ein rotes Goldband. Das rote Goldband bringe ich der Linde. Die Linde gibt mir Laub. Das Laub bringe ich der Quelle. Die Quelle gibt mir Wasser. Das Wasser bringe ich Hühnchen, meinem Schatz. Das liegt auf den Tod krank im Nußwalde.« 193

Da antwortete der Schmied: »Ich gebe dir keine Axt, ehe du mir nicht Kohlen gibst.«

Da lief Hähnchen zum Köhler: »Köhler, gib mir Kohlen. Die Kohlen bringe ich dem Schmied. Der Schmied gibt mir eine Axt. Die Axt bringe ich dem Holzfäller. Der Holzfäller gibt mir Holz. Das Holz bringe ich dem Bäcker. Der Bäcker gibt mir Brot. Das Brot bringe ich dem Korndrescher. Der Korndrescher gibt mir Korn. Das Korn bringe ich dem Eber. Der Eber gibt mir Borsten. Die Borsten bringe ich dem Schuhmacher. Der Schuhmacher gibt mir ein Paar Schuhe. Die Schuhe bringe ich der edlen Jungfrau. Die edle Jungfrau gibt mir ein rotes Goldband. Das rote Goldband bringe ich der Linde. Die Linde gibt mir Laub. Das Laub bringe ich der Quelle. Die Quelle gibt mir Wasser. Das Wasser bringe ich Hühnchen, meinem Schatz. Das liegt auf den Tod krank im Nußwalde.«

Da tat Hähnchen dem armen Köhler leid, und er gab ihm gleich die Kohlen. Da bekam der Schmied seine Kohlen, und der Holzfäller bekam seine Axt, und der Bäcker bekam sein Holz, und der Eber bekam sein Korn, und der Schuhmacher bekam seine Borsten, und die edle Jungfrau bekam ihre Schuhe, und die Linde bekam ihr Goldband, und die Quelle bekam ihr Laub. Und Hähnchen bekam das Wasser. Das brachte es Hühnchen, seinem Schatz, das auf den Tod krank im Nußwalde lag. Als Hähnchen ihm aber das Wasser gab, wurde Hühnchen auf der Stelle gesund.

 

»Oh, das liebe Hähnchen«, sagte Michael, »und gerade an meinem Geburtstag.« 194

»Das war ein süßes Märchen«, fanden die Kinder, »aber leider nur zu kurz.«

»Nun«, meinten die Großen, »Hähnchen ist genug herumgelaufen um einen Schluck Wasser für seinen Schatz.« 195

 


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