Emmy Ball-Hennings
Märchen am Kamin
Emmy Ball-Hennings

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König Salomos Zepter und die Krone der Königin von Saba

Die Glocken von Poppi begannen das Weihnachtsfest einzuläuten. Mit ihren warmen, feierlichen Klängen riefen sie die Gläubigen zur Christmette. Von allen Nachbarglocken wurde die Einladung freudig beantwortet. Eine Glocke schien der andern zuzurufen: »Klinge mit mir. Es ist Weihnachten. Das Christkind ist geboren worden.« Alsbald begann wieder eine Glocke zu läuten, und noch eine, bis alle zusammen in der Runde erklangen. Die Glocken von Bibiena, von Magiena, von Camaldoli und von Picco della Verna, dazu noch die kleinen Glocken von den Kapellen. Es war ein wundersames Läuten und Klingen, das man überall in den Tälern und auf den Bergen vernahm.

Zu Farneta, einer kleinen Ortschaft, die an der Bergstraße nach Camaldoli liegt, war um diese Stunde die Familie des Bauern Marucci vollzählig in der großen Küche am Kamin versammelt, in dem ein lustiges Feuer prasselte. Ja, dieser gemütliche Kaminwinkel mußte schon recht geräumig sein, um die zahlreiche Familie, groß und klein, aufnehmen zu können. Man saß hier, eng aneinandergeschmiegt, auf einer großen Rundbank, plaudernd unter der Riesenkappe des Kamins, während in einem 8 mächtigen Kupferkessel, der an langer Eisenkette überm Feuer hing, die Kastanien kochten.

Hier saß also am wärmsten Platz im Winkel die Großmutter Marucci, von Kindern und Kindeskindern umgeben, und weil man in der Toscana die Großmutter »Regina«, das heißt Königin, nennt, wollen auch wir ihr diesen Titel geben, während die Kleinen ihr Großmütterchen meistens »Nonna« rufen. Die Regina war schon fünfundsiebzig Jahre alt, aber noch sehr rüstig und, wie sich von selbst versteht, von der ganzen Familie wurde sie geliebt. Groß und klein begegnete ihr mit der zärtlichsten Fürsorge und Hochachtung, die man ja allen, besonders aber älteren Menschen erweisen muß. Da der alte Vater Marucci schon vor einigen Jahren gestorben war, vertrat der älteste Sohn, Maso, als Haupt der Familie seinen seligen Vater. Er führte vor allem den landwirtschaftlichen Betrieb.

Die Maruccis hatten ein Bauerngut in Pacht, mit dem nicht gar viel Reingewinn zu erzielen war, das aber die große Familie doch recht und schlecht ernähren konnte. Es kostete viel Mühe, dem etwas dürftigen Boden das Nötige zum Leben abzuringen, aber die Marucci waren bescheidene Leute, dankbar und zufrieden, wenn sie keinen Hunger leiden mußten. Und dies war nicht nötig, da es genug fleißige Hände zum Schaffen gab. Sogar die größeren Kinder halfen in den Ferien und ein wenig in der schulfreien Zeit bei den Feldarbeiten. Die alte Regina hatte fünf Söhne, die alle bis auf den jüngsten verheiratet waren. Der jüngste, Cecco mit Namen, war soeben vom Militärdienst nach Hause gekommen, und jetzt saß er neben 9 den andern am Kamin, noch in der schmucken Uniform der Artillerie.

Da waren die Frauen der vier Brüder, brave Bäuerinnen in ihren netten, dunklen Kirchgangskleidern, über die sie Schürzen aus gestreiftem Baumwollstoff trugen. Da hockte das muntere Rudel der fünfzehn Enkelkinder und wartete darauf, daß die Kastanien bald gar sein würden. Für gewöhnlich wurden die Kinder zeitig ins Bett geschickt, weil sie schon früh am Morgen aufstehen mußten, da sie einen weiten Schulweg hatten. Am Heiligen Abend aber wurde eine Ausnahme gemacht. Da durften die Kinder aufbleiben. Den größeren wurde sogar erlaubt, mit den Erwachsenen in die Mitternachtsmesse zu gehen, während die ganz kleinen daheim bei der Großmutter blieben, die so schöne Geschichten zu erzählen wußte, die sie als Kind selbst von ihrer Großmutter gehört hatte. Da gab es Sagen und Märchen, Legenden und Träume, die sich seit Jahrhunderten von Mund zu Mund, von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzten. Schön ist es, wenn die Vergangenheit wie ein freundlicher Gruß in die Gegenwart ragt und immer weitergegeben wird. Auf diese Weise entsteht der Märchenbrunnen, aus dem das Volk gern schöpft, und aus dem auch wir jetzt schöpfen werden.

Oh, wie die Kinder lauschten, wenn die Regina zu erzählen begann! Wie die Kleinen sich an sie schmiegten! Heute abend würden wahrscheinlich alle Kinder daheim bleiben, weil viel Schnee gefallen war. San Fedele, die Klosterkirche, lag noch eine gute Stunde weit, und im hohen, frisch gefallenen Schnee 10 wäre es für die Kinder kaum möglich gewesen, vorwärts zu kommen, zumal der Weg ziemlich steil war. Noch ein wenig höher als San Fedele lag das Schloß von Poppi, das mit seinem mächtigen Rundturm in der ganzen Gegend von allen Seiten erblickt werden konnte.

Noch immer läuteten die Glocken, und am Kamin wurde erwogen, wie es wohl diesmal mit dem Kirchgang sein würde. Einige Frauen meinten, es sei beinahe zu kalt, vielleicht doch ein wenig zu unbehaglich, sich mitten in der Nacht ins Freie zu wagen. Die Kinder jedoch protestierten einstimmig: »Wenn aber doch heute das Christkind geboren ist, müssen wir hingehen, ob es draußen schneit oder nicht. Wenigstens einige von uns müssen in der Kirche sein. Wenn alle nicht gehen wollten, würde das Christkind so gut wie allein in der Krippe liegen. Wir wollen es ansehen gehen.«

»Schon recht«, entgegnete eine der Mütter, »ihr wißt wohl, daß es mit dem Ansehen allein nicht getan ist, wenn nicht das Herz selbst die Krippe ist, in dem das heilige Kind am liebsten wohnt. Ihr könnt morgen zur Messe gehn, wenn es draußen hell sein wird. Wenn es sich heute nacht recht ausschneit, haben wir vielleicht morgen klares Sonnenwetter.«

»Es ist aber auch schön, wenn die Sterne scheinen und wir mitten in der Nacht zur Kirche gehen dürften«, wagte die zwölfjährige Annina einzuwenden.

»Es ist aber nicht sternklar heute nacht.«

»Hat der liebe Gott denn nicht den Bethlehemsstern heute nacht ausgehängt?« So fragte der vierjährige Michael, der freilich wohl ahnte, daß man 11 ihn nicht mitnehmen würde, doch wollte er gerne wissen, wie es in der Weihnachtsnacht zugeht.

»Du bist ja selbst ein Sternlein, Michelino«, scherzte Gabriela, Michaels sechsjähriges Schwesterchen. Sie zog ihr Brüderlein an sich und fuhr ihm mit der Hand spielerisch in sein blondes Kraushaar.

»Sag, Mammina, ist's wahr, daß ich ein Stern bin? Bin ich denn nicht Michelino?«

»Beides bist du«, wurde ihm von allen Seiten versichert, und wie zum Beweis sangen ihm die Kinder ein kleines Weihnachtslied vor, in dem immer wieder ein Refrain vorkam, der besonders lieblich aus Kindermund erklang: »Stern, der mich den Sternen ähnlich macht.«

Als die Kinder ihr Liedlein beendet hatten, stand Maso von seinem Platz auf, um draußen vor der Haustür einmal nach dem Wetter zu sehn. Ein eisiger Wind fegte zur Küche herein, und Maso kam rasch wieder zurück.

»Der Schnee friert sogar. Mir scheint, das ist kein Wetter, um auf den Berg zu steigen. Der Schneefall hat freilich nachgelassen. Aber der Himmel ist dickgrau wie Radiergummi.« Die Kinder lachten. Für die Frauen aber war es an der Zeit, sich einig zu werden, ob man den Kirchgang wagen solle oder nicht.

Carola, so hieß die Frau des Maso, meinte resolut: »Nein, wir Erwachsenen gehen auf alle Fälle. Soll man sich vor der Kälte fürchten, wenn man nur einmal im Jahr zur Christmette geht? Fürchten wir uns vielleicht vor der Hitze im Hochsommer, wenn es gilt, das Korn einzubringen? Wir müßten uns vor uns selber schämen, wenn wir hier sitzenbleiben wollten. 12 Also los, beeilen wir uns! Giovanni und Pierino können mitgehen, und das kleine Gelichter bleibt bei der Nonna.« Wenn die energische Frau Carola etwas anordnete, gab es selten Widerspruch, und die jüngeren Schwägerinnen zeigten sich stets nachgiebig. In einer so großen Familie, wo eines so nahe neben dem andern ist, kann nicht jeder nach seinem eigenen Kopf handeln, vielmehr muß jeder einzelne mehr an alle als an sich selbst denken. Wie Maso die Aufsicht über die Feldarbeiten hatte, so hatte Carola die Leitung des Haushalts übernommen. Die Schwägerinnen, sowie auch die vielen Kinder, hatten sich der Hausordnung Frau Carolas zu fügen, die jedoch ihr Amt nie zur Herrschsucht mißbrauchte, da sie gewissenhaft auf das Wohl sämtlicher Hausgenossen bedacht war.

Während nun Carola die Kastanien vom Feuer nahm, rasch den Tisch deckte, den Kindern die Kastanien austeilte, hatten sich die andern Frauen in den ersten Stock begeben, um Tücher, Rosenkränze, Hüte und Gebetbücher zu holen. Cecco blieb in der Kaminecke sitzen, die Holzschüssel mit den Kastanien neben sich auf der Bank. Carola fragte ihn: »Nun, Cecco, was ist mit dir? Willst du nicht mitkommen?«

»Nein, ich möchte hierbleiben. Ich werde morgen früh mit den Kindern in die Messe gehen. Schau, Carola, ich war so lange nicht daheim und möchte bei der Mutter bleiben, um von ihr wieder einmal die Geschichte von König Salomo und der Königin Saba zu hören.«

»Gut, mach nur, wie du willst«, entgegnete Carola. 13

»So, da seid ihr ja schon marschbereit. Nina, hast du mir mein dickes Tuch mitgebracht? Nun, ihr seid ja gehörig eingemummelt. Man möchte meinen, wir seien Nordländer, weil ihr euch bis an die Nasenspitze in Wolle einpackt.«

Alles lachte, während die Frauen sich noch eilig die Schürzentaschen mit warmen Kastanien anfüllten. Die Männer trugen in dieser im Winter recht rauhen Gegend große hohe, braune Hüte, die mit dickem grünen Flanell gefüttert waren, während die Frauen schwere, befranste, an den Rändern mit bunten Blumen bedruckte Tücher trugen, die groß und lang wie Mäntel waren.

Dann endlich erfolgte der Aufbruch. »Addio, Mammina, Addio, Babbo, grüßt das Christkind, Sagt ihm, wir kommen morgen. Gleitet nicht auf dem Wege aus! Kommt bald wieder! Dürfen wir aufbleiben, bis ihr zurückkommt?« So rief es durcheinander.

»Jajaja, macht, wie ihr wollt. Unterhaltet euch gut und bleibt brav. Auf Wiedersehn alle miteinander. Auf Wiedersehen.«

Cecco, dem es gefiel, jede freie Stunde neben seiner Mutter zu weilen, setzte sich neben sie, nahm zärtlich ihre welke Hand in seine beiden kräftigen Hände und sagte dann nach einer kleinen Pause: »Oh, Mammina, weißt du noch, als du meinen Geschwistern und mir zum erstenmal die Geschichte vom König Salomo erzählt hast? Damals war ich noch ein kleiner Junge. Es kommt mir vor, als wäre es gar nicht so sehr lange her. Und doch . . . Wieviel hat sich inzwischen geändert!« 14

»Das kann man wohl sagen«, entgegnete die Mutter leise seufzend, »damals lebte dein Vater noch, und die Brüder waren noch nicht verheiratet, und die vielen Kleinen waren noch nicht da. Ja, wir meinen euch, ihr kleines Volk.«

»Und wo waren wir denn, als ihr so allein wart?« erkundigte sich der kleine Michael.

»Ja, darüber wollen wir heute abend nicht sprechen, das führt ein bißchen zu weit«, gab die Nonna zurück.

»Ja, und jetzt sind wir ja auch da, und drum erzähle uns jetzt die Geschichte. Bitte, liebe gute Nonna, laß dich nur nicht zu lange bitten.«

»Bewahre, ihr habt ganz recht«, sagte die Nonna, »denn wenn ich zu spät beginne, werden wir an diesem Abend sicher nicht fertig. Ihr müßt wissen, daß es eine lange Geschichte ist. Ob sie sich buchstäblich genau so zugetragen hat, wie ich sie berichten werde, weiß ich nicht, zumal ich selbst nicht dabeigewesen bin. Nur vom Hörensagen weiß ich noch davon.

König Salomos Zepter und die Krone der Königin von Saba

von Emma Perodi, »Le Novelle della Nonna«. Adriano Salani, Firenze.

Vor vielen, vielen Jahren wurde einmal in unserer Gegend, in Montecornioli, ein Greis mit langem Haupthaar und mit einem schlohweißen Bart gesehn, der dem Manne bis zum Gürtel reichte. Bekleidet war der Fremde mit einem seidenen Kapuzenmantel, und auf dem Kopfe soll er einen recht bunten Turban aus kostbarem bunten Stoff getragen haben. Er kam geritten auf einem weißen Maulesel. Ein schwerbeladener, doch völlig mit weißem Segeltuch bedeckter 15 Wagen folgte ihm. Dieser Wagen wurde von fünf Männern, die Lanzen trugen, begleitet, und die Lanzenträger duldeten nicht, daß jemand sich dem Wagen näherte. Dem Wagen folgte noch ein Mann, der auch einen Kapuzenmantel trug, doch war er alles in allem viel einfacher gekleidet als der Anführer des Zuges. Ihr könnt euch wohl vorstellen, wie erstaunt die Leute von Montecornioli waren, die ja ohnehin den lieben langen Tag über nicht grad viel Neues zu sehen bekommen. Leider ließen sich die wunderlichen Fremdlinge nicht ansprechen und also auch nicht nach dem Woher und Wohin befragen. Die Montecornioler konnten dem Aufzug nur höchst verdutzt nachsehen, und es hat sich nur feststellen lassen, daß die seltsame Karawane bergan strebte und in der Nähe des Gipfels, offenbar innerhalb einer Höhle, mit Wagen und Maulesel und dem ganzen Drum und Dran verschwunden war. Gut, das war das. Ja, jetzt wußten die Dorfbewohner etwas Neues, und auch wiederum nicht genug Neues. Den ganzen Abend über saß man vor den Haustüren, um sich über die höchst rätselhafte Erscheinung zu unterhalten. Man hatte ja nicht die leiseste Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte. Man zerbrach sich vergeblich den Kopf, aber das gefiel denen von Montecornioli nicht übel.

Am nächsten Morgen gingen manche sogleich vors Haus, nur um zum Berggipfel hinanzusehen. Die herrliche Sonne sahen sie freilich jeden Tag hinter den Bergen am Himmel emporsteigen, aber dieses schöne Morgenwunder war es nicht allein, das die Augen der Leute fesselte. Nein, es war noch etwas 16 anderes. Nämlich mitten in den Strahlen der Frühsonne, genau an jener Stelle, an der tags zuvor die merkwürdige Erscheinung verschwunden war, erblickte man ein kleines Haus, ein richtiges Haus mit Fenstern, Türen, sogar mit einem Schornstein auf dem Dach, kurzum, ein Haus, und zwar eines, das niemals vorher dagewesen war. Das war hingewundert. Wie hingeträumt lag es da, und alle Leute rieben sich die Augen, kniffen sich in den Arm, gaben sich sogar gegenseitig kleine Ohrfeigen, nur um sich zu vergewissern, daß sie nicht träumten. Sie rüttelten und schüttelten sich, um sich allenfalls wach zu bekommen, aber sie waren wach und blieben wach. Und das Haus blieb sicher stehen, wo es stand. Man sah deutlich, die Läden waren geschlossen, und um das Haus herum war den ganzen Tag über kein menschliches Wesen zu erblicken. Und am nächsten Tag war es genau dieselbe Geschichte. Man versäumte viel Zeit in Montecornioli, und wer nur wenige Minuten Zeit hatte, benutzte diese sicherlich, um zum Berghaus hinanzustarren, weil man der Meinung war, es würde genau so plötzlich verschwinden, wie es entstanden war. Das Haus blieb aber stehen, wo es stand.

Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Man wagte sich nicht recht hinauf, man hatte ein bißchen Angst. Mit dem Mundwerk war man weniger ängstlich, und sehr bald hatte sich die Wundergeschichte in der ganzen Gegend verbreitet. Die Leute von Poppi und Bibiena ließen die Heuernte im Stich, um sich in Montecornioli sorglich über die näheren Umstände des Zauberhauses unterrichten zu lassen, doch wußte einer genau so wenig wie der andere. Da blieb 17 denn freilich nichts anderes übrig als hinaufzusteigen. um wenigstens das Haus einmal in der Nähe zu betrachten. Wie geplant, so ausgeführt. Vielleicht zwölf beherzte Männer und Burschen machten sich auf den Weg, doch als sie an das Haus kamen, fanden sie es verschlossen. Man klopfte bescheiden an die Tür, aber niemand rief: »Herein!« Die Neugierigen legten ihr Ohr an das Schlüsselloch und glaubten das feine Klirren von Münzen zu hören. Auch wähnte man Stimmen in einer leider unverständlichen Sprache zu vernehmen. Da man nichts in Erfahrung bringen konnte, tastete man wenigstens die Mauern des Hauses ab und stellte fest, daß es solide gebaut war wie jedes andere Haus, das zu errichten aber wenigstens einige Monate Arbeit in Anspruch genommen hätte. Ja, und dies hier war in einem Augenblick entstanden. Die Einwohner von Romena und Carvecchio kamen, die von Stia und die von Algo, aus der ganzen Umgebung kam man hinauf; doch niemandem gelang es, in das Haus zu dringen, und Gewalt anzuwenden wagte man nicht. Da man nun doch nicht hinter das Geheimnis kommen konnte, ließ man es allmählich auf sich beruhen und gewöhnte sich an den Anblick des Wunderhäuschens.

Als der Winter ins Land zog, lag das Haus, wenn auch recht eingeschneit, noch immer an gleicher Stelle. Man sprach zwar noch manchmal davon, doch war man sich darüber einig geworden, das Rätsel nicht eigenmächtig ergründen zu wollen.

Nur einen gab es im Dorf, den die Neugierde nicht zur Ruhe kommen ließ, und der für sich beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen. Es war Turno, ein 18 kühner Bursche von siebzehn Jahren, der einzige Sohn einer braven Witwe, der zusammen mit seiner Mutter ein bescheidenes Bauernhaus in Montecornioli bewohnte. Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, daß Turno seiner Mutter von seinem Vorhaben kein Sterbenswörtchen sagte. Die brave Frau wäre sicherlich nicht damit einverstanden gewesen, daß ihr Turno, noch dazu in einer mondlosen, völlig dunklen Nacht sich zum einsamen Geisterhaus hinbegab. Nein, die Mutter, die tagsüber genug in Haus und Stall zu tun hatte, schlief fest und ruhig, als Turno leise das Haus verließ. Er hatte sich ein Laternchen, Licht und Streichhölzer mitgenommen. Um die Hüften hatte er sich ein Seil gebunden in der Annahme, er würde es brauchen können. Im Gürtel hing ihm ein großes, starkes, handfestes Krummesser. So ausgestattet, machte sich Turno auf den Weg.

Es war wahrlich kein Vergnügen, sich in stockfinsterer Nacht den Wind um die Ohren wehen zu lassen. Im Wald schlugen die dürren Zweige der entlaubten Bäume wie klappernde Knochen aneinander, aber jetzt konnte Turno es sich nicht leisten, Angst zu haben. Wer A sagt, muß auch B sagen. Das begonnene Unternehmen, sei es auch noch so ungemütlich, mußte ausgeführt werden. Als Turno nach beschwerlichem Wege endlich am Ziel war, blickte er zunächst wie alle andern mit einem Auge durchs Schlüsselloch. Die Nacht schien im Häuschen genau so finster zu sein als draußen. Turno probierte es mit dem andern Auge, doch dieses vermochte auch nicht mehr als sein Brüderchen zu erkennen. Es kam dem Turno vor, als habe er noch nie eine so pechschwarze 19 Nacht gesehen wie diese. Nur das Klimpern der Münzen klang ihm recht gemütlich und verführerisch in die Ohren. Da wird Geld gezählt, dachte sich Turno, und sicherlich wird es sich hier nicht nur um Rappen handeln, sondern um Franken, wenn nicht gar um Gold. Da begann Turno die Geldzähler um ihre angenehme Beschäftigung zu beneiden. Da er sich aber nicht traute die Tür aufzubrechen, ja, nicht einmal anzuklopfen wagte, schwang er sich geschickt auf das Dach des niedrigen Hauses und versuchte hier von oben durch den Schornstein zu blicken. Er bemerkte einen schwachen Lichtschein, der nur die Asche im Kamin erhellte. Das war wenig genug. Es läßt sich leicht denken, daß es auch sonst oben auf dem Dach, wo der Wind von allen Seiten wehte, alles andere als behaglich war; aber da er es ja nicht anders gewollt hat, kann man wenig Mitleid für ihn aufbringen. Oder geht es einem von euch etwa besser? Turno kauerte sich an einer Stelle des Schornsteins nieder, wo es ihm vorkam, als bliese der Wind nicht gar so grausam, und in dieser Position gedachte er abzuwarten. Er sagte sich: »Einmal werden die Geldzähler wohl auch müde und müssen zu Bett gehen, wie es bei ordentlichen Leuten üblich ist. Sobald dies geschehen ist und sie eingeschlafen sein werden, will ich mein Seil um den Schornstein schlingen, mich durch den Kamin hinabgleiten lassen, und dann werde ich mit dem Geldzählen an der Reihe sein. Es muß gewiß eine sehr hohe Summe sein, da die Zählerei kein Ende nehmen will. Nun, man muß auch warten können, wenn man es zu etwas bringen will.« 20

Turno wartete und wartete, fühlte sich allmählich trotz der großen Kälte schläfrig, und war schon nahe am Einnicken.

Da plötzlich wurde er von einem strahlendhellen Licht überrascht, das von unten aus dem Schornstein heraufstieg, und beinahe in derselben Minute erschien vor Turnos erstaunten Augen eine helle Gestalt, die er des strahlenden Lichtes wegen nicht gleich erkennen konnte. Alsbald jedoch sah er die Erscheinung in der Luft schweben. Turno, starr vor Verwunderung, hielt den Atem an. Oh, so etwas Schönes hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen! Ein Engel war es, ein wunderschöner Engel in einem schneeweißen Gewand, das aus Flor und Duft gewoben schien, während die großen Flügel vor lauter Licht in den zartesten Farben zu beben schienen. Da Turno, von diesem Anblick völlig benommen, dem herrlich schwebenden Engel nachsah, der sich in die Nacht verlor und doch die Nacht so freundlich erhellend, hatte er nicht bemerkt, wie in rascher Folge eine ganze Schar dieser wundersamen Lichtvögel aufgetaucht war, die in verschiedene Richtungen den Dörfern zuflogen. Ein unsagbar feines, melodienreiches Klingen und Singen drang an Turnos Ohr. Es war das Hosianna der Engel, das er vernahm.

Oh, sollte man nicht annehmen, daß Turno, nachdem er so etwas Liebliches hatte erblicken dürfen, sein bedenkliches Vorhaben nunmehr aufgeben würde? Leider, leider hatte Turno gar nicht daran gedacht, daß es die Christnacht war, die er sich für sein vorwitziges Tun ausgesucht hatte. Dies zwar nicht absichtlich, aber als er die Engel sah, fiel ihm 21 gleich die Heilige Nacht ein, in der das Christkind doch auch für Turno wie für alle Menschen einmal geboren wurde. Ja, es fiel ihm schon ein, doch verscheuchte er den Gedanken. Er wollte nicht den beschwerlichen Weg umsonst gemacht haben, wollte durchaus seine Neugierde, wo möglich auch seine Habsucht befriedigen. Er hörte nicht auf die Stimme des Gewissens, die zugleich die Stimme unseres Schutzengels ist. Wie gut wäre es gewesen, wenn er der leisen Mahnung gefolgt hätte. Er aber hörte nur auf die Verlockung des Bösen, das uns meistens viel einschmeichelnder und angenehmer klingt als das Gute, das sich nur schlicht äußert.

Nun aber, sehen wir zu, wie die Geschichte weitergeht. Kaum waren die Engel Turnos Blicken entschwunden, als er auch schon sein Seil am Schornstein festband, und bei seiner großen Geschicklichkeit war es ihm ein leichtes, in das Innere des Häuschens zu gelangen. Unten angekommen, zündete er sich zunächst sein Laternenlicht an und hielt Umschau. Er befand sich in einem erstaunlich großen Raum, dessen Weite und Breite in keinem Verhältnis zur Kleinheit des Hauses stand, wie man es von draußen sah. War das Haus nur eine Täuschung? War es nur ein Vorbau, der zu viel größeren Räumen führte? Im ersten Raum war nichts von Geld zu entdecken. Nirgends war ein Tisch oder ein Stuhl, nichts, was an eine menschliche Behausung erinnern konnte. Von der Decke herab hingen viele Eiszapfen, gleich Kristallen aneinandergereiht, doch konnte Turno nicht darüber ins klare kommen, ob dies natürliche Eiszapfen oder edle Steinkristalle waren. Der 22 kostbare Schimmer jedoch verwirrte ihn, und ein starkes Verlangen nach Reichtum und Glanz stieg in seiner Seele auf. Dennoch versagte er sich, einen der Kristalle zu berühren, obwohl er die Herrlichkeit mit seinen Händen hätte erreichen können.

Da er zunächst die Räume zu erforschen gedachte, öffnete er eine Tür, durch die er in die eigentliche Höhle des Berges gelangte. Er durchschritt einen schönen, hell erleuchteten Saal, und es ließ sich nicht feststellen, woher das Licht kam. Weil der Saal vollkommen leer war, hielt Turno sich hier nicht auf, sondern ging weiter, durch eine zweite Tür hindurch und kam in einen Saal, der noch heller war als der vorige. Und hier nun sah Turno auf einem Throne jenen Greis in tiefem Schlafe sitzend, der seinerzeit den seltsamen Zug von Montecornioli angeführt hatte. Turno begann an allen Gliedern zu zittern. Er befürchtete, der alte Mann könne erwachen und ihn, Turno, als einen frechen Eindringling zur Rede stellen. Turno zog daher seine Schuhe aus, um beim Gehen nur ja kein Geräusch zu verursachen. Er bemühte sich sogar, auf den Zehenspitzen zu gehen, schlich sich zu den vielen Truhen, die nebeneinander nahe den Wänden aufgestellt waren. Jede Truhe hatte einen mit schmalen Goldleisten eingefaßten Glasdeckel, so daß Turno schon von außen sehen konnte, was ungefähr die Truhen an Schätzen bergen mochten. Das war natürlich sehr angenehm, daß man sofort Überblick hatte, doch war diese Einrichtung nicht etwa Turnos wegen angebracht worden, aber das hätte ich wohl kaum zu sagen brauchen. Ja, hier krimmelte und wimmelte es nur so von Glanz und 23 Geschmeide, und Turno mit seinen einzigen zwei Augen hatte wahrhaftig genug zu tun, diesen schier unmenschlichen Reichtum, der hier aufgestapelt war, zu bewältigen. Mein Gott, was war da alles beisammen! Die Damen von zwanzig königlichen Hochzeiten hätten sich mit diesem Schmuck zieren können und hätten dann immer noch zuviel gehabt. Da gab's Broschen mit köstlichen Steinen, die in sämtlichen Regenbogenfarben leuchteten, Ringe mit Steinen, die wie Blitze funkelten. Edelsteine, die wie Sonnen strahlten, Sonnen von unermeßlichem Werte. Halsbänder aus Türkisen und Korallen, Armbänder, die an das reine Licht des Mondes erinnerten, Perlen, die wie Tautropfen auf Blumen in der Frühsonne schimmern, kurzum, es war unbeschreiblich schön, und was die Fülle der Kleinodien anbetraf, war gar kein Ende abzusehen. Zwei Truhen erregten die besondere Aufmerksamkeit Turnos. Die eine war mit nußgroßen Saphiren ausgelegt. An der Innenwand war in geschliffenen Türkisen der Name »Salomo« zu lesen. Auf dem Boden der Truhe lag auf dunkelrotem Sammetkissen ein Zepter aus edelstem Golde und mit den herrlichsten Edelsteinen besetzt. In der andern Truhe lag auf rosafarbenem Sammetkissen eine märchenhaft schöne Goldkrone, deren sieben hohe Zacken mit Smaragden besetzt waren. Turno stand wie geblendet vor diesem Traum von Schönheit.

Er hatte von frühester Kindheit an ein recht ärmliches Leben geführt. Er hatte, wie dies ja bei Bergbewohnern oftmals vorkommt, auch schon Hunger gelitten. Und jetzt sah der arme Bursche so viele Kostbarkeiten hier ausgebreitet, von denen vielleicht 24 der Erlös eines Armbandes genügt hätte, um zeitlebens niemals Not zu leiden. Wenn man nur ein paar Stücke zu Geld machen könnte, so dachte Turno, wie viele arme Menschen würde man beglücken können! Turno warf einen scheuen Blick auf den schlafenden Greis, der indessen nicht im entferntesten ans Erwachen zu denken schien. Gestorben war er jedenfalls nicht, denn Turno vernahm seine tiefen, regelmäßigen Atemzüge. Da überlegte Turno es sich nicht länger, ging zu einer der Truhen, hob mühelos den Deckel empor und griff eine Handvoll Edelsteine heraus, die er in die Tasche gleiten ließ. Dann überlegte er sich, ob er noch einen zweiten Griff wagen solle, ließ es aber bei dem einen bewenden, und so ging er bei seinem Diebstahl wenigstens mit einer gewissen Bescheidenheit vor.

So, jetzt würde alle Not mit einem Schlage ihr Ende erreicht haben. Die Mutter konnte von nun an in Samt und Seide gehn, konnte einen Federhut tragen, wenn sie Verlangen danach trug, aber wir werden später sehen, ob Turnos Mutter Lust auf Federhüte und Sammetkleider hatte, die noch dazu von gestohlenem Gut herrührten. Ein paar himmelblaue Steine an einer feinen Goldkette machten Turno den Eindruck, als hätten sie nichts dagegen, mitgenommen zu werden, und drum ließ er diese, und noch ein paar Goldringe dazu, in die andere Tasche gleiten. Vielleicht, man möchte es hoffen, geschah dies weniger aus Habsucht, als um das richtige Gleichgewicht auf beiden Seiten herzustellen. Dann aber verließ Turno, etwas rascher, als er gekommen war, den Saal, den tüchtigen 25 Wächter in tiefem Schlafe zurücklassend. Da gab's natürlich kein Lebewohl und Auf Wiedersehn.

Kaum war Turno auf dem Dache angelangt, als er in der Luft abermals die vielen Engel schweben sah, aber ihr zartes »Hosianna« ging ihm diesmal sehr zu Herzen. Die Engel bewegten sich fliegend auf das Häuschen zu, und am liebsten hätte Turno die geraubten Sachen wieder an Ort und Stelle gebracht. Schon begann er seine Tat zu bereuen, doch hielt ihn eine falsche Scham zurück, das Unrecht wiedergutzumachen. Er fürchtete, die Engel könnten ihn auf dem Dache bemerken, und als er das Rauschen der Flügel vernahm, sprang er eilends hinab. Er stolperte beim Hinabspringen, fiel, stand auf und fiel abermals. Er spürte eine Schwäche in den Gliedern, als sei er schwerkrank. Seine Schuhe hatte er im Saal der Kostbarkeiten vergessen, und so mußte er auf den Socken den Heimweg antreten. Eisigkalt war es ihm an den Füßen, aber noch kälter im bedrängten Herzen. Mehr tot als lebendig kam er nach drei Uhr in der Nacht daheim an. Die Mutter hatte indessen keinen rechten Schlaf finden können, weil sie in großer Sorge um ihren Sohn war. Da sie, als sie ihn kommen hörte, ihn im Hausflur empfing, fiel ihr zwar nicht auf, daß er keine Schuhe an den Füßen trug, doch sah sie beim matten Schein des Kerzenlichtes sein verstörtes Gesicht.

»Turno, sag mir einmal, wo du heute nacht gewesen bist«, fragte die Mutter in strengem Ton.

»In der heiligen Messe«, entgegnete Turno kurz.

»Daß du nicht die Wahrheit sagst, wirst du selbst am besten wissen«, erwiderte die Mutter. 26

»Ich weiß nur, daß ich müde bin und schlafen muß. Laß mich in Ruh', Mutter. Gute Nacht.«

»Ja, gute Nacht, sehr gute Nacht sogar, und guten Morgen wird man dir auch gleich wünschen können.«

Darauf antwortete Turno nicht, sondern ging sofort in seine Kammer, wo er das Licht anzündete. Dann machte er sich daran, im Winkel des Zimmers einen Ziegelstein aus dem Fußboden herauszuheben, unter dem er die geraubten Kostbarkeiten verbarg. Nachdem er dies mit viel Mühe vollbracht hatte, legte er sich ins Bett. Er war zwar todmüde von der großen Anstrengung, doch ließ ihn sein unruhiges Gewissen trotzdem nicht schlafen. Einmal sagte er sich: »Ich habe eine schlechte Tat begangen«, dann wieder war eine Stimme in ihm, die ihm beschwichtigend vorgaukelte: »Nein, das ist gar nicht schlimm, was du gemacht hast. Man wird kaum merken, daß ein paar Steine fehlen, und du kannst sie brauchen. Kauf dir nur gleich nach Weihnachten ein paar flotte Schuhe, einen hellgrauen Anzug, einen eleganten Kalabreserhut und ein buntes Seidenhalstuch. Aber vorher muß du nach Florenz gehen, um ein paar Steine zu verkaufen. Sollst mal sehen, was du für einen Haufen Geld dafür einlösen wirst.« Mit solchen Gedanken schlief er endlich ein. Im Traume aber erschienen ihm die Engel, die ihn tiefbetrübt und vorwurfsvoll ansahen.

Ihr werdet wahrscheinlich erraten können, wer am nächsten Morgen in der Kirche von Montecornioli bei keiner Messe anzutreffen war, und wer sich bis zum Nachmittag überhaupt nicht entschließen konnte, sich im Dorfe blicken zu lassen. Sollte euch das Raten 27 schwerfallen, kann ich noch hinzufügen, daß der Betreffende keine Schuhe an den Füßen hatte, sondern am ersten Feiertag in ziemlich ausgetretenen Zoccoli (Holzpantoffeln) spazierengehen mußte. Ja, ganz recht, das war kein anderer als unser Turno, der abermals heimlich das Haus verließ, da seine Mutter sich in die Vesper begeben hatte. Sie ahnte schon, daß mit ihrem Jungen etwas Besonderes los war, doch wollte sie ihm Zeit lassen, sich auf das Rechte zu besinnen. Sie hoffte, er würde von selbst zu ihr kommen, ihr anvertrauen, wenn er etwas Schlimmes angerichtet haben sollte.

Als Turno im Begriff stand, einen Gang ins Freie zu unternehmen, begegneten ihm ein paar Kinder, die sich über das Weihnachtsfest unterhielten. Er hörte, wie sie einander erzählten, es seien in allen Häusern Engel dagewesen, die besonders den Armen reichliche Geschenke gebracht hätten. Die Engel seien von oben, vom Berge herab, gekommen, aus der Gegend, wo das Wunderhäuschen stünde. Da wußte Turno genug. Er ging schnurstracks dem Walde zu, um nur keinem Menschen zu begegnen. Oh, wie er sich schämte! Er hatte sich an den Gaben, die für die Armen bestimmt waren, vergriffen, und das tat ihm sehr leid. Wie war es nur möglich, diese böse Tat wiedergutzumachen? Und in welch üblen Ruf würde die arme Mutter kommen, wenn sein abscheuliches Unrecht bekannt wurde? Turno wagte gar nicht, sich das auszudenken, und fühlte sich doch gezwungen dazu. Bis gegen Mitternacht irrte er im Walde umher, ohne auch nur Hunger oder Durst zu empfinden. 28

Da er sich endlich entschloß, nach Hause zu gehen, hörte er plötzlich über sich in den Bäumen ein Rauschen wie von Flügeln. Er blickte hinauf und erstarrte fast vor Schreck, als eine ungeheuer große Fledermaus mit feurigen Augen ihm erschien und ihn ansprach: »Höre, Turno, du hast dem Teufel einen großen Dienst erwiesen, indem du die Juwelen und das Gold aus dem Häuschen gestohlen hast. Wisse denn, daß es sich um den Schatz des Königs Salomo und den der Königin von Saba handelt, unermeßliche Schätze, die bei der Zerstörung Jerusalems durch Engel und fromme Menschen gerettet worden und in Sicherheit nach Montecornioli gebracht worden sind. Die Engel durften frei über die Kostbarkeiten verfügen, doch nur unter der Bedingung, daß nichts davon entwendet wird. Nun aber, da du dieses getan hast, und die Engel auf keinen Fall mehr nach Montecornioli zurückkehren können, will der Feind alles Guten dich hoch belohnen. Der Teufel selbst gestattet dir, nach Belieben in die Höhle zurückzukehren und dir anzueignen, was immer dir zu nehmen gefallen wird. Sogar das Zepter des Königs Salomo und die Krone der Königin von Saba soll dein eigen sein, wenn du fortan nur dem Bösen treu bleiben wirst.«

»Nein! Nein! Nein!« So schrie Turno laut auf, sank in die Knie und machte das Segenszeichen des Kreuzes, worauf das Ungetüm von Fledermaus, wie vom Blitz getroffen, auf die Erde fiel, die sich sofort öffnete, so daß ein tiefes Loch entstand, in dem die Fledermaus spurlos verschwand, während das tiefe Loch noch heutigentags zu sehen ist, und 29 jedermann, der hier vorbeigeht, gibt acht, daß er nicht hineinfällt.

Als Turno zu seiner Mutter kam, war diese über sein elendes Aussehen so erschrocken, daß sie tiefes Mitleid mit ihrem Sohne empfand. Er indessen war nicht fähig, auf ihre teilnehmenden Fragen zu antworten. Er war offensichtlich schwer erkrankt. Verwirrt und fiebernd mußte er sich ins Bett legen. Die Mutter ließ sogleich den Arzt rufen. Der aber konnte ihm nicht helfen, denn der Körper war nur krank, weil vor allem Turnos Seele krank war. Doch wurde dies nicht sogleich erkannt, und so blieb der arme Turno wochenlang ohne Hilfe, nur von seiner Mutter treu gepflegt.

In dieser Zeit soll man auf dem Gipfel von Montecornioli zwei Dämonen gesehen haben, die als beflügelte Ungeheuer jeden Abend und wahrscheinlich die ganze Nacht hindurch ihr Wesen getrieben haben. Wer sich in die Nähe des Wunderhäuschens wagte, wurde durch einen widrigen Schwefelgeruch beinahe erstickt. Es ließ sich kaum mehr atmen in dieser Gegend. Die Kunde von der Erscheinung der Dämonen wurde dem Abte von Camaldoli, dem frommen Romuald, gebracht, der gemeinsam mit einigen Mönchen sich an den verrufenen Ort begab, um durch Aussegnung der ganzen Gegend den Bösen Geist zu bannen. Doch alles Segnen half leider nicht viel. Es wurden Fasten und Gebete der ganzen Gemeinde auferlegt, was für die Leute eine gute Übung war, aber die Dämonen ließen sich dadurch nicht verscheuchen.

Turno lag so schwer krank, daß die Mutter ihn am Ende seines Lebens glaubte. Sie ließ daher einen 30 Priester kommen, der ihn durch eine gute Beichte und durch die heilige Kommunion mit dem lieben Gott versöhnen sollte. Es war ein Bruder aus dem Kloster von Camaldoli, der die Gnadengabe besaß, sofort den Zustand Turnos zu erkennen. Kaum hatte Turno eine reumütige Beichte abgelegt und das geraubte Gut unter die Armen verteilt, als er auch schon völlig gesund wurde. Danach soll er eine Pilgerfahrt nach Verna gemacht haben, wo er drei Tage über unablässig im Gebete verblieb. Ferner, so erzählt man, soll er die Madonna von San Fedele besucht und danach noch einen Bußgang nach Camaldoli unternommen haben. Hier, im Kloster von Camaldoli, ist er als Laienbruder aufgenommen worden, und als solcher hat er sein ferneres Leben in großer Frömmigkeit verbracht. Einen Teil der Juwelen legte Turno zu Füßen des Altares bei der Gottesmutter von San Fedele nieder. Das Halsband und das Diadem, das Unsere Liebe Frau an hohen Festtagen schmückt, soll aus dem Schatze jenes sagenhaften Wunderhäuschens stammen. Die Dämonen hat man seit jener Zeit nie wieder gesehen, aber leider die lieben Engel auch nicht mehr, und darum sieht es auch jetzt mit den Weihnachtsgeschenken recht dürftig aus.

»Schade, wie schade!« seufzten die Kinder im Kaminwinkel, die der Erzählung gelauscht hatten.

»Ja, das ist wirklich schade«, gab die Nonna zu, »es wird sicherlich den Engeln selbst leid tun, daß sie nicht mehr kommen dürfen.«

»Sie können doch auch ohne Geschenke kommen«, meinte Michael. »Wenn ein kleiner Engel kommt, 31 der noch spielen mag, darf ich ihm dann meinen Ball schenken? Weil doch Weihnachten ist. Ich habe zwei Bälle. Darf ich wohl einen weggeben, Nonna?«

»Gewiß, mein Liebling, aber gib ihn nur dem Nachbarskind, dem kleinen Tittino. Dann freut sich der Engel noch mehr, als wenn er ihn selbst bekäme.«

Nicola, ein pfiffiges Bürschlein von zehn Jahren, ergriff das Wort: »Nonna, du erzählst schon gut, aber ich kann doch nicht recht an deine Geschichte glauben.«

»Ich glaube auch nicht daran«, erklärte Francesca, ein fünfjähriges Mädelchen, das auf dem rechten Knie des Onkels Cecco saß, während Michael sich auf dem linken placiert hatte.

»Warum glaubt ihr denn nicht an die Geschichte? Erzählt uns das doch einmal, warum nicht?« forschte Cecco.

»Die Engel hätten es sich einfach nicht gefallen lassen dürfen, daß die braven Kinder des schlimmen Turnos wegen nichts zu Weihnachten bekommen.«

»Ja, es ist wahr. Und jetzt sind wir das ganze Jahr artig und nicht ein einziger Engel beschenkt uns dafür.« Das war Nicolas Meinung. »So, so ist das also?« scherzte Cecco, »das wußte ich gar nicht, daß das Bravsein bezahlt werden muß. Das könnte für Papa und Mama eine kostspielige Angelegenheit werden, und die ganz armen Eltern, die nur Brot, Milch und Polenta haben, wären ja sehr zu bedauern, wenn sie auch noch das Geld fürs Bravsein der Kinder aufzubringen hätten.«

»So meinen wir das nicht. Nein, ganz so nicht. Aber ein kleines bißchen muß das Bravsein doch bezahlt werden. Es ist auch anstrengend, manchmal.« 32

»Freilich. Und gib nur acht, daß es nicht deine Kräfte übersteigt.« Alle lachten.

Dann kam die Rede auf die Dämonen, an die zu glauben die Kinder auch wenig Lust bezeigten. Die schon dreizehnjährige Julia erklärte: »Man erzählt schöne Geschichten zur Unterhaltung und zur Belehrung. Es muß nicht alles buchstäblich wahr sein. Mit den Dämonen ist auch nur das Böse gemeint, das im Menschen sein kann, und wenn er die Dämonen vor sich zu sehen glaubt, ist es vielleicht nur eine Warnung, besser auf sich achtzugeben. Wenn man betet und nichts Böses tut, geben die Engel schon acht, daß keine Dämonen kommen, nicht wahr, Nonna?«

»So ist es, Kinder. Die Engel sind um uns, auch wenn wir sie nicht sehen.«

»Gut, daß die Engel da sind«, riefen die Kinder, und in diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet und die Familie kam aus der Kirche zurück.

Jede der Mütter hatte für jedes der Kinder ein Häuflein Anisplätzchen mitgebracht.

»Seht da unsere Engel«, rief Julia mit ihrer fröhlichen Stimme, indem sie ihre Mama dankbar umarmte.

»Und dies hier ist mein Engel«, jubelte der kleine Michael, sich glücklich an sein Mütterchen schmiegend, das ihrem Liebling einen Kuß gab und ihm gleich danach ein Anisplätzchen in den Mund schob.

Man saß noch ein Weilchen, sich am Feuer wärmend, plaudernd um den Kamin, den traulichen Frieden des Hauses genießend. Dann ging groß und klein schlafen, und die Kinder mögen geträumt haben von Engeln mit und ohne Flügel. 33

 


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