Emmy Ball-Hennings
Märchen am Kamin
Emmy Ball-Hennings

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Die Geschichte vom Prinzen Pettirosso

Am nächsten Tag fühlte die Großmutter sich wieder so wohl, daß sie wie sonst ihren gewohnten Platz am Kamin einnahm. Obwohl sie dankbar für die zärtliche Fürsorge ihrer Kinder war, sah sie es gleichwohl nicht gern, wenn man sich allzusehr um sie bekümmerte. So war es ihr auch gar nicht recht, daß man den Arzt für sie hatte rufen lassen. Das Kranksein bedeutete für sie eine Niederlage, die sie nie eingestehen wollte, als wäre es eine Art Schande, krank zu sein. Weil sie durchaus gesund sein wollte, war sie es auch, und kam es einmal vor, daß sie einige Tage lang das Bett hüten mußte, siegte ihr starker Wille ungewöhnlich rasch über die körperliche Schwäche. Am Abend nach dem früh eingenommenen Nachtmahl dachte sie nicht daran, schlafen zu gehen, sondern setzte sich mit ihrem Strickzeug in den Kaminwinkel, während die Frauen das Geschirr abwuschen und wegräumten.

Auch Vezzosa hatte sich wieder eingefunden, obwohl ihre Mutter sie lieber daheim wünschte. Vezzosa dagegen fühlte sich bei den Maruccis wohler, weil ihre Mutter sie zu einer Heirat mit einem reichen Bauernsohne drängen wollte, während in Vezzosas Herzen eine zarte Neigung für Cecco zu erblühen 153 begann, die sie sich freilich noch kaum einzugestehen wagte. Sie hatten als Kinder zusammen die nämliche Schule besucht, hatten miteinander gespielt, und nun merkten diese beiden jungen Menschen es noch nicht, daß ihre holde Kinderfreundschaft im Begriff stand, sich in eine tiefe, reine Liebe zu verwandeln, die für das ganze Leben dauern sollte.

Als Cecco seine Mutter so gar eifrig stricken sah, fragte er sie: »Mütterchen, bist du nicht müde? Willst du dich nicht lieber zur Ruhe begeben?«

Sie ließ die Arbeit für eine Weile in den Schoß sinken, sah ihren Sohn innig an und sagte dann: »Ach nein, ich mag noch nicht schlafen gehen. Es scheint mir wie ein Raub am Leben selbst zu sein, wenn man sich zu Bette legt, ohne wirklich müde zu sein, und ich bin doch so gern mit euch beisammen, solange der liebe Gott es mir erlaubt.«

Vezzosa warf einen kleinen Blick auf Cecco, der seine leuchtenden Augen der Mutter zuwandte. Er setzte sich auf die Kaminbank neben sie, nahm ihre Hand in seine und sagte: »Ach, Mütterchen, du sprichst wie ein Kind. Kinder sind es, die am Abend nicht schlafen gehen mögen, weil ihnen der Tag so gut gefällt, das ganze Dasein. Du aber hast uns Kindern doch den Tag gegeben, Mutter. Du bist doch wie das liebe Brot, das wir nicht entbehren können. Weißt du das nicht?«

Wie gut fühlte sich die Hand des Sohnes in der ihrigen. Wie geborgen fühlte sich die alte Frau in der Liebe ihres Kindes, das so groß und stark war. In Wahrheit stand es mit der Gesundheit der Mutter sogar recht schwach, doch war dies infolge ihres 154 hohen Alters eine durchaus natürliche Schwäche, die man nicht als Krankheit bezeichnen konnte. Da sie aber mit einer gewissen Schüchternheit ihren Cecco anblickte, als fürchte sie, ihn bald zu verlieren, kam ihm in diesem Augenblick derselbe Gedanke. Eine Mutter ist wie die Luft, ohne die man nicht leben kann, und ewig wird sie da sein, auch wenn man sie nicht sieht. Dies bedachte Cecco und war glücklich, die liebe Hand, die ihn als Kind geführt, halten zu dürfen. Es war, als spüre Vezzosa etwas von diesem schönen, tiefen Strom der Liebe zwischen Mutter und Sohn. Wie schön war es zu sehen, wie innig Cecco seiner Mutter zugetan war. Die andern, die still in der großen Küche aufräumten, hatten die kleine Szene, die so in aller Stille zwischen Mutter und Sohn sich abspielte, kaum beachtet, während Vezzosa dachte: Welch ein guter Mensch doch dieser Cecco ist!

Dann kamen die Kinder von oben die Treppe heruntergetrappelt. Sie hatten ihre Schulaufgaben gemacht und stellten sich jetzt zur abendlichen Märchenstunde am Kamin ein.

Vezzosa holte das Kohlenbecken, nahm aus dem Kamin ein paar Schaufeln der schönen Glut und stellte das Becken nahe der Regina, falls sie sich die Füße oder Hände ein wenig wärmen wolle. Schon wollte die Regina Einspruch erheben. Da sie aber bemerkte, daß Cecco dem Mädchen dankbar zulächelte, schloß sie für eine Weile ihre Augen, als dächte sie über etwas nach, und sagte dann leise zu Vezzosa: »Das ist lieb von dir, mein Kind. Danke schön.« 155

Dann fragten die Kinder mit ihren frischen Stimmen: »Und wer wird heute abend erzählen?«

Eine kleine Weile blieb es still in der Runde, und die ganze Familie schien wie in tiefes Nachdenken versunken zu sein. Dann aber ergriff plötzlich die Regina das Wort:

»Ich glaube, Vezzosa wird uns heute abend eine Geschichte erzählen, und ich muß gestehen, daß ich selbst große Lust hätte, ihr einmal zuzuhören.«

Alle blickten auf Vezzosa. Sie aber sprach: »Regina, ich glaube, ich werde niemals so schön erzählen können, wie Ihr es versteht, und ich sollte dieses wohl Euch überlassen, wenn Ihr da seid.«

»O nein, keineswegs. Du wirst vielleicht anders erzählen als ich, doch sicherlich ebenso schön. Beginne nur.«

»Ja, wenn Ihr das meint, will ich die Fortsetzung zu meiner gestrigen Geschichte erzählen.«

Die Geschichte vom Prinzen Pettirosso

aus »Chi vuole Fiabe?«, neu erzählt.

Ihr kennt wohl das Sprichwort: »Alles kann der Mensch ertragen, nur nicht eine Reihe von guten Tagen.« Das will besagen, daß die Menschen leicht übermütig und launisch werden, wenn es ihnen zu gut geht, was freilich nicht gar oft vorkommen mag. Jene Dame, von der mein Märchen handelt, hatte von morgens bis abends nichts zu tun, hatte auch keine Lust zum Arbeiten. Wohl aber nörgelte sie viel an ihren Untergebenen herum. Niemand konnte es ihr recht machen. Sie schien sich und anderen nicht zur Freude auf der Welt dazusein, sondern nur, um schlechte Laune zu verbreiten. Schlimm genug war 156 es, daß sie sich das leisten konnte, aber sie war eine reiche Fürstin, und ihr Mann, der Fürst, konnte ihr jeden Wunsch erfüllen. Hätte sie sich wenigstens etwas Vernünftiges gewünscht, etwa arme Waisenkinder erziehen lassen, oder eine gute Schule für unbemittelte und begabte junge Menschen errichten, oder dergleichen. Doch hat es wenig Sinn, daß wir uns ausdenken, wie sie es hätte machen können, und leider hat die Fürstin uns nicht um Rat gefragt. Der Fürst war eine Spur vernünftiger, war hilfsbereit den Bedürftigen gegenüber und tat niemandem etwas zuleide, doch war er seiner schönen Frau gegenüber von zu großer Nachgiebigkeit.

Die Fürstin gärtnerte freilich ein bißchen zum Zeitvertreib, doch verstand sie nichts davon, weil sie nicht wußte, was Kraut und Unkraut ist. Da war zum Beispiel ein Busch, der nicht besonders edel war und den die Fürstin mit großer Sorgfalt pflegte, obwohl der Busch auf Pflege gar nicht angewiesen war. Von diesem Busch durfte der Gärtner kaum ein welkes Blättchen abnehmen, und drum ließ der Gärtner denn auch den Busch Busch sein, kümmerte sich um nichts. Eines Tages siedelte sich ein Vogelpaar hier an, und als die Fürstin es bemerkte, ließ sie den Gärtner zu sich kommen, er müsse das Vogelnest fortschaffen. Der Gärtner, der ein großer Vogelfreund war, gehorchte höchst ungern. Es tat ihm leid, die Vögel in ihrer hübschen Arbeit zu stören, denn das Nest war nahezu fertig. Der Gärtner bemühte sich, sorglich das kleine Nest auszuheben, und trug es vorsichtig in ein anderes Gebüsch, hoffend, das Vogelpaar würde mit dem Ortswechsel einverstanden sein. 157

Am nächsten Morgen jedoch waren die Vögel am Werk, wieder umzuziehen und sich am selbstgewählten Ort anzubauen, und zwar in jenem Busch, den die Fürstin für so wertvoll hielt. »Ihr armen Vögel, es tut mir ja leid um euch, aber die Fürstin will euch in ihrem Busch nicht haben. Geht doch anderswohin.« Die Vögel verstanden nicht, was der Gärtner sagte, piepsten aber so ängstlich, als wären sie dem Weinen nahe. Die Vögel wollen eben nicht gestört sein, wenn sie ihre Nester bauen. Am Abend war das Nest im fürstlichen Busch fix und fertig, es zwitscherte vergnügt darin, und der Gärtner hatte nicht das Herz, die Tierchen nochmals zu beunruhigen. Am nächsten Morgen fand die Fürstin auf ihrem Spaziergang das Nest und stellte den Gärtner zur Rede.

»Fürstin, habt gütigst ein Einsehen. Laßt die Vögel, wo sie sind. Sie sind im Begriff, Eier zu legen. Gönnt ihnen die Ruhe.«

»Hier geschieht, was ich will, und nicht, was die Vögel wollen«, sagte die launische Fürstin. »Bringe mir morgen die Eier, ich dulde kein Vogelnest in meinem Busch.«

Der Gärtner sagte: »Fürstin, ich nehme keinem Vogel die Eier fort, denn es wäre eine Sünde, die ich nicht begehen will.«

»Dann geh deiner Wege. Du bist entlassen.«

Als der Fürst davon hörte, gab er seiner Frau die besten Worte, sie möge doch Vernunft annehmen, die Vögel unbehelligt lassen und sich beim braven Gärtner entschuldigen.

»Das fehlte noch«, sagte die Fürstin und war jetzt auch mit ihrem Mann böse. 158

Am nächsten Morgen ging sie schon in aller Frühe zum Nest, scheuchte die Vögel weg und nahm ihnen drei kleine Eier fort. Dann ging sie in die Küche, zerbrach die Eier mit eigener Hand, tat die Eier in einen Tiegel und briet einen Eierkuchen, den die Katze essen sollte. Das Kätzchen aber wollte den Eierkuchen nicht essen und miaute so kläglich, daß der Fürst herbeigeeilt kam und fragte, warum das Kätzlein so kläglich miaue.

»Es will den Eierkuchen nicht essen, und ich habe sogar geriebenen Käse und Weißmehl daran getan. Komm, Kätzchen, komm doch.« Das Kätzchen sprang auf den Schoß des Fürsten, darüber wurde die Frau eifersüchtig, denn es war ihre Lieblingskatze.

»Du siehst doch, das Tier hat keinen Hunger. Laß es doch in Frieden.«

»Hunger oder nicht, aber ich hab' doch den Eierkuchen eigens für die Katze gebacken.«

»Nun ja, es kommt ja auf einen Eierkuchen mehr oder weniger nicht an. Du siehst doch, das Tierchen will nicht.«

»Es will nicht? Es muß. Komm her, du mußt, du mußt essen.« Mit diesen Worten nahm die Fürstin das Kätzchen, das sich sträubte, und stupste ihm das Näschen in den Napf, so daß es gezwungen wurde zu essen. Es verging aber keine halbe Stunde, als das Kätzchen sich streckte und tot dalag. Der Fürst war sehr ungehalten über seine Frau und machte ihr so viele Vorwürfe, daß sie ohne Nachtmahl schlafen ging.

Am nächsten Morgen aber kam sie verstört zu ihrem Manne und klagte, sie habe einen schweren Traum 159 gehabt, den er ihr deuten müsse. Er hatte nicht allzuviel Mitleid mit der Frau und sagte nur: »Wenn du dich besser aufführen würdest, hättest du keine schweren Träume. Ich will nicht wissen, was du geträumt hast, aber vielleicht kann dir der Traum eine Warnung sein.«

»Nein, du mußt mich anhören, denn ich glaube, dieser Traum hat eine ganz besondere Bedeutung. Es hing mir ein Pfännchen am Hals, das so schwer war, daß es mir den Atem benahm. Ich konnte das Pfännchen nicht vom Halse lösen, und während ich so stand, kam ein Regen von Federn auf mich herab. Ich glaube, es waren die Federn von Rotkehlchen.«

»Sehr behaglich mag der Traum nicht gewesen sein. Du wirst an die armen Vögel gedacht haben, die jetzt nicht brüten können, weil du ihnen die Eier weggenommen hast, und das Pfännchen wird dasselbe sein, in dem du den Kuchen gebacken hast.«

»Du bist kein guter Traumdeuter.«

»Ich habe auch nicht den Ehrgeiz, es sein zu wollen. Wenn du willst, nimm an, daß Träume Schäume sind.«

»Schlimme Schäume. Du mußt einen Traumdeuter kommen lassen. Ich fühle mich krank.«

Da ließ der Fürst verschiedene kluge Männer kommen, die in Büchern blätterten, in denen geschrieben stand, was die Träume bedeuten. Der eine sagte dies, der andere sagte das, und da sie nicht miteinander übereinstimmten, glaubte die Fürstin keinem und beschloß, einen großen, berühmten Magier zu befragen. Sie schrieb den Traum auf und schickte damit einen Diener zum Magier. Der aber schickte den Diener 160 zurück und ließ sagen, die Träumerin möge sich persönlich zu ihm bemühen. Es war aber eine sehr weite Reise, und der Magier hatte noch verlangt, daß die Fürstin zu Fuß komme.

Der Fürst sagte: »Tue Gutes und du wirst den Traum vergessen.«

Die Fürstin sagte: »Tue Gutes und begleite mich zum Magier.«

Da blieb dem Fürsten nichts anderes übrig, da er seine Frau liebte und sie gerne geheilt sehen wollte.

Es war ein mühsamer Weg, den die beiden zu machen hatten, und der Fürst wurde mitten im Walde so müde, daß er nicht weitergehen konnte. Die Fürstin aber, die es vor Ungeduld kaum aushielt, trieb ihn immer wieder vorwärts.

»Ruhen wir doch ein wenig«, bat er. »Nein, nein, wir müssen uns beeilen«, hetzte die Fürstin, »ich muß wissen, was mein Traum bedeutet.«

Endlich kamen sie an das Haus des Magiers. Der Fürst war so erschöpft, daß er nicht mehr imstande war, an die Tür zu klopfen. Er fühlte sich sterbenselend und konnte sich kaum denken, daß dies nur eine natürliche Müdigkeit nach der Fußreise war.

Kaum waren sie im Hause, als der Fürst darum bat, sich ein wenig hinlegen zu dürfen, was ihm freundlich gewährt wurde.

Der Magier war ein guter, alter Herr, der sich vor allem sehr besorgt um den Fürsten zeigte und ihm sofort eine Erfrischung bringen ließ. Dann fragte er die Fürstin, ob nicht auch sie sich erst ausruhen wolle. »Nein, nein, auf keinen Fall. Wenn Eure Zeit es gestattet, habt die Güte, mir meinen Traum zu deuten.« 161

Darauf bat der Magier sie, in ein stilles Zimmer mit ihm zu kommen, und nachdem beide Platz genommen hatten, sprach er zur Fürstin: »Euer Traum ist nicht schwer zu deuten. Der kleine Eierkuchen wird Euch teuer zu stehen kommen, fürchte ich. Wißt Ihr nicht, daß das Nest eines Vogels eine heilige Sache ist? Würdet Ihr einer jungen Mutter das Kind von der Brust nehmen?«

»O nein, was denkt Ihr auch von mir? Wie könnt Ihr mich so etwas fragen?«

»Ihr habt aber etwas Ähnliches begangen, und auch ein Vogel ist Gottes Geschöpf genau so gut als der Mensch. Ihr seid sehr grausam gewesen, und Ihr müßt Eure Tat bereuen und wiedergutmachen. Ihr müßt viel Gutes tun, um die Häßlichkeit, die Ihr begangen habt, zu sühnen. Ich würde Euch empfehlen, im Winter den Vögeln Futter zu streuen. Vor allem aber müßt Ihr die Vogelnester in Ruhe lassen. Wenn Ihr schon nichts Gutes tut, tut wenigstens nichts Böses. Vielleicht vermag dies schon Euer Gewissen zu beschwichtigen.«

Die Fürstin war beleidigt und sagte schnippisch: »Ist das alles, was Ihr mir zu sagen habt?«

»Das ist alles.«

»Und was bin ich für Eure Traumdeutung schuldig?«

»Ihr schuldet mir nichts. Doch wenn Ihr meinen Rat befolgt, wird es mich freuen.«

Nach dieser Unterredung kehrte das Ehepaar wieder nach Hause zurück. Der Fürst jedoch erkrankte wenige Tage später, und kaum war eine Woche verflossen, als er auch schon starb. Die Frau nahm sich den Tod des guten Mannes wenig zu 162 Herzen, während die Dienerschaft ihn sehr beklagte. Nun hätte man doch annehmen mögen, sie würde wenigstens fortan die kleinen Singvögel im Park in Ruhe lassen, die ihr doch nicht das mindeste zuleide taten. Sie stellte für Geld Knaben an, die roh genug waren, mit der Schleuder die zierlichen Sänger zu schrecken und zu töten. Eines Tages nun stand die böse Fürstin selbst im Begriff, ein Vogelnest auszuheben in dem die Jungen ängstlich nach den Eltern riefen. Da stand plötzlich hochaufgerichtet eine fremde Frau vor der Fürstin, diese mit flammenden, drohenden Blicken betrachtend.

»Du wirst kein Vogelnest mehr ausheben, denn ich bin die Schutzfee der Vögel, die nicht zulassen wird, daß den unschuldigen Geschöpfen Böses zugefügt wird. Weil du dich nicht gebessert hast, wird dein einziges Kind, das du bald bekommen wirst, in ein Rotkehlchen verwandelt werden. Dein Sohn wird ein Vogel bleiben, bis ein Mädchen kommen wird, das dem Rotkehlchen seine Liebe schenken soll. Dann erst wird der Zauberbann gebrochen sein. Du aber wirst es nicht erleben, deinen erlösten Sohn je zu umarmen.«

Oh, dies war eine harte Strafe, welche die Fürstin auf sich nehmen mußte. Ganz zierlich und klein kam das Kind zur Welt, zunächst anzusehen wie jedes Kind, doch schon nach wenigen Tagen wuchsen ihm die Flügel, wurde es zum Rotkehlchen, Pettirosso genannt, den wir kennengelernt haben. Er blieb zeitlebens ein großer Vogelfreund, der zusammen mit seiner Lerche Julia überall die Singvögel beschützte, als wären es seine Geschwister. – – – 163

 

Vezzosa hatte ihr Märchen beendet. Die Kinder schwiegen. Von den Knaben senkten einige, ein wenig beschämt, die Köpfe. Nach einer Weile fragte Tullio, der Zwölfjährige, mit etwas unsicherer Stimme: »Großmutter, was meinst du? Darf man nicht einmal in ein Nest hineinblicken, wenn Junge darin sind?«

»Nein, mein Kind, man sollte dies lieber unterlassen. Die Vogelmutter kann nicht wissen, daß du ihren Jungen nichts antun willst. Sie ist ängstlich besorgt um ihre Kleinen, wie eine Mutter, eine Frau um ihre Kinder. Und so ein kleiner Vogel erschrickt, wenn er etwas Großes sich über das Nest neigen sieht. Wie würdest du dich fürchten, wenn ein gewaltiger Riese, der wenigstens zehnmal größer ist als du, sich über dein Bett neigte!«

»O ja, das wäre schrecklich.«

»Man darf auch bei Tieren nie vergessen, daß sie ähnlich schmerzempfindlich sind wie wir. Ja, es kann sein, daß sie Schreck, Schmerz und Leid noch stärker fühlen, als wir Menschen es tun. Der Mensch kann sich manchen Schmerz erklären, eben weil er denken kann, und dies vermag etwas zu beruhigen. Das Tier aber kann jeden Schmerz viel weniger verstehen und ist ihm wehrlos preisgegeben. Es ist auf unseren Schutz angewiesen, und der Mensch entwürdigt sich selbst, wenn er dies ausnutzt. Die Vogelmutter nimmt im Nest nur ganz wenig Raum für sich. Der ganze Platz ist nur für die Jungen da. Eines wärmt das andere, so geschwisterlich nahe sind die kleinen Vögel einander, und die Mutter breitet ihre Schwingen über die Kleinen aus. Das Nest ist kaum 164 größer, als ihre Schwingen sind, damit keine Kälte zu den Kindern strömt. Wie dürfte jemand ein Heim, das so zärtlich vorbedacht ist, anrühren, geschweige denn es zerstören! Nicht wahr, ihr Kinder, wir wünschen den Frieden für unser Heim, dasselbe wünscht sich der Vogel für sein Nest.« 165

 


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