Emmy Ball-Hennings
Märchen am Kamin
Emmy Ball-Hennings

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Schatzgräber

Die Regina und die kleinen Kinder gingen zwar früh schlafen, aber die Erwachsenen hatten sich Gesellschaft eingeladen, den großen Küchentisch beiseite gerückt, und dann wurde getanzt. Es hatten sich einige Burschen eingefunden, die abwechselnd die Gitarre und die Geige spielten, und Cecco, der sonst nicht viel nach dem Tanzen fragte, drehte sich mehrmals mit Vezzosa im Kreise, und als das junge Mädchen sich am nächsten Abend wieder bei den Maruccis einstellte, war man nicht so ganz sicher, ob sie nur der Erzählung wegen kam. Man neckte sie gern ein wenig und fragte, ob sie gar keine Märchenbücher daheim hätte. Da zeigte Vezzosa sich gekränkt, und sie sagte: »Ich kann ja nach Hause gehen, wenn ihr mir die Erzählungen der Regina nicht gönnt.«

»Dann dürftest du aber auf keinen Fall allein gehen, Vezzosa«, sagte Carola mit schelmischem Lächeln, »entweder wird Maso oder Cecco dich begleiten. Du kannst wählen.«

»Laßt sie doch in Ruhe«, machte die Regina der Neckerei ein Ende, »ich werde meine Geschichte erzählen, und wie es dann mit dem Heimgang von Vezzosa wird, mag sich später finden. Ich bin froh um eine so aufmerksame Zuhörerin, wie Vezzosa es ist.« 87

Vezzosa lächelte der alten Frau dankbar zu und sagte in holder Verlegenheit: »Oh, Regina, Ihr seid so lieb, und ich möchte gern von Euch lernen, wie man Geschichten erzählt, weil ich auch einmal meinen Enkelkindern erzählen möchte, genau, wie Ihr es macht.«

Alles lachte, aber die Regina gebot Stille für:

Die Schatzgräber

aus »Chi vuole Fiabe?«, Capuano nacherzählt und bearbeitet.

Es war einmal ein alter Bauer, der auf dem Gipfel des Monte Cinesio sich in einer Felsenhöhle einquartiert hatte. Niemand wußte, woher der Mann gekommen war und warum er auf dem Berge allein lebte; denn der felsige Boden war nur mühsam urbar zu machen, aber der alte Bauer hatte es doch geschafft. Er säte Gemüse und Blumen, je nach der Jahreszeit, und der Garten war recht nett und sauber gehalten. Obwohl er von den Dorfbewohnern im Tal eine gute Stunde entfernt wohnte, kamen doch einige aus Neugier zu ihm hinauf und nannten ihn Nachbar Anton.

Fragte man ihn also: »Nachbar Anton, was macht Ihr mit dem vielen Gemüse?«, entgegnete er:

»Das ist für den Magen.«

»Und die vielen Blumen?«

»Die sind fürs Auge.«

»Da habt Ihr aber nicht gar viel fürs Auge.«

»O doch«, entgegnete Nachbar Anton, »jede Blume ist ein Edelstein, den ich zu meinem Schatz lege.«

»Schatz«, das ist ein Wort, das mancher gerne hört, und so fragte man weiter:

»Und wo habt Ihr Euren Schatz?« 88

»In der Höhle halte ich ihn verborgen . . . Aber beschwert Euch nicht mit unnützen Gedanken. Den Schatz kann nämlich, von mir abgesehen, nur ein Mann ohne Arme heben.«

Verrückt, vollkommen verrückt, dachten sich die Leute.

Verrückt mußte er doch sein, der Nachbar Anton, denn wo gab es auf der Welt einen Mann ohne Arme? In Albori, dem Dorfe, sicherlich nicht, und gar viel weiter konnten die Leute dort nicht denken.

Eines Tages stellten sich zwei Jäger, Sandro und Massimo, auf dem Berge ein.

»Nachbar Anton, könnt Ihr uns sagen, ob es in dieser Gegend Wild gibt? Wir möchten gerne jagen.«

»Ich wüßte nicht, daß es hier etwas zu jagen gibt. Hab' hier noch niemals Wild gesehen.«

»Nun gut, dann ist es also nichts damit . . . Aber was Ihr für schöne Blumen habt, Nachbar Anton! Blumenaugen wie Edelsteine! Solche Blumen gehörten in den Boboligarten zu Florenz.«

»O nein, sie sind hier fürs Auge.«

»Ja gewiß, aber doch auch ein bißchen für unsere Augen. Erlaubt Ihr, daß wir uns ein paar Blumen pflücken?«

»Ja, pflückt nur, soviel Ihr Lust habt.«

Das ließen sich Sandro und Massimo nicht zweimal sagen, bückten sich, um eilends möglichst viele Blumen zu pflücken, denn man konnte ja nicht wissen, ob sie sich nicht sofort oder allmählich in Edelsteine verwandelten. Kaum aber hatten die Jäger auch nur eine Blume berührt, als sie aufschrien: »Autsch! Autsch! Eia! Eiaei!« Dabei schüttelten sie 89 sich vor Schmerz die Finger, weil sie sich wie mit scharfen Nadeln gestochen und geschnitten fühlten.

»Oh, das tut mir leid, meine Freunde. Ich wußte nicht, daß Ihr so gar empfindsam seid, sonst hätte ich Euch aufmerksam gemacht.«

»Oh, bitte, das macht nichts. Es gibt in Albori Blumen, die sich sanfter brechen lassen. Aber hört, Nachbar Anton, wir sind etwas müde, könnten wir nicht in Eurer Höhle vielleicht bis morgen früh ausruhen? Damit Ihr wißt, mit wem Ihr zu tun habt: Dies da ist mein Freund Sandro, und ich bin Massimo von Albori.«

»Freut mich, freut mich sehr, meine Herren. Gewiß könnt Ihr in der Höhle übernachten und übertagen nach Gefallen, aber . . .

Geöffnet ist der Eingang weit,
Doch steht kein gastlich Bett bereit.
Ein Stein dient hier als Ruhekissen.
Hier schläft nur, wer ein gut Gewissen.«

»Oh, dann ist es ja grad das Richtige für uns. Wir werden achtgeben, daß wir nicht sechzehn Stunden in einer Tour schlafen. Wir sind nämlich todmüde, und unser Gewissen ist so rein wie das eines neugeborenen Kindes.«

»Dann also seid willkommen, und angenehme Ruhe«, wünschte der alte Bauer, der draußen im Garten blieb, während Massimo und Sandro sich in die Höhle begaben.

Es fiel ihnen aber im Traum nicht ein, sich schlafen zu legen. Sie fingen sofort an, die Wände abzuklopfen, mit der Faust, mit dem Hausschlüssel, mit dem Flintenkolben. Es gab ein hohles Echo, als wäre 90 hinter der Wand eine große Leere, aber man konnte sich täuschen. Die unbefugten Schatzgräber sahen ein, daß man hier mit Hacke und Schaufel vorgehen mußte. Sie hatten aber doch den Eindruck gewonnen, daß der alte Bauer nicht verrückt sei, jedenfalls nicht ganz und gar, denn mit den Blumen, die nur fürs Auge da waren und sich nicht hatten pflücken lassen, hatte es doch seine Richtigkeit. Um Anton auf keinen Fall mißtrauisch zu machen, legten sie sich auf die Erde und übernachteten in der Höhle, obwohl sie lieber in ihrem warmen Bett als auf dem harten Stein gelegen hätten.

Zwei Tage später schon kamen die beiden Burschen wieder, aber diesmal waren sie als Maurer verkleidet, und jeder trug eine Schaufel und eine Hacke in der Hand.

»Wir haben grad in der Gegend eine Arbeit ausgeführt und sind noch zu müde zum Heimgehen. Würdet Ihr wohl erlauben, daß wir in Eurer Höhle ein wenig ausruhen?«

»Gewiß, gern, aber:

Geöffnet ist der Eingang weit,
Doch steht kein gastlich Bett bereit.
Ein Stein dient hier als Ruhekissen,
Hier schläft nur, wer ein gut Gewissen.«

»Dann dürfen wir es also wagen.«

»Seid willkommen und angenehme Ruhe!« wünschte der alte Bauer, der im Garten blieb, während die Schatzgräber in der Höhle verschwanden.

Da wir selbst nicht gar viel nach Edelsteinen und Gold fragen, brauchen wir uns auch nicht an der stundenlangen, eingehenden Arbeit zu beteiligen, die 91 Sandro und Massimo jetzt auf sich nahmen, denn ans Schlafen dachten sie natürlich nicht einen Augenblick. Vielmehr hatten sie genug zu tun, die Wände abzuklopfen und jene Wand ausfindig zu machen, die sich am besten durchbrechen ließ. Sie mußten gehörig bei der Arbeit schwitzen, und als sie endlich ein Loch gemacht hatten, das groß genug war, den Kopf durchzustecken, sahen sie zunächst nichts als die rabenschwarze Nacht.

»Wenn's nur nicht am Tage auch so schwarz bleibt«, beunruhigte sich Sandro.

»Ach was«, entgegnete Massimo, »du bist ein rechter Schwarzseher. Man riecht ja das Geld förmlich.« Er mußte aber für sich zugeben, daß er nur Schwarz und nichts anderes sah.

Endlich wurde es Tag oder genauer gesagt, Dämmerung.

Wieder blickten sie durchs Loch, einmal der eine und dann wieder der andere.

»Was siehst du, Sandro?«

»Gold, Gold, Gold und Topase und Edelsteine und was weiß ich, was noch alles daliegt.«

»Laß mich sehen . . . Wahrhaftig Gold, Gold, Gold . . . Aber höre, mein Junge, wir können hier nicht die Zeit mit Betrachtungen vertrödeln. Hier, nimm die Hacke, und jetzt wird Platz gemacht, damit wir durchkönnen.«

Nach stundenlanger Arbeit war der Zugang offen, und jetzt füllten sich die Burschen die Taschen gehörig voll. Dukaten, Diamanten, Rubine, Topase, alles wurde durcheinander in die Taschen gestopft. Als sie nun ihrer Wege gehen wollten, merkten sie, 92 daß sie sich nicht vorwärts bewegen konnten. Sie hatten sich offenbar zuviel aufgeladen. Was tun?

»Werfen wir ein paar Dukaten oder Edelsteine fort. Es kommt ja auf etwas mehr oder weniger nicht an.«

So flogen denn einige Schätze wieder zurück, aber es genügte immer noch nicht. Selbst die wenigen Steinchen, die sie noch in der Tasche hatten, kamen ihnen beinahe noch schwerer vor als die vielen Schätze, mit denen sie sich zu Anfang belastet hatten. Sie sahen die herrlichsten Schätze strahlender als Sonnenlicht in allen Regenbogenfarben vor sich leuchten, waren aber nicht fähig, auch nur ein kleines Diamantsplitterchen zu tragen, und mußten schließlich einsehen, daß sie unverrichtetersache fortgehen mußten.

Gerade als sie im Begriff standen, aus der Höhle herauszutreten, sahen sie durch die Luft zwei Stöcke auf sich zukommen. Die schienen von unsichtbaren Händen ergriffen zu werden, aber die Prügel, die die beiden Burschen bekamen, wurden recht geschickt ausgeteilt. Sie schrien »ach und weh!« und: »Hilfe, zu Hilfe!« Aber niemand war so gefällig einzuschreiten.

Da gab's kaum einen Knochen, der den beiden nicht weh tat, und als sie aus der Höhle traten, sahen sie den Nachbar Anton, der seelenruhig seine Blumen begoß.

»Wünsche Euch glückseligen guten Morgen, meine Freunde. Was habt Ihr denn, daß Ihr so jammert?«

»Oh, nichts weiter, es hat uns nur geträumt, daß wir geprügelt würden«, gaben Sandro und Massimo zur Antwort. 93

»Jaja, so was kann einem manchmal im Traum vorkommen«, sagte der Alte, aber ein verschmitztes Lächeln spielte um seinen Mund.

Sandro und Massimo befühlten sich Arme und Beine, ob sie auch noch alle Glieder beisammen hätten, und als sie das spöttische Lächeln ihres Gastgebers sahen, fragten sie:

»Was findet Ihr denn so heiter, Nachbar Anton?«

Er aber tat, als sänge er vor sich her:

»Jäger und Maurer
Sind gute Laurer.
Sie klopfen an Wänden.
Sie greifen mit Händen.
Der Schatz war zu schwer,
Die Taschen sind leer.«

Da merkten sie, daß der Alte sie erkannt hatte, und ohne sich für das Nachtlager zu bedanken, holperten sie talwärts. Unten im Dorf erzählten sie allen, die es hören wollten, ihr nächtliches Abenteuer, doch fanden sie kaum einen, der ihnen Glauben schenken konnte.

Alle sagten: »Der Alte da oben muß verrückt sein. Ein Mann ohne Arme! Wo gibt es denn einen Mann ohne Arme?«

»Man muß ihn suchen, den Mann ohne Arme, dann kann der Schatz schon gehoben werden.«

»Ja, suchet und ihr werdet finden«, so hänselte man die beiden Burschen.

Sandro und Massimo machten sich nun auf die Wanderschaft, um einen Mann ohne Arme zu finden, aber von Florenz bis Neapel begegneten ihnen nur Leute mit Armen. In Neapel fanden sie schon einmal 94 einen Drehorgelspieler auf der Straße, der nur einen Arm hatte, und als sie ihm viel Geld anboten, ihm den andern abzukaufen, stellte sich heraus, daß ihm auch der eine nicht fehlte und er diesen einen nur, um das Mitleid der Leute zu erregen, im Rock verborgen hielt. »Was denkt Ihr auch?« fragte der Orgelspieler, »ich könnte ja meine liebe Frau ohne Arme nicht umarmen, und zur Arbeit brauche ich wenigstens einen Arm.«

Als sie sahen, daß es aussichtslos war, einen Mann ohne Arme aufzutreiben, kamen sie auf den frevelhaften Gedanken, einer von ihnen müsse sich opfern und sich die Arme abschneiden lassen, gingen deshalb nach Salerno zu einem Chirurgen, dem sie ihr Anliegen vortrugen. Im Sprechzimmer des Arztes losten sie aus, wer das Opfer sein solle. Es traf Massimo. »Wenn du mich nur nicht bei der Teilung betrügen wirst, ich säße ja schön da ohne Arme.«

»Aber was denkst du? Willst du mich mit Gewalt beleidigen, mich, deinen besten Freund, für den ich alles hingeben würde?«

»Wenn's so mit deiner Freundschaft steht, laß du dir die Arme abschneiden.«

»Aber das würdest dann du wiederum nicht ertragen. Nein, das Los hat entschieden, und dabei bleibt es.«

»Das würdest du kaum sagen, wenn das Los dich getroffen hätte.«

Der Arzt trat herein und fragte, was die Herren wünschen.

»Herr Doktor, hier ist mein Freund Massimo, der sich die Arme von Ihnen abschneiden lassen möchte.« 95

»Wie?! Was?!«

»Ja, die Arme, Herr Professor, wenn Sie so freundlich sein wollten.«

»Was ist denn mit den Armen los? Laßt mich die Arme sehen.«

Massimo mußte die Jacke ausziehen, krempelte sich die Hemdärmel auf und zeigte seine einwandfreien, soliden Arme. Der Arzt fühlte ein bißchen an den Muskeln herum und fragte verwundert: »Ja, was fehlt diesen Armen denn? Habt Ihr Beschwerden? Tun Euch die Arme weh?«

»Sie tun mir nicht weh, und es fehlt den Armen an sich nichts. Sie stören mich einfach, und drum will ich sie los sein.«

»Das beste wird sein, Ihr begebt Euch sofort ins Irrenhaus. Die Adresse will ich Euch gerne geben. Wollt Ihr dagegen die Arme amputieren lassen, müßt Ihr Euch an einen andern wenden. Ich bin nicht der richtige Mann dafür. Adieu, meine Herren.«

Und dann standen sie draußen vor der Tür.

Um es kurz zu machen, weder in Salerno noch in Neapel, weder in Pompeji noch in Florenz fanden sie einen Arzt, der ihnen gefällig gewesen wäre, obwohl sie Geld genug für den Dienst boten.

Da mußten sie wieder gen Albori ziehen und wandten sich in der dortigen Gegend an eine Hexe, die kein Federlesens machte, sondern sofort sagte: »Also gib schon die Arme her, wenn sie dir nicht passen.« Während nun Massimo sich abermals die Jacke auszog und die Arme entblößte, rührte die Hexe eine Salbe zurecht, die nicht einmal übel roch, strich sie Massimo auf die Arme, der sich zwar nicht 96 allzu zimperlich anstellte, aber immerhin doch ein bißchen zu stöhnen begann. Sandro rief ihm begütigend zu: »Mut, Mut, mein Freund, es wird sich lohnen!«

Die Arme fielen ab, und die Wunden heilten im selben Augenblick.

»Was sind wir schuldig, gute Frau?«

»Nichts, die Arme genügen mir. Ich werde sie versorgen für den Fall, daß Ihr sie einmal wieder brauchen könnt.«

Damit legte sie die Arme sorglich in eine saubere Kassette.

»Das war aber billig«, wunderte sich Massimo und war recht zufrieden, daß er sein Geld geschont hatte, denn den großen Schatz hatte er ja noch nicht.

Es war mitten in der Nacht, als Sandro und Massimo das Haus der Hexe verließen, und so konnten sie unbemerkt nach Albori gelangen. Sie hatten nämlich große Furcht, gesehen zu werden; denn wenn die Alboreser Massimo ohne Arme gefunden hätten, würden sie ihn kaum aus den Augen gelassen haben, weil ja er es war, der ohne Arme den Schatz heben konnte. Am nächsten Morgen ließ er sich von Sandro einen weiten Radmantel umlegen und ging sehr früh schon mit seinem Freunde auf den Monte Cinesio. Der alte Bauer war wie gewöhnlich in seinem Garten beschäftigt, grüßte die Ankömmlinge freundlich und fragte nach ihrem Befinden.

Die Burschen zeigten sich auch höflich und fragten dann ohne weitere Umschweife:

»Nachbar Anton, warum schenkt Ihr uns denn nicht eine von Euren schönen Blumen?« 97

»Ich habe doch schon einmal gesagt, jede Blume ist ein Edelstein, den ich zu meinem Schatz lege. Der große Schatz in der Höhle aber ist verzaubert, und nur der Mann ohne Kopf vermag ihn zu heben.«

»Der Mann ohne Kopf?!«, schrien beide erschrocken wie aus einem Munde.

»Ja freilich, der Mann ohne Kopf. Seid Ihr schwerhörig, daß Ihr noch einmal fragt?«

»Ihr habt uns doch gesagt, es brauche einen Mann ohne Arme.«

»Niemals habe ich das gesagt. Ihr müßt Euch verhört haben. Mir scheint, Ihr seid beide schwerhörig. Ihr solltet einmal zum Ohrenarzt gehen.«

»Dank für den guten Rat. Wir würden sofort zum Ohrenarzt gehen, wenn wir nicht so müde wären. Dürfen wir nicht ein wenig in der Höhle uns ausruhen?«

»Herzlich gern, Ihr lieben Leute, aber:

Geöffnet ist der Eingang weit,
Doch steht kein gastlich Bett bereit.
Ein Stein dient hier als Ruhekissen,
Hier schläft nur, wer ein gut Gewissen.«

»Nun, dann sind wir am rechten Platz. Unser Gewissen ist rein wie die Sonne.«

»Dann seid willkommen, und angenehme Ruh'!« grüßte der alte Bauer und ließ die Burschen in die Höhle eintreten, während er im Garten verblieb.

 

Kaum waren sie in der Höhle angelangt, als sie sich auch schon nach dem großen Loch umsahen, das sie vor wenigen Tagen mit Not und Mühe in den 98 Felsen geschlagen hatten. Aber siehe da, das Loch war verschwunden, und jetzt hieß es, von neuem sich an die Arbeit begeben.

»Durchtrieben ist dieser Alte! Er hat nur gesagt, daß es eines Mannes ohne Kopf bedürfe, damit wir nicht unsererseits den Schatz heben. Zu oft hat er erzählt, es bedürfe eines Mannes ohne Arme, und das bin ich, Massimo. Schaff nur fleißig, Sandro. Es tut mir leid, daß ich dir nicht bei der Arbeit helfen kann, aber du wirst einsehen, daß es ohne Arme nicht möglich ist.«

»Laß nur deine Sprüche unterwegs. Stemme dich wenigstens gegen die Wand, damit du nicht vollends müßig dastehen mußt. Mir scheint, die Arbeit geht noch härter als das erstemal.«

»Gut Ding will Weile haben, laß dich die Mühe nicht verdrießen.«

Als aber Massimo sich energisch gegen die Wand stemmte, gab sie zum angenehmen Erstaunen der Schatzgräber plötzlich nach und sank fast lautlos ein. Dann lag die Herrlichkeit abermals vor ihren gierigen, schier geblendeten Augen.

Sandro füllte sich die Taschen, aber Massimo sagte: »Füll doch zuerst mir die Taschen, damit es dir später nicht zu schwer fällt. Du siehst doch, daß ich mich nicht selbst bedienen kann.«

»Du hast recht. Massimo, du bist ein grundgescheiter Bursche. Wärest du nicht so sehr klug, hättest du dir auch nicht die Arme abnehmen lassen. Komm, hier sind die Dukaten. Oder ziehst du Edelsteine vor? Dein Lebtag wirst du nicht mehr zu arbeiten brauchen.« 99

»Aber auf den Tanzboden werde ich auch nicht mehr gehen können. Darum füll mir nur die Taschen nicht zu knapp, damit ich wenigstens mein Leben fristen kann.«

»Du wirst es schon fristen, nur keine Sorge.«

»Wenn wir nur beim Ausgang keine Prügel bekommen.«

»Ich glaube kaum. Diesmal werden wir verschont bleiben, aber ich will doch vorsichtshalber die Taschen nicht so gar füllen. Wir können ja morgen wiederkommen. Du wirst ja auch morgen noch ohne Arme sein.«

»Hoffen wir das Beste und machen uns aufs Schlimmste gefaßt«, entgegnete Massimo.

Als sie nun aus der Höhle traten, blickten sie sich scheu um, ob nicht die verdächtigen Stöcke aus der Luft auf sie loskommen würden, doch blieben sie unbehelligt. Das war sehr angenehm. Daher grüßten sie auch den alten Bauer besonders freundlich.

»Nun, wie habt Ihr geschlafen, meine Freunde?«

»Wie auf Rosen ohne Dornen.«

»Nun, das freut mich. Ich wünsche einen glückseligen Tag.«

»Danke, danke, gleichfalls.« Und damit zogen die beiden ihrer Wege.

Nun war es herrlich, mit Gold und Edelsteinen beladen durch Gottes schöne Natur zu spazieren; doch konnten sie die Zeit nicht abwarten, bis sie ihre Schätze daheim in Sicherheit gebracht hatten. Sie gingen daher in den Wald, setzten sich behaglich unter einen Baum, um sich die Taschen in aller Ruhe und Stille zu leeren und sich am Glanz ihrer 100 Kostbarkeiten zu erfreuen. Sandro warf den ganzen Reichtum auf einen Haufen. War das eine Augenweide! Sie konnten sich an dem bunten, strahlenden Gefunkel kaum satt sehen und machten dabei die herrlichsten Zukunftspläne, kauften sich in Gedanken die schönsten Kleider, die lauschigsten Parkanlagen, Häuser und Wagen und malten sich aus, was für gute Sachen sie essen wollten. Als sie mit solch seligen Träumereien einige Stunden verbracht hatten, war es die höchste Zeit, zum Mittagessen zu gehen; denn es macht nur vorübergehend satt, wenn man viel vom Essen und Trinken spricht. Der Magen läßt sich nicht durch leere Versprechungen betrügen. Sie verspürten beide gehörigen Hunger, und darum beeilte sich Sandro, seinem Kameraden die Taschen wieder anzufüllen. Aber, aber was war denn plötzlich los? Kaum hatte Sandro die Schätze mit den Händen berührt, als sich urplötzlich die ganze Herrlichkeit in leere Schneckenschalen verwandelt hatte. Sie starrten und starrten auf den wertlosen Kram, als hätten sie in ihrem ganzen Leben noch nie leere Schneckenschalen gesehen. Sie hofften eine Weilelang, die Schalen würden sich wieder zurückverwandeln, aber das fiel den Schneckenschalen nicht ein.

Da gab's eine böse Zänkerei zwischen den Freunden. »Hätten wir nur nicht vorzeitig die Taschen geleert!«

»Es muß noch ein Geheimnis geben, das wir nicht kennen.«

»Möglich, daß der Schatzheber ohne Arme geboren sein muß.«

»Um's Himmels willen, ich kann doch nicht dafür, daß ich mit gesunden Armen geboren worden bin. 101 Oh, was hab' ich getan! Meine Arme, meine Arme, meine armen Arme!«

»So laß doch das unnütze Lamentieren!«

»Du hast gut reden. Du hast deine Arme noch, aber ich . . ., ich . . ., ich . . . Du wirst mich von nun an ernähren müssen. Ich weiß mir keinen anderen Rat. Nicht wahr, Sandro, du wirst mich nicht im Stiche lassen?«

»Im Stiche lassen? Hab' ich denn einen Vertrag mit dir gemacht? Ich hab' doch selbst nichts und wäre froh, wenn ich ein paar gefüllte Schnecken zu essen hätte. Es tut mir leid, aber helfen kann ich dir nicht.«

»Gut, dann leb wohl mit deinen gesunden Armen. Wir haben einander nichts mehr zu sagen. Mich hat der Himmel für meine Geldgier gestraft, und mir ist recht geschehen. Leb wohl!«

»Leb wohl, Massimo!«

So schieden die beiden voneinander.

Nun war Massimo natürlich besonders schlimm dran. Er war auf die Güte der Mitmenschen angewiesen. Manche im Dorfe aber, als sie hörten, warum und wie er seine schönen Arme losgeworden war, konnten ihm kein Mitleid bezeigen, weil er sein Unglück selbst verschuldet hatte. Doch ist es gleichwohl nicht recht, nur jenen Hilfe zu erweisen, die ohne ihr Verschulden in Not geraten. Wer eine Sünde begangen hat und dadurch ins Elend gerät, verdient auch unsere Barmherzigkeit, und auf eine gewisse Weise noch mehr als der unschuldig Leidende. Es gibt nichts Schöneres und Edleres auf der Welt, als einer verirrten Seele beizustehen und daneben auch für das 102 leibliche Wohl zu sorgen. Der unglückliche Massimo, der hilfloser als ein kleines Kind geworden war, ging von Haus zu Haus, um sich ein wenig Nahrung zu erbitten. Nun waren zwar nicht alle Leute herzlos, doch waren die meisten zu bequem, dem armen Massimo jeden Bissen Brot in den Mund zu schieben. Wer aber diese Liebesmühe auf sich genommen hätte, dem hätte sicherlich der liebe Gott solch edle Tat reichlich vergolten.

Massimo war betrübt, daß er selbst gutmütigen Leuten bald eine große Last wurde. Da besann er sich auf einen Verwandten, der in äußerster Armut lebte. Es war ein Köhler namens Julian, der Witwer war und für sechs kleine Kinder zu sorgen hatte. Dieser nahm Massimo auf und fütterte ihn abends und morgens mit eigener Hand, wie man einem jungen, verlassenen Vogel zu essen gibt.

Massimo wollte sich seinem Wohltäter gerne erkenntlich zeigen, war bereit, betteln zu gehen, aber Julian wollte das nicht, solange noch ein Stückchen Brot im Hause war. Massimo meinte: »Vielleicht findest du einmal einen Mann, der ohne Arme geboren ist, und der den Schatz hebt, und dann wird er dir sicher etwas Geld ablassen.«

»Ach nein, du sollst mich in Ruhe lassen damit. Fände ich einen Mann ohne Arme, würde ich diesen selbst als einen Schatz betrachten und ihm Gutes erweisen, soviel ich es nur könnte. Dann hätte ich Hoffnung, einen Schatz an Liebe im Paradiese vorzufinden.«

»Du wirst ihn finden, lieber Julian«, sagte Massimo in sich gekehrt, und von dieser Zeit an wurde er ein 103 besserer Mensch. Die Güte seines Verwandten hatte sein Herz bekehrt.

Sandro aber konnte nicht davon lassen, an den Schatz in der Höhle zu denken und, was noch schlimmer war, er steckte das ganze Dorf mit seiner Geldgier an. Einige freilich begannen ihn für verrückt zu halten, weil er immer nach einem Manne ohne Arme ausspähte, den es nirgends gab. Massimo war nicht der Richtige gewesen, den Schatz zu heben. Es mußte einer sein, der niemals Arme besessen hatte. Immer wieder trug er den Leuten dieses Märchen vor, und um den Verwirrten nicht noch mehr aufzuregen, sagte man ihm: »Ja, es kann schon sein. Vielleicht kommt eines Tages der Richtige ohne Arme. Ihr müßt nur Geduld haben.« Sobald man ihm widersprach, gebärdete er sich wie ein Wilder, und allmählich wurde er ganz wunderlich im Kopf, so daß man ihn im Armenhaus versorgen mußte.

Eines Tages nun zeigte sich eine junge Frau im Dorfe, die, ihr Kind auf den Armen, von Haus zu Haus betteln ging. Die Frau war in Lumpen gekleidet, sah mitleiderregend mager aus, und das kleine Kind erschien noch elender als die Mutter. Sie trug es, obwohl es im warmen Sommer war, in ein Tuch gehüllt, und als man sie fragte, ob es für das Kind nicht zu heiß sei, gab die Frau zur Antwort:

»Ach nein, es ist nur ein leichtes Tuch, aber mein kleiner Sohn ist leider ohne Arme geboren, und einen solch traurigen Anblick mag ich keinem Menschen zumuten. Daher trage ich das Kind im Tuche.«

Aber siehe da, man fand es gar nicht so sehr traurig, daß der Knabe keine Arme hatte, und wir wissen ja 104 schon, aus welchem Grunde, aber die unglückliche Mutter wußte es nicht.

»Wie schade, daß dein Sohn noch nicht volljährig ist!« sagte man der Frau, und gab ihr reichlich Almosen.

»Ach, ich denke nicht gern an die Zukunft. Jetzt trage ich mein Kind noch im Arm und kann sorgen für mein Kleines. Was aber wird sein, wenn mein Sohn erwachsen sein wird und ich alt sein werde und dann von dieser Welt fortmuß? Wer wird dann für meinen Sohn sorgen? Ach nein, ich möchte, daß mein armes Kind immer klein bliebe.«

»Immer werden wir für dich und deinen Sohn sorgen. Bleibe nur bei uns. Ihr sollt es gut bei uns haben.«

»Gott lohne Euch Eure Güte, Ihr guten Menschen«, sagte die Frau, doch wunderte sie sich ein wenig, daß es in Albori so gar viel hilfbereite Menschen gab, die sich nicht genugtun konnten, ihr Söhnlein und auch sie zu verwöhnen.

Kaum gab es eine Familie, die nicht dringend darum bat, sie möge doch mit ihrem Sohne wenigstens für einige Wochen zu ihnen kommen. Die arme Frau dachte, man dürfe den Menschen die Gelegenheit Gutes zu tun nicht nehmen, und so ließ sie sich überall mit einem herzlichen »Vergelt's Gott!« einladen, so daß sie und ihr kleiner Junge sichtlich aufblühten und bald recht gesund und frisch aussahen. Sie kam gar nicht dazu, sich von Albori zu verabschieden, blieb jahre- und jahrelang im Dorf, einmal hier und einmal dort.

»Wie heißt Euer Söhnlein, gute Frau?« 105

»Angelo.«

»Oh, er ist wirklich ein kleiner Engel.«

»Ach, aber ohne Flügel. Wenn der liebe Gott ihm nur ein paar Arme geschenkt hätte!« So klagte die Frau, doch hörte man den leichtbegreiflichen Wunsch nicht gerne.

»Und wie heißt Ihr, gute Frau?«

»Maria.«

»Oh, einen heiligen Namen tragt Ihr.«

»Ach ja, ich stehe zwar unter dem Schutz der Gottesmutter, aber wenn sie nur meinem Angelo ein Paar gesunde Arme erbitten würde, dann würde ich ihr ewig dankbar sein, im Diesseits und im Jenseits.«

»Nun ja, man muß mit seinem Los zufrieden sein«, gab man ihr zu verstehen, doch war das nur ein schwacher Trost für die Mutter.

Der kleine Angelo wuchs zu einem lieblichen Kinde heran, doch war er immer ein wenig traurig, ging viel in die Kirche und fragte oftmals den lieben Gott: »Lieber Gott, darf ich dich um ein Paar Arme bitten? Wie gern möchte ich ein Paar gesunde Arme haben, damit ich für meine Mutter arbeiten kann, wenn ich groß bin. Wenn ich aber ohne Arme leben muß und du es so haben willst, soll es mir recht sein, und ich will mich in mein Schicksal fügen.«

So betete das Kind in seiner frommen Einfalt, weil es sich nicht ganz sicher fühlte, ob es auch um ein Paar Arme bitten dürfe, weil die Leute ihm oftmals sagten, er möge sich mit der Gesundheit zufrieden geben und nicht auch noch nach gesunden Armen verlangen, die er nun einmal nicht erhalten könne. Manchmal freilich erwiderte der kleine Angelo auf solche 106 Vorhaltungen: »Ach, dem lieben Gott ist nichts unmöglich, und er wird schon wissen, was er zu tun hat.«

 

Während nun das Kind immer größer wurde und bald seine Volljährigkeit erreicht hatte, gingen einige Leute aus Albori auf den Monte Cinesio, um sich beim Nachbar Anton nochmals genau nach dem Schatz zu erkundigen. Zuerst bewunderten sie vor der Höhle die Blumen.

»Nachbar Anton, was macht Ihr nur mit den vielen schönen Blumen?«

»Die Blumen sind fürs Auge da. Jede Blume ist ein Edelstein, den ich zu meinem Schatz lege.«

»Und wo habt Ihr Euren Schatz?«

»Er liegt in der Höhle verborgen. Aber macht Euch keine unnützen Gedanken. Nur derjenige, der ohne Arme geboren wurde, vermag den Schatz zu heben.«

»Braucht es nicht einen Mann ohne Kopf?«

»Nein, nein, es braucht keinen Mann ohne Kopf. Es hat gar mancher seinen Kopf verloren, der nach Geld und Gold trachtet, obwohl man den Kopf noch sehen kann. Aber der Kopf steckt sozusagen nicht mehr im Kopf.«

»Das verstehen wir nicht, Nachbar Anton.«

»Das will ich Euch gerne glauben, Ihr versteht manches nicht.«

»Aber das haben wir doch recht verstanden, daß ein junger Mann, der ohne Arme geboren ist, den Schatz zu heben vermag.«

»Ja, das eine habt Ihr genau begriffen«, sagte der Alte und lächelte seine neugierigen Besucher überlegen an. 107

»Und seid so freundlich, uns noch zu sagen: Handelt es sich um einen großen Schatz, der in der Höhle zu finden ist?«

»Ich werde wohl sagen dürfen, daß es jedenfalls einer der größten Schätze ist, die man auf der Welt finden kann.«

Da kehrte die Gesellschaft jubelnd ins Dorf zurück, denn jetzt hatten alle Aussicht, über die Maßen reich zu werden.

Die Mutter und ihr Sohn, vor denen man die Sage vom Schatz in der Höhle streng geheimhielt, wurden mit Aufmerksamkeit überschüttet. Angelo aber, der in wenigen Tagen volljährig sein würde, mußte sich krank ins Bett legen, worüber im Dorf große Aufregung entstand.

 

Die Ärzte, die man rufen ließ, meinten zwar, es sei nur eine leichte Erkältung, die den jungen Mann befallen habe, doch waren die Alboreser dennoch in Sorge, er könne ihnen vor der Zeit sterben. Angelo lag ein wenig schwach im Bett, doch ging es ihm schon wieder besser, als die Leute vom Dorfe kamen, sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Sie hätten gern gewußt, wie er selber über den Schatz dachte, doch suchte man dies auf eine versteckte Art herauszubringen indem man ihn fragte ob er nicht Lust habe, sehr reich zu werden. Lächelnd verneinte er.

»Aber, Angelo, es wäre doch für dich und deine Mutter ein ganz großes Glück, wenn ihr sorgenfrei leben könntet.«

Angelo, welcher der Meinung war, man sage ihm dies nur aus Gutmütigkeit, begann leise zu singen: 108

»Was frag' ich viel nach Geld und Gut,
Wenn ich zufrieden bin!
Gibt Gott mir nur gesundes Blut,
Dann hab' ich frohen Sinn
Und sing' aus dankbarem Gemüt
Mein Morgen- und mein Abendlied.«

Er wußte nicht, welch kostbare Lehre er den Leuten gab, die sein Lager umstanden, und diese waren so verblendet, daß sie nicht fähig waren, die gute Lehre zu erfassen. Sie konnten die Zeit nicht abwarten, Angelo wieder gesund zu sehen, und ihr heimlicher Jubel war groß, als sie ihn einen Tag vor seiner Volljährigkeit im Dorf umhergehen sahen. Sein erster Gang aber war – in die Kirche, dem lieben Gott für die wiedererlangte Gesundheit zu danken.

Am nächsten Tage wurde er mit seiner Mutter zu einem Ausflug nach dem Monte Cinesio eingeladen, und das konnten sie ihren Wohltätern doch nicht abschlagen. So pilgerten also Mutter und Sohn, begleitet von beinahe sämtlichen Einwohnern des Dorfes auf den Berg, wo der alte Anton den Ankömmlingen schon von weitem entgegensah. Das gab ein Gegrüße! Jeder wünschte, in der Höhle »auszuruhen«. Diesmal aber wehrte der alte Mann ab und sagte:

»Nur der Mann ohne Arme darf die Höhle betreten. Ihr andern müßt alle draußen bleiben.«

»Aber sagt uns, guter Nachbar Anton, wird er auch wirklich mit dem Schatz aus der Höhle herauskommen?«

»Gewiß, meine Freunde, er wird den Schatz in Empfang nehmen.«

Angelo stand bestürzt neben seiner ebenso erschrockenen Mutter. 109

»Aber ich will doch gar keinen Schatz, guter Mann. Es ist ein Irrtum. Ich bin nicht hierhergekommen, um Schätze zu heben. Der Schatz, den ich mir wünsche, wird hier nicht zu finden sein.«

Jetzt erkannte er, daß es nicht wahre Liebe gewesen war, die man ihm und seiner Mutter erwiesen hatte, sondern daß nur Goldgier der Grund gewesen war. Vor Enttäuschung begann er bitterlich zu weinen, und seine Mutter weinte mit ihm.

Das Volk aber drängte ihn gewaltsam in die Höhle, während die Mutter nicht genügend Kraft besaß, ihren Sohn zu schützen. Sie mußte ihren Angelo vor ihren Augen in der Höhle verschwinden sehen. Da sank sie in die Knie, um für ihren Sohn zu beten.

Angelo kehrte lange nicht zurück. Als er in das Innere der Höhle trat, lag der Reichtum auch vor seinen Augen ausgebreitet. Er erblickte alles genau so, wie Sandro und Massimo es einmal gesehen hatten. Ihn aber freute dieser Glanz nicht. Vielmehr brach er in Tränen aus, die zu Boden fielen, weil er ja keine Hände hatte, sein Gesicht in ihnen zu verbergen. Er hatte weder Arme noch Hände, die er zum Himmel erheben konnte, nur sein Herz wandte sich zu Gott.

 

Draußen aber wartete voll Ungeduld die Menschenmenge. Nach einigen Stunden erst vernahmen sie einen Aufschrei und einen Ruf des Jubels, wie man ihn seliger noch niemals vorher vernommen hatte.

»Mutter! Mutter, ich habe den Schatz gefunden! Ich hab' ihn, ich hab' ihn!« Dann stand plötzlich Angelo im Eingang der Höhle, die vom Sonnenlicht hell erleuchtet war. 110

»Mutter! Komm! Sieh, wie reich ich bin!« Die Mutter stürzte ihrem Sohne entgegen, der weit seine Arme ausstreckte, seine Mutter zu umfangen.

Die Leute standen zuerst sprachlos da und starrten nur auf Angelo, der seiner Mutter in übergroßer Seligkeit das Gesicht streichelte. Sie aber schmiegte sich in die Arme ihres Sohnes, wortlos, während die Tränen der Dankbarkeit ihr über das Gesicht rannen.

»Ja, und der Schatz?«, so wagte einer höchst verdutzt zu fragen.

Da ließ Angelo die Mutter los, streckte seine Arme gen Himmel und hielt sie dann den Leuten hin: »Da, seht den Schatz! Was bedarf es eines anderen? Aber Ihr braucht mich nicht zu beneiden, denn auch Ihr habt diesen Schatz. Komm, Mutter, gehen wir.«

Arm in Arm gingen die beiden fort, und man hörte sie jubelnd zusammen singen:

Was frag' ich viel nach Geld und Gut,
Wenn ich zufrieden bin!
Gibt Gott mir nur gesundes Blut,
Dann hab' ich frohen Sinn
Und sing' aus dankbarem Gemüt
Mein Morgen- und mein Abendlied.

Nachbar Anton aber sagte lächelnd: »Nun, was gafft Ihr noch, Ihr guten Leute? Freut Euch, Ihr habt denselben Schatz wie Angelo. Seid zufrieden und braucht Eure Hände und Arme mit gutem Gewissen, und Ihr werdet glücklich sein.«

 

Schweigen herrschte im kleinen Kreise. Jeder dachte auf seine Weise über die lehrreiche Geschichte 111 nach. Plötzlich fragte der kleine Michael mitten in die Stille hinein: »Nonna, warum haben die andern Leute nicht mit Angelo und seiner Mutter gesungen?«

»Weil sie nicht zufrieden waren mit dem, was sie hatten.«

»Vielleicht hatten sie zu wenig«, gab Nicola zu bedenken.

»Ob sie viel oder wenig hatten«, gab die Regina Aufschluß, »das ist gleichgültig. Die Genügsamkeit ist es, die den Menschen glücklich macht.«

»Aber daß der Mann sich die Arme abschneiden ließ, das ging denn doch zu weit«, meinte Julia.

Maso sagte: »Es geht immer zu weit, wenn der Mensch habsüchtig ist. Die Gier kann ihn zu jedem Frevel treiben, und dafür enthält diese Geschichte ein starkes Beispiel.«

»Und wie kommt es, daß man gar so oft bei uns annimmt, in den Berghöhlen müsse es Schätze geben?« fragte Francesca.

»Das mag verschiedene Gründe haben. Sehr oft verbergen die Menschen in Kriegszeiten ihre Schätze in den Höhlen. Dann aber gibt es auch einfältige Leute, die unter der Form des Berges zugeschüttete Reichtümer vermuten, und es gibt ja auch tatsächlich Edelgestein im Innern der Berge, das sich auf natürliche Weise gebildet hat.«

Jetzt teilte Carola an alle Anisplätzchen aus: »Mir scheint, wir alle, die wir hier beisammen sind, haben uns über nichts zu beklagen. Darum schlage ich vor, daß wir, bevor wir schlafen gehen, das kleine Loblied der Zufriedenheit anstimmen, das ihr sicher alle kennt. Den ersten Vers hat uns Angelo 112 vorgesungen, darum können wir mit dem zweiten beginnen. Seid ihr einverstanden?«

»Ja, wir sind einverstanden, besonders, wenn Cecco unser Lied mit der Gitarre begleitet.« Dazu war Cecco sofort bereit, und dann klangen die hohen und tiefen, die starken und schwachen Stimmen fröhlich vereint zusammen.

»So mancher schwimmt im Überfluß,
Hat Haus und Hof und Geld
Und ist doch immer voll Verdruß
Und freut sich nicht der Welt.
Je mehr er hat, je mehr er will.
Nie schweigen seine Klagen still.

Da heißt die Welt ein Jammertal,
Und oh, wie ist sie schön,
Hat Freuden ohne Maß und Zahl,
Läßt keinen leer ausgehn!
Das Käferlein, das Vögelein
Darf sich ja auch des Maien freun.

Und uns zuliebe schmücken ja
Sich Wiese, Berg und Wald,
Und Vögel singen fern und nah,
Daß alles widerhallt.
Bei Arbeit singt die Lerch' uns zu,
Die Nachtigall bei süßer Ruh'.

Und wenn die goldne Sonn' aufgeht,
Wird golden auch die Welt
Und alles in der Blüte steht,
Viel Ähren trägt das Feld.
Dann denke: Alle diese Pracht
Hat Gott zu deiner Lust gemacht.

Dann preise ich und lobe Gott
Und habe frohen Mut.
Ich weiß: Es ist ein lieber Gott,
Er meint's mit Menschen gut.
Drum will ich immer dankbar sein,
Will mich der Güte Gottes freun. 113

 


 << zurück weiter >>