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VII.

Eine Stunde, nachdem Graf Werner Ferenberg mit Florian Burger auf dem Schlosse seiner Vorväter eingetroffen und von seiner Base Marlise bewillkommt worden war, ließ sich aus eignem Antrieb der Dorfarzt Dr. Haßbacher bei ihm melden. Er hielt es für seine Pflicht, ihm seine am Tage zuvor mit dem Privatdetektiv stattgehabte Unterredung mitzuteilen. Bei Aneinanderreihung der einzelnen Umstände, die den Tod des Grafen Klodwig begleitet hätten, könne er sich der erschütternden Tatsache, daß der Graf einem Anschlag zum Opfer gefallen sei, nicht länger verschließen. Er bitte nur, vorläufig über die Angelegenheit Schweigen zu beobachten, bis die von Ralf Recking in Aussicht gestellte lückenlose Beweisführung erbracht sei.

Graf Werner hörte in wortloser Ergriffenheit den Bericht an. Bisher habe ihn Pfarrer Burger schon auf verbrecherische Anschläge und Diebereien, die sich in seiner Abwesenheit hier abgespielt hätten, aufmerksam gemacht. Auf eine solch niederschmetternde Nachricht jedoch sei er nun und nimmer gefaßt gewesen. Sie sei um so unbegreiflicher, als er keinen Menschen auf der Welt wisse, dem der Tod des betagten Oheims hätte erwünscht sein können. Er hoffe, daß sich die Wahrnehmungen des Arztes doch vielleicht noch aus andere Weise aufklären ließen.

»Schon aus diesem Grunde werde ich schweigen. Auch würde die fast an Aberglauben grenzende Sorge, mit der mich meine Base empfangen hat, durch diese entsetzliche Nachricht verstärkt werden. Ich werde ja aus alledem nicht klug.«

»Ich ebenso wenig,« gestand Dr. Haßbacher. »Aber der Detektiv machte einen derart überzeugenden und sichern Eindruck –«

»Sie sind der Dritte, der mir das sagt, und nun brenne ich wirklich darauf, diesen Wundermann kennenzulernen, der nach Ihrer, meiner Base Marlise und des Herrn Pfarrers übereinstimmender Versicherung dazu berufen ist, Licht in dieses nachgerade unheimliche Dunkel zu bringen.«

Die abendliche Tafel, zu der Florian Burger zugezogen war, wurde eben von der Komtesse aufgehoben, als der Leibjäger Herrn Pracht meldete. Eine Minute später stand der junge Schloßherr dem Detektiv gegenüber.

Einen Augenblick musterte Graf Werner mit kritischem Auge den Gast, der sich anheischig machte, viel mehr von seinen und seines Hauses Angelegenheiten zu wissen als er selber. Aber die ruhige Sicherheit, die im Auftreten Reckings lag, nahm ihn ebenso schnell für ihn ein. So reichte er ihm mit festem Druck die Hand und bat, ihm reinen Wein über all die rätselhaften Vorgänge einzuschenken, die sich hier zugetragen hatten. »Oder gar noch zutragen sollen, wenn ich recht verstehe. Ich denke. Sie werden mir nichts verschweigen, und ich bin gewiß der erste, der jede Ihrer Maßnahmen gutheißen wird, wenn Sie sie mir als notwendig hinstellen. Zunächst schwankt alles, was ich seit meiner Ankunft hörte, arg zwischen Dichtung und Vermutungen. Ich brauche nur an den Märchenglauben meiner Base, der Komtesse, zu erinnern, die alles Ernstes glaubt, daß der Becher der alten Klosterbrüder uns Unheil ins Haus gebracht hat. Ernstlicher natürlich fasse ich das auf, was mir vor einer Stunde unser alter Doktor Haßbacher von einer Unterhaltung mit Ihnen gesagt hat. Trotzdem begreife ich die Zusammenhänge nicht.«

»Ihnen diese zu erklären, dazu bin ich eben hier, Herr Gras,« erwiderte der Detektiv. Sie saßen sich jetzt allein im Arbeitszimmer gegenüber. »Und ich bin, Ihre Einwilligung vorausgesetzt, nicht willens, Schloß Benepartus eher wieder zu verlassen, als bis ich Ihnen den Beweis für die Notwendigkeit meines Hierseins erbracht habe. Tatsächlich handelt es sich um einen Anschlag, der gegen Ihr Leben geplant ist, genau in der verruchten Weise, wie es gegenüber dem Grafen Klodwig der Fall war.«

»Sie wollen sagen, daß mich unbekannte Feinde gleichfalls mit Gas und Gift aus dem Wege räumen wollen?«

»Nichts anderes. Ich bin gekommen, das Teufelsstück zu durchkreuzen.« Und nun berichtete Ralf Recking in gedrängten Worten, wie er in so kurzer Zeit hinter das Geheimnis der beiden Schurken gekommen war, die bereits in ihrem Versteck umstellt seien.

Der Graf unterbrach ihn wiederholt mit Ausrufen des Staunens, und fahles Entsetzen malte sich aus seinem Gesicht. Doch so oft er sich auch gegen das Unbegreifliche und Unfaßbare zu sträuben suchte, das ihm Recking eröffnete, immer wies ihm dieser in haarscharfer Entgegnung die Glieder einer untrüglichen Beweiskette.

»Und was soll ich tun?« fragte er tonlos, als der Detektiv seinen Bericht schloß. »Es ist nicht meine Art, die Hände in den Schoß zu legen, wenn mir einer ans Leben will. Und wer vor allen Dingen steckt hinter diesem Wend – dieser Ausgeburt der Hölle, der mit dem Teufel im Bunde zu sein scheint?«

»Sie haben nichts zu tun, Herr Graf, als in den nächsten Stunden dieser Nacht die Entwicklung der Dinge abzuwarten. Ich muß Sie dringend darum bitten. Am besten legen Sie sich schlafen – selbstverständlich nicht im Sterbezimmer Ihres Oheims. Ich habe jetzt alles so weit in die Wege geleitet, daß auch ohne Ihr Zutun der letzte Schlag Ihres Feindes pariert wird. Mein erstes, als ich Schloß Benepartus betrat, war, daß ich mit Hilfe der Ortsbehörde die Martha Gillis verhaften ließ. Sie befindet sich in sicherm Gewahrsam. Ich selbst werde, wenn Sie nichts dagegen haben, die Nacht im Schlafzimmer Ihres Oheims verbringen, und zwar in Gesellschaft eines armen blinden Hündchens, das ich aus Falkeland mitbrachte und das soeben in Ihrer Küche seine voraussichtliche Henkersmahlzeit einnimmt. Ich selbst habe die unerläßlichen Vorkehrungen getroffen, daß mir die tödlichen Giftschwaden nichts anhaben. Und was Ihre wiederholten Fragen betrifft, wer der Feind eigentlich ist, der diese Untaten von langer Hand vorbereitet hat, so werden auch hierüber in wenigen Stunden die letzten Zweifel gelöst sein. Es wäre mir lieb, wenn Sie mir zur Lektüre Ihre Familiengeschichte und überdies etwa vorhandenen Briefwechsel zwischen Ihrem Herrn Oheim und seinen Großweitschener Vettern mit auf meinen Posten geben wollten.«

Den jungen Schloßherrn durchschauerte es. »Großer Gott, auf welche Gedanken bringen Sie mich! Diese Bestie Wend ein Werkzeug jener unseligen Sippe?«

Dem Verlangen Reckings aber kam er nach. Er übergab ihm alle auffindbaren, von Graf Klodwig aufbewahrten Briefschaften und händigte ihm die Familienchronik ein. Es war dieselbe, in der sich die Geschichte des Mönchbechers und seine unglückliche Verheißung aufgezeichnet fanden. Gras Werner erklärte, er denke natürlich nicht daran, sich schlafen zu legen, so abgespannt er von der Reise sei. Auch würden ihn die Eröffnungen Reckings sowieso kein Auge schließen lassen. Er werde Pfarrer Burger bitten, mit ihm bei einem Glase Wein zu wachen. Komtesse Marlise aber müsse sich unbedingt schlafen legen.

Mitternacht war nahe, als sich Ralf Recking an der Schwelle des Sterbezimmers des Grafen Klodwig vom Schloßherrn und von Florian Burger verabschiedete Er lehnte es ab, daß ihm noch Wein gebracht werde. »Ich muß mich zum Angriff rüsten,« sagte er, auf ein mitgebrachtes Paket deutend. Dann schloß er, nachdem er das elektrische Licht hatte aufflammen lassen, die Tür. Vor ihm lagen die Briefe des alten Grafen, unter denen sich auch vergilbte Photographien befanden. Lange saß er vor ihnen und der Hauschronik, und dann wieder stand er auf und wanderte ruhelos durchs Gemach. Durchs geöffnete Fenster leuchteten vom stahlblauen Himmel die Sterne. Im benachbarten Taubenschlag herrschte längst Nachtruhe, und das Duften der schlafenden Rosenbeete vor dem Schlosse drang nicht zu dem wartenden Detektiv, der eine sorgfältig mit Gummi abgedichtete Gasmaske, die nur die Ohren frei ließ, über seinen Kopf gezogen hatte. Zu seinen Füßen schlummerte der kleine blinde Hund.

Sonst dachte allerdings niemand im Schlosse daran, zu schlafen. Nur die Hausdame, Fräulein Wilmers, hatte sich zu frühzeitig zurückgezogen, um noch von der Verhaftung der schwarzen Martha zu hören, die die Dienerschaft in keine geringe Aufregung versetzt hatte. In den Gesindestuben waren kluge Köpfe langsam dahintergekommen, was es mit dem Herrn Pracht auf sich hatte; Leibjäger Jenner hatte Brocken von Gesprächen aufgefangen, bei deren Wiedergabe seiner Zuhörerschaft die Haare zu Berge standen, und die blonde Elfriede, der Komtesse Vertraute, erhöhte durch ihren außergewöhnlichen Ernst und ihr geheimnisvolles Schweigen womöglich noch die in der Luft liegende Spannung.

Auch Komtesse Marlise hatte ihr Zimmer aufgesucht, aber an Schlaf war nicht zu denken. Beim kleinsten Geräusch fuhr sie erschreckt zusammen und lauschte in die Nacht hinaus. Und Graf Werner Ferenberg, der über die Wartezeit dadurch hinwegzukommen suchte, daß er seinem alten Reisekameraden Burger die denkwürdigsten Ereignisse und Erlebnisse der letzten Forschungsfahrt schilderte, gestand seinem Gegenüber, daß ihn bei Reckings Eröffnungen doch etwas angepackt habe, was mehr sei als nur ein unangenehmes Gefühl – ganz zu schweigen von der aufsehenerregenden und niederschmetternden Erklärung von des Oheims Ende. Auch ertappte er sich dabei, wie er seinen Revolver, der ihn auf seiner Reise begleitet hatte, vorsichtig aus der Schutzhülle nahm und nachsah. Es ließ sich nicht leugnen, daß mit dem Gast aus Berlin das Gefühl bänglicher Erwartung und ungemütlicher Beklommenheit aus Schloß Benepartus seinen Einzug gehalten hatte.

Da – wenige Minuten vor zwei Uhr, ging ein dröhnender Schlag durchs Haus, wie ihn eine mit aller Gewalt ins Schloß geworfene Tür hervorbringt. Und gleichzeitig schrillte anhaltend der Fernsprecher. Alles stürzte jäh von seinem Platze. Schlotternd erschien der Leibjäger im Rahmen der Tür, während an ihm vorbei die blonde Elfriede zu ihrer jungen Herrin eilte. Aber auch Graf Werner hatte sich verfärbt, als er aufsprang, und Pfarrer Florian Burger war kreideweiß und keines Wortes fähig und starrte entgeistert zur Tür, wo jetzt hinter Jenner ein Ungeheuer auftauchte ... ein Fabelwesen, daß sich erst allmählich zum Menschen entpuppte –

»Ich bitte tausendmal um Vergebung, daß ich die Nachtruhe in so brutaler Weise gestört habe,« sagte Ralf Recking und streifte die Gasmaske, die ihm das unheimliche Aussehen gegeben hatte, vom Gesicht. »In meiner unnötigen Hast habe ich die Tür hinter mir zugeschlagen und bin dem unsichtbaren Feind Hals über Kopf entflohen. Ein zweites Mal soll das nicht vorkommen, aber, obwohl ich genau mit seinem Erscheinen rechnete, überraschte mich sein pünktliches Eintreffen doch. Da mir zudem die Art des Gases, das ins Fenster geflattert kam, nicht bekannt ist und anderseits auch die beste Gasschutzmaske ihre schwachen Seiten haben kann, wollen Sie mir den etwas sehr vorsichtigen Rückzug verzeihen. Und nun erlauben Sie, daß ich den Fernsprecher zu Ruhe bringe.«

Er griff zum Hörer, rief seinen Namen, lauschte und nickte.

»Meinen Glückwunsch, Eckhardt! Das war meine einzige Sorge ... Danke, bin mit heiler Haut der Mördergrube entronnen. Sie können sich selbst davon überzeugen. Ich erwarte Sie. Ihr Wagenführer kennt ja den Weg ... Wie? Das wird ratsam sein. Auch können sie hier gleich ihrer Mittäterin gegenübergestellt werden.« Noch ein paar Worte, und er hing den Hörer an.

»Nun,« wandte er sich zum Grafen und dem Pfarrer um. »Ich denke, nun ist für alle Zeiten der Friede wieder in diesem Hause eingekehrt. Polizeihauptmann Eckhardt wird unter sicherer Bedeckung die Männer hierherführen. In spätestens einer Viertelstunde dürfen wir ihn erwarten, und Sie müssen schon erlauben, daß ich bis dahin die Hände in den Schoß lege. Auch bin ich jetzt nicht abgeneigt –«

»Wollen Sie Rotwein oder Portwein? Ich bitte um Verzeihung, daß ich Ihnen nicht eher etwas anbot. Aber wahrhaftig, wenn uns auch allen eine Stärkung nichts schaden kann, Sie haben sie am allerersten verdient. Und wie ich in Ihrer Schuld stehe – zeit meines Lebens, lieber Herr Recking – das Ihnen jetzt richtig auszudrücken, ist mir einfach unmöglich. Dazu stehe ich noch zu sehr unter dem Eindruck des eben Erlebten.«

»Ja, darunter stehen wir wohl alle,« pflichtete Pfarrer Burger bei.

Da trat Komtesse Marlise ein. Graf Werner ging ihr entgegen und führte sie, die noch immer leichenblaß war, ihre Hand ergreifend, heran. »Daß hier mein Lebensretter steht, das verdanke ich dir, Marlise, die du diesen Zaubermeister gerufen hast.«

»Und der sich selber am glücklichsten schätzt«, fuhr Ralf Recking fort, »daß Sie ihm diese gewiß nicht alltägliche Gelegenheit gaben, endgültig einen Spuk zu bannen.«

»So ist alle Gefahr vorüber?«

»Ganz und gar, Komtesse. Die Verbrecher sind auf dem Wege hierher – das heißt. Sie brauchen keine Angst zu haben, daß Sie noch etwas Böses anrichten, und das teuflische Verbrechen, das sie teils mit Erfolg, teils zu ihrem eignen Leidwesen ins Werk setzten, hat in allen hauptsächlichen Punkten seine Aufklärung gefunden.«

»Und Sie sagen, eine unschuldige Taube wäre dazu ausersehen gewesen, das verpestende Gift in Ihr Zimmer zu tragen, wenn ich den Grafen Werner richtig verstanden habe?« fragte Florian Burger, während Komtesse Marlise Anweisung gab, noch einen Imbiß aufzutragen.

»Allerdings. Eine der hier beheimateten Brieftauben. Sie trug ein winziges Röhrchen mit dem todbringenden Gas, wie ich deren schon einzelne zerbrochene unter den Fenstern zersplittert gefunden hatte. Heute zerklirrte das Röhrchen fast vor meinen Füßen. Das letzte, was ich sah, war der erblindete, im letzten Augenblick noch auffahrende Hund. Er sank auf der Stelle leblos zusammen. Doch ich erzähle Ihnen das am besten im Zusammenhang, sobald mein Freund Eckhardt eintrifft. Ich habe das Zimmer selbstverständlich abgeschlossen. Hier ist der Schlüssel. Ich bitte Sie aber, Herr Graf, den Zutritt ins obere Stockwerk zu sperren. Allerdings scheint es sich um ein Gas zu handeln, das sich nicht lange einlagert, sondern merkwürdig schnell von der Luft aufgesogen wird, wie ich aus dem traurigen Attentat vom sechsten Juni folgere. Morgen vormittag werde ich die erforderlichen Proben anstellen, ob die Lust wieder rein ist.«

»Horch!« rief Graf Werner. »Das ist ein Hupenzeichen!«

Im nächsten Augenblick rollte Hauptmann Eckhardts Kraftwagen in den Hof. Recking lief dem Kameraden aus der Treppe entgegen.

»Recking! Ich habe sie zwar beide. Aber denken Sie, was es unterwegs gab!«

»Doch kein Unglück? Ich will nicht hoffen!«

»Fluchtversuch!« sagte der Hauptmann. »Der eine, der sich Molitor nennt und wie ein Häufchen Unglück an allen Gliedern bebend gefesselt im Wagen hockt, machte keine Schwierigkeit. Er warf sich nur heulend zu Boden, als wir auf ihn lossprangen. Mit ihm ist Sengstake allein fertig geworden. Härter war dieser Wend. Und hätte nicht noch mein Wagenführer mit zugepackt, wäre die Sache vielleicht schlimm abgelaufen. Na, unsere vorgehaltenen Brownings sprachen aber doch eine zu eindringliche Sprache. Da gab er klein bei. Als ich Sie anrief, war alles in Ordnung. Aber unterwegs, als der Halunke hört, daß es zum Schloß Benepartus geht ... und ich vergesse nie, welches fahle Entsetzen ihn bei diesem Namen packte ... da schnellte er wie ein angeschossenes Tier auf und warf sich mit Todesverachtung mitten während der sausenden Fahrt sozusagen über Bord. Und so unversehens ging das vor sich, daß Kramer um ein Haar mit aus dem Auto gerissen wurde. Wir sprangen ab, aber das Unglück war bereits geschehen. Wend ist rücklings auf den Schädel gefallen, die Hinterräder sind ihm über den Leib gefahren.«

»Lebt er?«

»Er ist übel zugerichtet. Eine klaffende Kopfwunde und sicherlich schwere innere Verletzungen. Wir sind vorsichtig gefahren. Sehen Sie, da heben sie ihn aus dem Wagen!«

Ralf Recking beugte sich über den blutenden Körper des Mannes. Er ließ ihn in die nächstgelegene Kutscherstube tragen und schickte zu Dr. Haßbacher. Das ganze Haus war in Aufregung. Recking machte ein sehr ernstes Gesicht. Er sorgte dafür, daß niemand zu dem Verletzten und niemand zu dem Arrestanten trat, den Sengstake im Wagen bewachte. Als Dr. Haßbacher eintraf, war der Verletzte noch nicht wieder zur Besinnung gekommen. Der Arzt schüttelte den Kopf und erklärte, es sei ausgeschlossen, daß der Mann mit dem Leben davonkomme.

»Es ist dasjenige,« sagte Recking zu Eckhardt, »was der Mensch wollte. Haben Sie seine Papiere?«

Der Hauptmann nickte. »Die verschiedensten. Sagen Sie mir, wie der Mann zu den Papieren eines Grafen Klemens Ullrich Ferenberg kommt? Und auf den Schiffskarten, die er gelöst hat, nennt er sich gar nach seinem Opfer von der Naunynstraße, Scholta.«

»Das letzte ist mir besonders interessant. Es bestätigt mir eine schon gehegte Vermutung. Kommen Sie in jene Rentmeisterstube, ich werde Ihnen alles sagen, was Ihnen noch rätselhaft ist. Ah, da sind ja auch Graf Werner und der Herr Pfarrer! So mögen sie meinen Bericht gleich mit anhören. Bitte, treten Sie ein, meine Herren, ich will Ihnen kurz die Zusammenhänge erklären. Und Sie haben wohl die Güte, Eckhardt, und lassen den Scholta vorführen –«

» Wen?« Nie hatte sich auf Eckhardts Zügen maßloseres Erstaunen ausgedrückt. »Ich höre wohl nicht recht?«

»O doch, es ist, wie ich sagte. Der, den Sie für einen gewissen Molitor halten, ist niemand anders als der ermordet geglaubte ehemalige Kastellan Scholta.«

»Herr des Himmels! Dann wäre also die im Koffer gefundene Leiche –«

»Die des an Schwindsucht dahingesiechten argentinischen Apothekers Antonio Branco! Der Mann aber, dem Doktor Haßbacher nur noch wenige Stunden voraussagt, ist niemand anders als ein entgleistes Mitglied der gräflichen Familie Ferenberg: der nach Südamerika ausgewanderte Klemens Ullrich Ferenberg.«

Den jungen Schloßherrn traf es wie ein elektrischer Schlag. Pfarrer Burger mußte den Wankenden stützen.

»Hier ist Wasser,« sagte der Detektiv. »Vielleicht nehmen die Herren Platz. Nach diesen bestürzenden Eröffnungen ist das andere bald gesagt.«

In diesem Augenblick erschienen in der Tür Kriminalschutzmann Sengstake und der am ganzen Leibe schlotternde Scholta.

»Hören Sie genau zu, Scholta,« wandte sich der Detektiv an den Gefesselten, der kaum auf seinen Füßen stehen konnte und bei Nennung seines Namens wie unter einem Peitschenhieb zusammenzuckte. »Sie werden jetzt Ihr Sündenregister hören und können Ihre Aussagen machen, wobei Sie uns zu beweisen vermögen, daß meine Anklage nicht zutrifft. Sie sind des Diebstahls dreier kostbarer Steine aus dem Becher Ihres ehemaligen Herrn nicht nur schuldig, sondern stehen auch unter dem Verdacht, zwei der schwersten Verbrechen, die wir Menschen kennen, auf Ihr Gewissen geladen zu haben, während Sie vorhin bei der Ausführung eines dritten, tückischen Mordversuchs ergriffen wurden, wodurch die Tat vereitelt werden konnte. Mit Hilfe der hier nistenden Tauben, deren Sie eine Anzahl geschickt abgerichtet hatten, haben Sie mit dem angeblichen Wend zusammen Graf Klodwig ums Leben gebracht und heute auf die gleiche Art den Grafen Werner Ferenberg beiseite zu räumen getrachtet. Außerdem ist von Ihnen und Wend der unglückliche Antonio Branco ermordet und seine Leiche in einen Koffer gezwängt worden, damit Ihre Spur verwischt werde.«

Laut aufschluchzend begrub Scholta sein Gesicht in den Händen und sank in die Knie. »O mein Herr, es ist nicht wahr! So wahr ich hier liege, ich bin nur das elende Werkzeug des Grafen Klemens. Er allein hat mich zu dem Diebstahl verleitet und dann unter Drohungen und Erpressungen zu allem gezwungen. Ich bin nichts als das Werkzeug seines schrecklichen Willens!«

»Aber ein sehr gefügiges, das muß man Ihnen lassen! Und zu der Ermordung Brancos? Sagen Sie da nichts? Wollen Sie da nicht ein reumütiges Geständnis ablegen?«

»Er ist nicht ermordet worden!« Scholta wand sich zu Reckings Füßen, der angewidert einen halben Schritt zurück trat. »Er starb uns unter den Händen in der Droschke. Dann legte ihn Graf Klemens in den Koffer.«

»Sie werden das zu beweisen haben! Führen Sie den Menschen hinaus, Sengstake! – Und nun, meine Herren, will ich zugeben, daß das eben gehörte Geständnis mir nicht unwahrscheinlich klingt. Sie wissen, daß ich hierherkam, um den uralten Becher zu besichtigen, aus dem Scholta die rückwärtigen Steine herausgebrochen hatte. Ich fand zugleich die beiden mir sehr wichtigen Angriffspunkte, daß der angebliche Ingenieur Wend ein Schwindler, und daß die Martha Gillis mit ihm im Einvernehmen war. Was den Becher anbelangt, so ließ sich auf den ersten Blick erkennen, daß seine plötzliche, ausgerechnet nach dem Ableben des Grafen Klodwig erfolgte Erblindung in der Weise zustande gekommen war, wie Metalle bei einem Gasangriff angegriffen zu werden pflegen. In derselben Weise waren auch die messingnen Füße des Bettes und der Nagel des über dem Bett hängenden Spruches ziemlich stark in Mitleidenschaft gezogen. Von Komtesse Marlise hörte ich von den vielfach aufgefundenen Tauben, deren Fütterung früher Scholta besorgt hatte. Besonders fesselte es mich, daß im Sterbezimmer des Grafen eine Taube tot aufgefunden wurde.

Ich fand dann im Park, unmittelbar unter den in Frage kommenden Fenstern, außer einigen Taubenfedern mehrere Glasröhrensplitter von der Größe der Hülsen, die Brieftauben mitgegeben werden. Das war ein weiterer wesentlicher, ich möchte sagen der ausschlaggebende Fund, und ganz angefüllt von einem furchtbaren Verdacht suchte ich Doktor Haßbacher auf. Sie wissen, daß er sehr bald geneigt war, meine Annahme, daß hier ein unerhörtes Verbrechen begangen sei, zu teilen.

Es lag natürlich nahe, zu fragen, wem aus einer so ungeheuerlichen Tat ein ersichtlicher Nutzen erblühen konnte. Von der Feindschaft, die zwischen Graf Klodwig und seinem verschollenen Neffen bestand, war ich durch Sie, Herr Pfarrer, unterrichtet. Doch selbst wenn mein Verdacht auf die richtige Fährte gelenkt war, konnte einer dieser kaltblütig berechnenden Gesellen doch erst dann triumphieren, wenn auch noch der andere beseitigt war, der zwischen ihm und dem Erbe stand, und das waren Sie, Graf Ferenberg. Der Zufall, nämlich die Belauschung des Ferngesprächs der Gillis, hatte mich erkennen lassen, daß jemand gespannt war, Ihre Ankunft in der Heimat zu erfahren. Es ist Ihnen bekannt, saß ich weitere Ferngespräche der Gillis auffangen ließ.

Ein weiterer wichtiger Umstand kam zutage, als ich den Koffer aus der Naunynstraße einer eingehenden Untersuchung unterzog, wo mich eine einfache, winzige Freimarke darauf brachte, daß ein Mann, der in Südamerika gewesen war, mit diesem Kabinenkoffer zu tun gehabt hatte. Sie entsinnen sich, daß einer Ihrer entarteten Vettern in Bolivia in mißlichen Verhältnissen gelebt hatte. Das Hotel, in dem der angebliche Wend wohnte, war mir inzwischen bekanntgeworden, und hier erfuhr ich zum erstenmal etwas Näheres über einen Mann, der zu Wend in engen Beziehungen gestanden hatte und der mit ihm aus Argentinien nach Deutschland gekommen war, den Naturforscher oder Apotheker Antonio Branco, einen armen, schwindsüchtigen Schlucker, über den wir vielleicht niemals Sicheres erfahren werden, falls uns Scholta nichts verraten kann. Sicher gilt mir, daß Graf Klemens Ullrich den alten Mann unter dem Versprechen von goldenen Bergen mit sich herübergelockt und ebenso zu seinem gefügigen Werkzeug zu machen verstand wie den geldgierigen Scholta.

Seit ich wußte, daß Antonio Branco, der vermöge seiner chemischen Kenntnisse die Gasmischung hergestellt haben dürfte, als Sterbender aus dem Hotel fortgeschafft wurde, gewann ein weiterer Verdacht bei mir Gewißheit, daß es nicht Scholtas Leichnam war, der in dem Koffer aufgefunden wurde. Ich hatte zudem bereits zuviel Verdächtiges über den sogenannten Herrn Molitor gehört, dessen Beschreibung merkwürdige Übereinstimmung mit derjenigen zeigte, die mir von Scholta gemacht worden war. Der Erfolg hat mir sehr bald recht gegeben.

Was den angeblichen Wend betrifft, so erfuhr ich, daß er zwar anfänglich mit reichlichen Mitteln hier aufgetreten ist, daß ihm aber allmählich die Mittel ausgingen. Scholta, einmal schuldig geworden, hat zuletzt alles aus seiner Tasche bestreiten müssen. Er selbst spricht von Drohungen und Erpressungen und sagt damit vielleicht die volle Wahrheit. Wie schon gesagt, hat es auch viel Wahrscheinlichkeit für sich, daß wir es in der Naunynstraße keineswegs mit einem Mord zu tun haben. Der argentinische Giftmischer starb den beiden Komparsen höchst gelegen, und seine sterbliche Hülle war wie dazu geschaffen, um Scholtas Spur zu verwischen. Auch sonst scheint der Haupttäter dafür Sorge getragen zu haben, daß dieser Mithelfer so bald als möglich das Feld räumte. Darauf deuten die bereits gelösten Schiffskarten, die zunächst bis Southampton lauten – vermutlich erlaubte die allgemeine Kassenebbe kein ferner liegendes Ziel. Die gestohlenen Pyrope brachten nicht viel mehr ein, als die beiden Fahrkarten und die Rechnung im Hotel ›Zur alten Brücke‹ ausmachten. Die goldene Flut sollte eben erst nach geglücktem Bubenstück kommen. Scholta hat sich sicherlich auch deswegen so gefügig gezeigt, weil er sonst all sein vorgeschossenes Geld zu verlieren fürchtete.«

»Die Schiffskarten tragen allerdings den Namen Scholtas,« warf der Hauptmann ein, »sie sollten aber doch von Wend benutzt werden.«

»Das glaube ich nicht. Ich halte im Gegenteil für wahrscheinlich, daß sich Wend fälschlich als Liebhaber der Gillis aufspielte, die er gut zu seinen Plänen gebrauchen konnte. Er ließ sie in dem Glauben, daß er sie mit sich nehmen wollte, während im letzten Augenblick Scholta vorgeschoben werden sollte. Damit war wohl auch dem Scholta gedient, der ein Auge auf die Gillis geworfen, aber keine Gnade vor ihren Augen gefunden hatte. Doch wir wollen der Untersuchung nicht vorgreifen, die dieses Rätsel lösen wird. Ob sich Graf Klemens Ullrich später dreist hier niederlassen oder aber von auswärts her seine Erbansprüche geltend machen wollte, entzieht sich natürlich meinem Wissen. Ein so geriebener Bursche hätte aber sicherlich auf die eine oder andere Art sein Ziel erreicht.«

Er hatte gerade geendigt, als Dr. Haßbacher eintrat. Er überbrachte die Nachricht, daß bei dem Schwerverletzten infolge einer starken inneren Blutung soeben der Tod eingetreten sei.

Eine Weile verharrten alle in tiefem Schweigen; am niedergedrücktesten war begreiflicherweise der junge Schloßherr. »Ich habe meinen Großvetter nie gekannt,« sagte er. »Mein Oheim vermied es aufs ängstlichste, daß ich mit ihm in Berührung kam. Er nannte ihn einen Verkommenen. Ich vermag nicht zu sagen, was da alles vorgefallen ist und das harte Urteil rechtfertigte. Er ist von Stufe zu Stufe gesunken und hatte – wenn das auch nichts Wesentliches sagen will – seinen Standestitel längst von sich geworfen. Nie aber hätte ich geglaubt, daß er jemals derartig meinen Weg kreuzen könnte.«

»Er war ein Verirrter und ward ein Verworfener,« stimmte Florian Burger zu. »Und wenn auch die verzeihende Seele nach einem Wort drängt, die Schuld dieses Mannes zu mildern, so stehen wir noch alle zu sehr unter dem furchtbaren Eindruck des Erlebten und Gehörten, um nicht diesen Tod als eine Erlösung für die Zurückbleibenden zu empfinden. Möge ihm der ewige Richter gnädig sein!«

Als die vier Männer ins Freie traten, war die Nacht dem jungen Morgen gewichen. Rotgoldene Strahlen säumten die Zinnen des Schlosses Benepartus.


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