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I.

Der Privatdetektiv Ralf Recking saß noch an seinem Frühstückstisch, an dem er, noch bevor er zur Morgenzeitung griff, die eingelaufene Frühpost zu überfliegen pflegte, als er aufblickte und inne ward, daß jemand leise die Tür hinter ihm geöffnet hatte. Er lächelte, während die letzten feinen Schwingungen eines zarten Tones durch den künstlerisch vollendet eingerichteten Raum irrten, und sagte, ohne sich umzuwenden: »Treten Sie ruhig näher, lieber Eckhardt. Sie kommen wie gerufen.«

Der Angeredete, Polizeihauptmann Eckhardt, der tatsächlich in der geräuschlos geöffneten Tür stand, zuckte unwillkürlich zusammen und trat dann vollends ins Zimmer. »Wahrhaftig, Recking, das geht nicht mit rechten Dingen zu. Ich kann es anstellen, wie ich will – immer schlagen Sie mich! Nun gebe ich die verflixte Wette endgültig verloren. Man kann Sie einfach nicht überraschen.«

»Das war ja auch der Kernpunkt unserer kleinen Wette. Sie sollten zu drei verschiedenen Malen und zu beliebigen Zeiten versuchen, unbemerkt zu mir ins Zimmer zu gelangen. Heute ist Ihr dritter Versuch mißglückt. Und damit nehmen Sie gefälligst Platz und seien Sie mir herzlich willkommen!«

»Nicht eher, als bis Sie mir verraten haben, mit welcher List Sie mich heute wieder entlarvt haben. Ich möchte darauf schwören, daß die Tür, die ich mit der denkbar größten Vorsicht öffnete, auch nicht den allergeringsten Ton von sich gegeben hat.«

»Wohl möglich. Auch ist heute, wie Sie sehen, mein treuer Luchs nicht im Zimmer, der, als Sie den ersten Überrumpelungsversuch planten, in seiner unnachahmlich geschickten Art unhörbar anschlug.«

»Und ebensowenig steht heute eine blanke Nickelkanne vor Ihnen, in der die Tür, durch die ich mir Eingang verschaffte, wiedergespiegelt wurde. Das ist einfach rätselhaft. Und wie wußten Sie, daß ich der Eintretende war? Hatte ich Ihnen nicht gesagt, daß ich heute in Potsdam sein wollte?«

Ralf Recking lächelte wieder. »Richtig! Ich besinne mich, daß Sie beiläufig von diesem Ausflug sprachen. Aber wenn zwei eine Wette abgeschlossen haben, wittern sie nun einmal überall einen Hinterhalt. Und dann haben Sie trotz Ihrer achtungswerten Dienstjahre noch ein viel zu ehrliches Gesicht, als daß Sie mich so ohne weiteres hinters Licht führen können. Eben, weil Sie die Fahrt nach Potsdam so ganz beiläufig zur Sprache brachten, durchschaute ich den Zweck der Bemerkung und dachte mir mein Teil. Ich erwartete Sie heute, wenn auch nicht so früh, und hatte Zeit, meine Vorkehrungen zu treffen. So denke ich, Sie haben sich nun überzeugt, daß weder Sie noch sonst einer mich hinterrücks überfallen kann. Denn davon gingen wir ja bei dieser Wette um drei Flaschen Malvasier aus, daß Sie Ihre Besorgnisse in dieser Richtung hatten. Wie gesagt, ich habe mich gegen unberufene Eindringlinge gesichert. Hörten Sie nicht ein angenehmes Geräusch, als Sie die Tür aufmachten?«

»Ich glaubte, Sie summten eine Melodie vor sich hin,« antwortete der Hauptmann, endlich Platz nehmend.

»Ich ja weniger. Das hat für mich eine kleine Vorrichtung besorgt, die ich zur Kurzweil am Fenster anbrachte. Sehen Sie das kleine Ding da oben?«

»Den schmalen Kasten? Ist das eine Ihrer neuesten Erfindungen, oder treiben Sie Ihren Scherz mit mir?«

»Weder das eine noch das andere, Freund Eckhardt. Betrachten Sie einmal den Kasten aus der Nähe und lassen Sie sich, wenn Sie es nicht schon wissen, verraten, daß Sie es mit einer Erfindung des heiligen Dunstan, Erzbischofs von Canterbury, der im zehnten Jahrhundert lebte, zu tun haben. Nun wissen Sie wohl Bescheid?«

»Nicht im geringsten,« gestand Hauptmann Eckhardt, der sich dem geheimnisvollen, schmalen, langen Kasten genähert hatte. »Ich sehe hier Drähte und vermute, daß da irgendein elektrischer Zauber dahintersteckt.«

»Das hieße die Kenntnisse des wackern Dunstan überschätzen. Auch sind es nicht Drähte, sondern Darmsaiten, die ich über zwei niedrige Stege gespannt habe. Außerdem besitzt der Kasten einen Resonanzboden, und das Ganze nennt sich nach dem alten Windgott eine Äolsharfe.«

»Du liebe Güte! Also so sieht solch ein Ding aus? Und das verriet Ihnen mein Kommen?«

»Ganz recht. Es meldete mir, daß die Tür geöffnet ward. Dann beginnen bekanntlich die vom Luftzug gestreiften Saiten zu tönen. Das ist das ganze Geheimnis –«

»Mit dem Sie die Wette gewannen! Großartig! Im Leben wäre ich nicht auf so etwas verfallen. Und dabei doch so einfach!«

Ralf Recking nickte. »Das höre ich nicht zum erstenmal, wenn ich den Schleier von einem Geheimnis gelüftet habe. Und nun denke ich, ich mache Sie mit einer Angelegenheit bekannt, die mir heute mit der Post ins Haus geschneit ist. Es ist dieser Brief von einem Herrn Florian Burger, der mir seinen Besuch ankündigt und eine Nummer des Berliner Stadtanzeigers beigelegt hat, in der etwas angestrichen ist, das Sie fesseln dürfte. Es handelt sich, wie Sie sehen werden, um die Auffindung eines Toten in einem Koffer –«

»Doch nicht um den gewissen Scholta von der Naunynstraße?«

»Um eben den. Wir sprachen schon davon. Sie sagten, die Sache sei in guten Händen. Ich nahm deshalb wenig Notiz davon. Auch erinnerte mich das, was Sie berichteten, gar zu sehr an das Muster eines Hintertreppen- oder Schauerromans. Für solche Fälle habe ich nicht viel übrig.«

»Ich weiß ... Sie sind für feinere Arbeit. Hm, ja ... unsereins kann sich die Abenteuer nicht so aussuchen, wie er möchte.« Hauptmann Eckhardt überlas den Zeitungsartikel, in dem er einen von ihm selbst am Dienstag der letztvergangenen Woche redigierten Text erkannte. In dem Bericht war gesagt, daß im Hause Naunynstraße 231, in dem der Reviervorsteher eine von dem ehemaligen Kastellan Scholta bewohnte Zweizimmerwohnung habe öffnen lassen, weil man vermutete, daß dem Bewohner etwas zugestoßen sei, in einem Koffer der Leichnam einer männlichen Person aufgefunden worden sei ... ein schauerlicher Fund, wie er in der Tat an die von Recking genannten Schundroman-Nervenkitzel erinnerte. Es fehlte weder die durchschnittene Kehle noch der Umstand, daß der Leichnam teilweise zerfallen, teilweise mumienartig zusammengeschrumpft war. An äußerlichen Merkmalen, an der Kleidung, hatte man mit Hilfe von Hausbewohnern festgestellt, daß der Tote identisch war mit einem vierundvierzigjährigen Manne namens Scholta, der vormals Kastellan in Treptitz war und sich seit dem Mai des Jahres in Berlin als Kaufmann niedergelassen hatte. Der Bericht schloß mit den Worten:

»Über Scholtas hiesige Tätigkeit war bisher nichts Näheres zu ermitteln. Er hat seine Miete für ein Vierteljahr vorausbezahlt. Er scheint über einiges Vermögen, vornehmlich Ersparnisse, verfügt zu haben. Jedoch wurde nicht die geringste Geldsumme vorgefunden. Als Täter wird ein Mann gesucht, den Hausbewohner wiederholt mit Scholta das Haus haben betreten sehen. Er wird als mittelgroß, bartlos und mit einem braunen Radmantel bekleidet beschrieben. In der Hand des Toten wurde ein Haarbüschel vorgefunden, das der Überfallene während des vorausgegangenen Kampfes dem Mörder ausgerissen haben dürfte. Außerdem wurde am Tatorte ein Paar graue, baumwollene Handschuhe gefunden, die Blutspuren aufweisen und vom Täter bei der Verübung des Verbrechens getragen wurden.«

Zuletzt kam der Hinweis auf eine hohe Belohnung für zweckdienliche Mitteilungen.

»Der erste Bericht, den wir ausgaben,« sagte Hauptmann Eckhardt. »Denkt der Mann, der Ihnen die Beilage zuschickt, Ihnen damit etwas Neues zu sagen?«

Statt der Antwort reichte Ralf Recking seinem Besucher den Brief.

»Was, der Tausend! Poststempel Treptitz? Dort liegt ja ausgerechnet das Schloß, das den hübschen Namen Benepartus führt, und in dem der hingemordete Scholta seine letzte Stelle innehatte! Ich war selbst dort und habe eingehende Erhebungen angestellt. Ich erwähnte schon, daß sie nichts zutage förderten. Der Tote ist zwar nicht gerade auf dem Schloß beliebt gewesen, hat anderseits aber auch zu Klagen keinen Anlaß gegeben. Seine Kündigung zum Mai ist ordnungsmäßig erfolgt, ebenso waren die vorgeschriebenen Ab- und Anmeldungen in Ordnung. Ich erwähne das, weil mir der Herr des Scholta keine Auskunft über ihn zu geben vermochte. Der alte Graf Ferenberg ist nämlich im Juni verschieden. Wie gesagt, ich habe die Dienerschaft und eine auf Benepartus lebende Nichte des Schloßherrn ausgehorcht, auch in der Gemeinde Treptitz Erkundigungen eingezogen, ein Name Florian Burger ist mir nicht in der Erinnerung.«

»Dann lesen Sie einmal, was er schreibt.«

»Ich bin schon dabei ... Ah! Das ist allerdings höchst eigenartig! Er schreibt, er bitte Sie, ihn zu erwarten, weil er Ihren Rat in einer Sache hören wolle, die ihn schwer beunruhige, die er aber nicht für reif genug halte, um sie der Öffentlichkeit zu unterbreiten. Die Wichtigkeit jedoch rechtfertige seine Schritte, und er hoffe, den anerkannt besten deutschen Privatdetektiv – gar keine schlechte Bemerkung, lieber Freund! – schon dadurch für seine Mitteilungen einzunehmen, als sie vielleicht geeignet seien, Licht in das Dunkel der Scholtaschen Beraubung zu bringen. – Alle Wetter! Wenn er das fertigbringt, dann ist er gerade der Mann, der mir fehlt. Aber wer mag es denn überhaupt sein?«

»Einigermaßen kann man sich ja aus dem Briefe ein Bild machen.«

»Sie wollen mir doch nicht mit etwas Graphologischem kommen? Darin bin ich ein unbelehrbarer Zweifler.«

»Das habe ich schon immer an Ihnen bedauert; alles, was über die Vergleichungen von Schriftproben hinausgeht, läßt Sie kühl bis ans Herz hinan. Dadurch ist Ihnen schon manche anregende Stunde entgangen. So werde ich Ihnen also sagen müssen, was mir diese Zeilen zu verraten scheinen. Herr Florian Burger hat sich, um das vorauszunehmen, in gewähltestem Deutsch ausgedrückt und verrät einen gebildeten Geist –«

»Ja, das hätte ich Ihnen auch sagen können!«

»Er ist etwa fünfzig Jahre alt, wohnt nicht im Schloß Benepartus selbst, sondern in dem Ortsteil von Treptitz, in dem das Kirchlein zu suchen ist. Sie sehen es auf der Sonderkarte der Umgebung von Treptitz-Großpallehne genau eingetragen. Ich tappe also durchaus nicht nur auf handschriftdeuterischen Mutmaßungen umher. Ich nehme an, wir haben es mit dem Pfarrer von Treptitz in eigner Person zu tun.«

»Das läßt sich ja leicht aus einem Handbuch feststellen.«

»Ich werde mir eins anschaffen, und zwar eins für die katholischen Geistlichen, da Treptitz in dem Ortsteil Ost, wo der Brief aufgegeben wurde, katholisch ist.«

»Das war mir entgangen. Aber Sie haben recht, Recking. Auch der entschlafene Schloßherr von Benepartus war ein frommer Katholik und ebenso seine Nichte, Komtesse Marlise Ferenberg. Überhaupt erstreckt sich von Treptitz aus eine Art katholische Insel nach Osten. Ursprünglich sind die Dörfer, die sich in jener Spreeniederung befinden, wendisch.«

»Gewiß. Wir können die Spuren der ersten Ansiedler ja noch bis in unser altes Berlin hinein verfolgen. Und daß Sie sich plötzlich entsinnen, daß die Komtesse Ferenberg den Vornamen Marlise trägt, ist prächtig. Herr Florian Burger hat offenbar mit ihr über sein Vorhaben gesprochen; sie hat ihm wahrscheinlich sogar zugeredet. Denn Florian Burger ist ein vorsichtiger, etwas zögernder Charakter, außerdem ein Anhänger des mystischen Elements seines Fachs, dem die menschliche Schwäche des Aberglaubens nicht ganz abzugehen scheint.«

Polizeihauptmann Eckhardt schlug sich mit der Hand aufs Knie. »Jetzt machen Sie sich wieder einmal weidlich über mich lustig, guter Recking. Oder soll ich wahrhaftig glauben, daß Sie sich diesen ganzen Roman aus der Handschrift zusammenbuchstabieren konnten?«

»Im übrigen«, fuhr der Detektiv fort, der seinem Besucher das ungläubige Lächeln durchaus nicht übelnahm, »hat Burger den Brief im Schlosse geschrieben, denn auf der Rückseite des Briefumschlags ist eine kleine neunzackige Krone und darunter ein verschlungenes MF eingepreßt. Das Ganze ist die Briefpost einer Dame. Die Komtesse dürfte Herrn Florian Burger, mit dem sie, wie gesagt, über sein Vorhaben geredet hat, veranlaßt haben, noch im Schlosse an mich zu schreiben. Er hat das getan, aber noch damit gezögert, den Brief gleich in den nächsten Kasten zu werfen. Und der nächste war zweifellos im Gutsbereich zu suchen. Dann wäre der Brief aber mit Treptitz Mitte und nicht mit Treptitz Ost abgestempelt.«

»Jetzt klingt die Darstellung allerdings schon wahrscheinlicher. Aber woraus folgerten Sie sein Alter?«

»Ganz genau aufs Jahr kann man das nur höchst selten aus einer Handschrift herauslesen. Immerhin wissen Sie ja wohl, daß sich die Handschriften ein und derselben Schul- und Jahresklasse in den meisten Fällen ähneln, mögen sie sich noch so sehr abgeschliffen haben. Jede Zeit hat ihre besonderen Launen und Liebhabereien, die sich zunächst die Schreiblehrer und dann deren Schüler zu eigen machen und unbewußt beibehalten. Diese ß und diese Art M kamen beispielsweise in den ersten Jahren nach dem Kriege von 1870 auf. In den achtziger Jahren hatten die Schullehrer mit diesen Schnörkeln schon aufgeräumt. Wenn der Briefschreiber aber zwischen 1872 und 1880 den ersten Schreibunterricht genoß – und für einen, der sich gerade das Kapitel der Schriftlaunen zum Steckenpferd gemacht hat, unterliegt das eigentlich gar keinem Zweifel –, dann muß er jetzt in dem von mir genannten Alter stehen, ohne es überschritten zu haben.«

Hauptmann Eckhardt lächelte. »Hört sich ganz nett an, aber ich kann mir nicht helfen –«

»Er hat die Fünfzig noch nicht erreicht; ich glaube, bestimmt auf siebenundvierzig schätzen zu dürfen. Er ist siebenundvierzig,« sagte Ralf Recking in einem derart überzeugten Ton, daß sich Eckhardt unwillkürlich nach ihm umdrehte. Der Detektiv stand vor dem einen Fenster und setzte gerade eine neue Zigarette in Brand.

»Das hat Ihnen wohl eben die von Ihnen da oben aufgehängte Geisterharfe des heiligen Dunstan eingehaucht?«

»Nein, das haben mich meine Augen sehen lassen. Gerade steuerte ein ländlicher Herr aufs Haus zu und richtete suchend seinen Blick nach der Hausnummer. Er entsprach in allen Stücken der Vorstellung, die ich mir von Florian Burger gemacht habe. Hören Sie, da klingelt es! Und nun bleiben Sie selbstverständlich, denn Sie werden sowohl dem Mann aus Treptitz als auch mir unter Umständen von Nutzen sein können. Ah, da haben Sie wieder das kleine Konzert, das der alte Äolus anstimmt!«

Der Diener des Privatdetektivs hatte die Tür aufgerissen und meldete: »Herr Pfarrer Florian Burger!«

»Ich lasse bitten!«

Im nächsten Augenblick stand der Erwartete auf der Schwelle. Er war ein mittelgroßer Mann in enganliegendem, keineswegs unmodischem schwarzem Schoßrock, wie er von Geistlichen bevorzugt wird, auch wenn sie nicht ihr seelsorgerisches Amt zur Schau zu tragen genötigt sind. Er hatte hellblonde, an den Schläfen leicht mit Grau durchsetzte Haare, ein regelmäßiges, ovales Gesicht und graublaue Augen, in die die ungefaßten starken Brillengläser ein seltsames Schillern legten. Das gab ihnen etwas Junges und Lebendiges, ohne einen gewissen träumerischen Zug zu verwischen, der ihre Haupteigenart zu sein schien. Den Oberkörper hielt er ein wenig vorgeneigt, und die Schritte, mit denen er Recking entgegenkam, hatten etwas Verlegenes; offensichtlich verwirrte ihn das Geräusch, das noch von der Äolsharfe ausging und von dem er nicht wußte, woher es kam, und zugleich der nicht erwartete Anblick des Polizeioffiziers.

»Bitte, machen Sie es sich bequem, Hochwürden,« begrüßte ihn Recking. »Wir sind ungestört, und die etwaige Sorge, Ihre Angelegenheit käme durch meinen Freund Eckhardt von der hiesigen Polizeidirektion an die Öffentlichkeit, ist völlig unbegründet. Wenn Hauptmann Eckhardt, wie es heute der Fall ist, lediglich als Besucher bei mir weilt, hält er sich zur Wahrung jeglichen Geheimnisses, das er bei der Gelegenheit hört, feierlichst verpflichtet. Durch seine genaue Kenntnis der von Ihnen beiläufig bereits erwähnten Scholtaschen Sache ist er am Ende der gegebene Mann, uns unsere Konferenz zu erleichtern.«

»Von Herzen gern, was an mir liegt,« bekräftigte der Hauptmann. »Und tatsächlich hat mich der Zufall hierhergeführt.«

»Dann habe ich keine Veranlassung, über die Gegenwart des Herrn Hauptmanns verdrießlich zu sein. Immerhin – streng vertraulich müßte es bleiben, was ich Ihnen anzugeben habe. Ich sehe, daß mein Brief Sie rechtzeitig erreicht hat. Ich deutete Ihnen darin an, daß mich ein ernsthaftes Problem schwer beunruhigt.«

Ralf Recking nickte. »Und Sie, beziehungsweise die junge Gräfin Ferenberg, erinnerten sich meiner Adresse.«

Pfarrer Burger sah ehrlich erstaunt aus. »Wie können Sie wissen? Es stimmt zufällig. Die junge Gräfin Marlise brachte mich auf Ihren Namen, dessen guter Ruf natürlich auch mir bekannt war. Ich habe manches von Ihnen in den Zeitungen gelesen, und vor allem fesselte mich dabei die wissenschaftliche Methode, auf der Sie Ihre Kunst aufbauen. Wie Sie aber von meiner Unterredung mit Gräfin Ferenberg etwas wissen können, ist mir rätselhaft!«

»Dazu bedurfte es keines großen Scharfsinns. Sie unterschrieben sich übrigens nicht mit Ihrem geistlichen Titel.«

»Das war wohl nur eine Zufälligkeit.«

»Oder nennen wir es ruhig eine unbewußte Folge Ihrer anfänglichen Scheu, einem Fremden gegenüber Dinge zur Sprache zu bringen, über die ein aufgeklärter Mann Ihrer Stellung sonst mit Stillschweigen hinweggeht.«

»Du meine Güte! Können Sie denn die Gedanken hinter der Stirn lesen?«

»Ich habe lediglich aus dem, was Sie schrieben, und dem, was Sie sagten, meine Schlüsse gezogen. Ich bin der Ansicht, daß Sie zu dem Todesfall Scholta etwas zur Sprache bringen wollen, was nicht alltäglich, sondern vielleicht auf mystischem Gebiet gelegen ist.«

»Genau so verhält es sich,« sagte Pfarrer Burger leise. »Zum mindesten suchte ich bisher vergeblich nach gewissen Zusammenhängen. Ich werde jetzt kurz berichten.«

»Ja, aber nicht kürzer als nötig. Ich darf es mir vorbehalten, Sie durch Fragen zu unterbrechen. Und Sie, Eckhardt, haben die Güte und machen mir ein paar Notizen, wenn ich Ihnen mit der Hand ein Zeichen gebe.«

»Ich war,« begann Florian Burger, »seit dem Tage, an dem ich als junger Pfarrherr in Wendisch-Wülkmitz eingewiesen wurde, mit Graf Klodwig Ferenberg, der zugleich mein Patronatsherr war, aufs herzlichste befreundet. Diese Freundschaft mit dem um dreißig Jahre älteren Grafen, der ein Mann von außerordentlicher Belesenheit und Gediegenheit, dabei von seltener Seelengüte war, trotz einiger Eigenheiten und Wunderlichkeiten, vertiefte sich noch, als ich mit dem jungen Neffen des Grafen, dem Grafen Werner Ferenberg, als dessen Mentor eine Weltreise von fast zweijähriger Dauer unternehmen durfte. Das liegt jetzt zehn Jahre zurück; nach der Reise trat ich die Pfarrstelle zu Treptitz selbst an. Sie ist geringer als die vorhergenannte, doch ich verzichtete freiwillig auf die Vorteile einer besseren Pfründe, da mir der Verkehr auf Schloß Benepartus zur unentbehrlichen, lieben Gewohnheit geworden war. Graf Klodwig war wohlbewandert in allen theologischen und philosophischen Kontroversen, wenn auch sein Urteil nicht nach der Studierlampe duftete. Zudem war er von edelster Gesinnung und das rechte Gegenstück zu den Menschen von heutzutage, die so gern Worte wie Humanität im Munde führen, während alle Symptome auf das Gegenteil schließen lassen: hochgespannte Forderungen nach außen und ein Übermaß milder Nachsicht – gegen sich selbst! Nun, ich will nicht abschweifen! Auch soll mich nicht die Pietät verleiten, sein Bild mit allzu klaren Farben zu entwerfen. Er hatte auch seine kleinen Schwächen, der gute Mann. So durfte man ihm beispielsweise nicht von seinen Vettern, den Ferenbergs aus Großweitschen, sprechen, die, wie er früher erzählt hatte, zu den tollsten und verschwenderischsten Offizieren in einem verschwenderischen Regiment gehörten und denen er bei den wenigen Gelegenheiten, da sie zusammentrafen, soviel als möglich aus dem Wege ging. Er pflegte von diesen Vettern zu sagen, daß sie aus seinem Herzblut Geld prägen würden, wenn sie nur könnten. Eine andere Schwäche, die Klodwig Ferenberg niemals bis zu seinem Ende los wurde, war eine Art Aberglaube. Er spottete dieser Schwäche wohl gelegentlich selbst, kam jedoch auch mitten in ernsthafter Unterhaltung auf Dinge zu sprechen, die an sich schwerlich mit den menschlichen Verhältnissen in irgendwelchem Zusammenhang standen und denen er dennoch nicht das Walten geheimer Naturmächte absprach. Ganz in der Weise der sogenannten Supernaturalisten beispielsweise glaubte er fest, daß das Schicksal seines Hauses eng mit dem Geschick eines alten Bechers verbunden sei. Ich muß Ihnen gleich gestehen, daß es ein ganz absonderlicher Zufall gefügt hat, daß der Graf in dieser Beziehung recht behalten sollte, obwohl mir persönlich an sich nichts ferner liegt, als den Glauben an etwas Übernatürliches, Übersinnliches zu teilen.«

»Ich lernte Geistliche in Italien kennen,« warf Ralf Recking ein, als Florian Burger eine Pause machte, »die felsenfest davon durchdrungen waren, daß es unmittelbare, auf übernatürliche Weise gegebene Offenbarungen höherer Wesen gibt, und ich werde Ihnen gelegentlich erzählen, wie sich ihr geradezu krasser Aberglaube überraschend mit den Ergebnissen deckte, die meine Untersuchung im Falle einer geheimnisvollen Entführung einer Fremden in Bordighera zutage brachte. Wollen Sie mir, bitte, von dem Becher mehr erzählen. Ist er abhanden gekommen?«

»Nein, das alte Kleinod ist noch da; aber Sie vermuten richtig, daß es eine Hauptrolle spielt in dem, was ich Ihnen vortragen möchte. Seit dem zwölften Jahrhundert befand sich etwa vier Kilometer von Treptitz gegen Norden ein Kloster, das später, in den Schwedenkriegen, bis auf die Grundmauern zerstört wurde, gen vierzehnten Jahrhundert hat dieses Kloster, wie die Überlieferung sagt, sehr schwer durch die Pest gelitten, und da hat der damalige Raugraf Remigius Ferenberg den bedrängten Mönchen zehn Morgen hochgelegenen Landes gespendet, deren Lage für besonders gesund galt und wo sie sich ein festes Haus bauten, um sich bei der nächsten Heimsuchung durch die Pest dorthin flüchten zu können. Auch dieses Haus steht nicht mehr, aber von der Dankbarkeit der Mönche zeugt noch ein alter Becher, den sie dem Raugrafen stifteten. Er ist 1100 Gramm schwer und aus feuervergoldetem Silber. Den Deckel krönt ein kleines Muttergottesbild, die Wandung zeigt in getriebener Arbeit die Burg Benepartus, wie sie um 1380 ausgesehen hat. Kenner haben den Becher als ein kunstgewerbliches Meisterwerk bezeichnet. Für die Grafen Ferenberg war er vor allem ein Kleinod von großen Gemütswerten. Besonders wertvoll erschienen fünf große Schmucksteine, die in die Wandung eingelassen waren: Pyrope von ältester böhmischer Herkunft, die wie Brombeerfrüchte aussahen und ein herrliches Feuer von sich gaben –«

»Und diese Edelsteine sind herausgebrochen? Sie würden sonst nicht in der Vergangenheitsform erzählen.«

»Zum Teil! Glücklicherweise nur drei, ich komme noch darauf.«

»Das ist merkwürdig, daß der Mann halbe Arbeit gemacht hat. Man könnte denken, er sei gestört worden. Meinen Sie nicht, Eckhardt? Doch verzeihen Sie, lieber Pfarrer, daß ich Ihren Bericht unterbrach. Tatsächlich fesselt er mich bereits jetzt aufs lebhafteste. Es handelt sich, wenn ich Ihnen richtig folgte, um so eine Art Glücksbecher, wie ihn zum Beispiel die Lords aus Edenhall besaßen. Heißt es nicht bei Ludwig Uhland: ›Dies Glas von leuchtendem Kristall gab meinem Ahn am Quell die Fei; drein schrieb sie: Kommt dies Glas zu Fall, fahr wohl dann, o Glück von Edenhall!‹ Das schoß mir gleich durch den Sinn, als Sie von dem Becher anfingen.«

Florian Burger nickte. »Und der Vergleich liegt nahe. Auch bei dem Becher vom Schloß Benepartus handelt es sich um eine alte Verheißung, die in der Ferenbergschen Familienchronik ausgezeichnet steht. Sie lautet: ›Dieser Kelch, von frommen Händen dem wohltätigen Herrn geweiht, soll immerdar ein glänzendes Geräte sein. Eh' daß sein Glanz nicht über Nacht erlischt, soll auch der Glanz des ritterlichen Geschlechtes nimmer erlöschen.‹ Und Ähnliches besagt eine Inschrift auf dem Becher selbst – ein Hexameter: Donec splendescam comitis splendebit origo. Deutsch: Solange ich glänze, soll auch das Grafengeschlecht glänzen. Und tatsächlich war es etwas Seltsames um dies Stück Geschmeide, das nie geputzt zu werden brauchte und dennoch jederzeit in altem Glanze funkelte. Ein Glaseckschrank, der im Schlafzimmer des Grafen Klodwig steht, barg den Becher, ohne daß ihn ein seidenes Tuch umhüllte. Zweifellos war er mit irgend einer chemischen Substanz umgeben, die ihn gegen jedweden äußerlichen Einfluß feite, und die Kunstkenner, die ich erwähnte, nahmen von dieser Tatsache kopfschüttelnd Kenntnis, zum Teil ungläubig. Es gibt ja heutzutage genug Mittel, um silberne Gegenstände vor dem Blindwerden zu schützen, aber hierbei kommen doch nur solche Mittel in Frage, deren Wirksamkeit begrenzt ist. Die Haltbarkeit der Schutzschicht an unserem Becher aber hat die Probe von Jahrhunderten bestanden und läßt nur die eine Deutung zu, daß es sich um ein Geheimmittel handelt, dessen Kenntnis sich uns entzieht und mit den kunstfertigen Mönchen von Treptitz ins Grab gesunken ist. Und nun lassen Sie sich also sagen, daß an dem Tage, an dem unser guter Graf Klodwig tot vor seinem Ruhebett aufgefunden wurde, dieser Becher fahl und grau aussah. Die Komtesse, des Entschlafenen Nichte, machte mich auf dieses eigenartige Zusammentreffen aufmerksam, denn ich selbst hatte gar nicht mehr an den Becher gedacht. Komtesse Marlise hingegen bleibt auf das bestimmteste dabei, daß dem Becher schon seit dem Todestage ihres Oheims, wenn nicht schon länger, der ihm eigentümliche Hochglanz fehlt. Eine Scheu, begreiflich aus den Gründen, die wir schon berührten, hat sie jedoch lange Zeit abgehalten, mir diese Entdeckung mitzuteilen. Als sie es endlich tat, sichtlich stark erregt, da sie sich schon viel Gedanken darüber gemacht hatte, war auch ich ein wenig betroffen, wie ich ruhig zugeben will; anderseits hielt ich es geradezu für meine Pflicht, der jungen Komtesse sofort ihre törichten Gedanken auszureden. Ob es mir hierbei an Eifer oder an Überzeugungskraft gefehlt hat, lasse ich dahingestellt. Die Komtesse hat sich noch keineswegs beruhigt und beruft sich darauf, daß auch ihr Oheim trotz seiner wissenschaftlichen Bildung dem Aberglauben durchaus nicht widersprochen hat. In ihrer Sorge, die noch weiteres Unheil kommen sieht, holte sie nun gestern morgen in meinem Beisein den Becher von seinem Platz, um mit mir zu beraten, wie der ehemalige Glanz am besten wiederhergestellt werden könne, als wir gleichzeitig einen heftigen Schreck empfanden: von den fünf großen Edelsteinen sind die drei schönsten aus ihrer Fassung herausgesprengt! An der Fassung erkennen wir deutlich die Spuren eines spitzen Instrumentes. Jedenfalls sind die Steine spurlos verschwunden. Wann der freche Raub vor sich gegangen ist, ließ sich zunächst nicht sagen, denn Komtesse Marlise hatte sich bis gestern nicht überwinden können, den verhexten Becher, wie sie ihn nennt, von seinem Platze zu rücken. Die fehlenden Pyrope haben aber gerade die der Wand zugekehrte Fläche des Bechers geschmückt. Auf der vorderen Seite, auf der auch der erwähnte lateinische Vers eingemeißelt ist, glänzen die beiden Edelsteine noch unversehrt. Der Dieb hat vorsorglich nur die auf der rückwärtigen Wandung eingelassenen entfernt.«

»Das ist allerdings eine Erklärung! Vorschnell dachte ich vorhin, er wäre gestört worden. Nun fesselt mich der Fall immer mehr. Sie haben auch bereits einen Verdacht, nicht wahr? Sie denken an den ehemaligen Kastellan Scholta?«

»In der Tat! So schmerzlich es ist, gegen einen Menschen, der sich nicht mehr zur Wehr setzen kann, etwas aussagen zu müssen – es ist leider kaum zweifelhaft, daß sich die drei fehlenden Steine im Besitz des auf so grauenvolle Weise ermordeten Scholta befunden haben, und zwar zu einer Zeit, als Graf Klodwig noch am Leben und Scholta noch in seinen Diensten war. Das Zimmermädchen Elfriede, die erste Person, die von der jungen Komtesse und mir ins Verhör genommen wurde und die auf uns einen völlig glaubhaften Eindruck macht, hat uns unter Tränen gestanden, was sie bis gestern keinem Menschen anvertraut hat, daß sie, kurz bevor Kastellan Scholta das Schloß verließ, ihn eines Tages an dem Glaseckschrank überrascht und er in sichtlicher Verlegenheit hastig einiges Handwerkszeug, unter anderm ein großes Taschenmesser, zu sich gesteckt habe. Elfriede hat sich damals weiter keine Gedanken gemacht, zumal Scholta, der sich schnell gefaßt hatte, einen einleuchtenden Grund vorbrachte, warum er sich an dem Schrank zu schaffen machte.«

»Was sagte er?«

»Der Schrank habe sich an einer Seite gesenkt, und er müsse Holz unterlegen. Tatsächlich hat auch das Mädchen bemerkt, daß ein Span unter den einen Fuß des Schränkchens, das im übrigen richtig verschlossen schien, untergeschoben war, und da hat Elfriede, wie gesagt, kein Gewicht auf den Vorfall gelegt. Ich habe jedoch mit Komtesse Marlise feststellen können, daß der Span völlig unnötig war und das Eckschränkchen ohne ihn genau so fest steht. Unser Verdacht ist nun, daß sich der unselige Scholta am Eigentum seines Herrn vergriffen und die drei Pyrope beiseite gebracht hat. Meine weitere Mutmaßung ist die, daß sich die Schuld aufs bitterste gerächt und eben diese Edelsteine, die ein anderer in Scholtas Besitz gewußt hat, dem Manne zum Verderben geworden sind.«

»Mit einem Worte: Sie vermuten, daß der Raubmörder im Besitz der drei böhmischen Granaten ist!«

»Allerdings. Und wenn dieser Hinweis genügen würde, Licht in das Dunkel zu bringen, das über der unmenschlichen Tat in der Naunynstraße lastet, so wäre der eine Zweck meines heutigen Besuches, von dem Sie getrost Gebrauch machen können, erfüllt.«

»Das ist etwas außerordentlich Wesentliches!« sagte Hauptmann Eckhardt lebhaft. »Mit dieser wichtigen Handhabe werden wir ohne Frage weiterkommen. Edelsteine in der angedeuteten Größe und Form lassen sich beinahe ebenso leicht verfolgen wie ein bunter Hund.«

»Sie sprachen von dem einen Zweck,« sagte Ralf Recking, der sich die Spitze einer Zigarre abschnitt. »Ich kann mir wohl denken, daß Sie mich nicht wegen einer Angabe aufsuchen, die jeder Wachtmeister gierig aufgreifen dürfte. Bin ich Ihren Gedankengängen richtig gefolgt, so liegt Ihnen, oder sagen wir: Ihrer jungen Auftraggeberin noch mehr daran, daß in die geheimnisvolle Geschichte von dem erblindeten Becher Licht gebracht wird.«

»Das ist es! Sie machen sich von der Aufregung, in der sich Komtesse Marlise befindet, keine Vorstellung. Sie hat es sich fest eingeredet, daß der Becher noch auf weiteres Unglück im Hause Ferenberg deutet.«

»Aber das ist ja Unsinn! Ich habe natürlich noch viele Fragen an Sie, doch daß ich nicht willens bin, Ihnen auf mystische Gebiete zu folgen, das brauche ich nicht noch einmal ausdrücklich zu betonen. Und wem sollte denn, wie es der alte Hexameter verheißt, noch Unglück erwachsen? Wer ist eigentlich der Erbe des Grafen Klodwig?«

»Der junge Graf Werner, mit dem ich meine große Reise gemacht habe. Er hatte sich einer arktischen Forschungsfahrt angeschlossen, als Graf Klodwig verschied. Erst vor wenigen Tagen, nachdem ihn in Haparanda unsere Depeschen endlich erreichten, ist er in den Besitz der Nachrichten über das Ende seines Oheims gelangt, und jetzt befindet er sich unterwegs, um das Erbe anzutreten. Er kann morgen, er kann auch schon heute in Hamburg eintreffen.«

»Als weitgereister Mann dürfte er die Bedenken, die seine Schwester hegt, doch wohl verlachen.«

»Komtesse Marlise ist seine Schwester nicht, sondern seine Base, zugleich die einzige nähere Verwandte, denn zu den Großweitschener Ferenbergs bestehen längst keine Beziehungen mehr. Ihr Stammgut kam unter den Hammer und in die Hände von Gläubigern.«

»Und diese Ferenbergs selbst ... wo halten sie sich auf?«

»Es handelt sich um zwei Vettern zweiten Grades, deren Vornamen mir nicht geläufig sind. Der alte Herr in Großweitschen ist seit vielen Jahren tot, die beiden Söhne sind übers große Wasser gegangen. Der eine soll in Bolivia eine übelberüchtigte Wirtschaft besessen und sich damit eine Zeitlang über Wasser gehalten haben, der zweite ist, wie der gräfliche ›Gotha‹ mitteilte – aber diese Notiz liegt schon jahrelang zurück, da die Grafen Ferenberg nicht in jedem Jahrgang des gräflichen Taschenbuchs aufgeführt werden –, Landmann in Kanada geworden. Seit langem haben auch die letzten Nachrichten über die beiden Vettern aufgehört, die ja auch für die Erbfolge gar nicht in Betracht kommen. Graf Werner steht im Ausgang der Zwanziger und wird, wie ich ihn kenne, nicht lange säumen, dem verwaisten Schloß eine junge Herrin zuzuführen, so daß das alte Geschlecht neu erblühen dürfte. Ich plaudere kein Geheimnis aus, wenn ich sage, daß sich Vetter und Base, eben unsere liebe Komtesse, herzlich zugetan sind. Die Sorge, in der Komtesse Marlise lebt, gilt in erster Linie ihrem Vetter, und deshalb ist es ihr dringender Wunsch, daß Sie sich mit den Geschehnissen befassen, bevor Graf Werner Ferenberg Benepartus betritt. Wenn Sie als wissenschaftlich geschulter Fachmann Ihre Untersuchungen an Ort und Stelle vornehmen würden, wäre das für die besorgte Komtesse geradezu eine Erleichterung.«

»Das Vertrauen ehrt mich,« erwiderte der Detektiv, den Zigarrenrauch mit der Hand beiseite schiebend. »Es scheint hier eine ganze Anzahl von Punkten näherer Aufklärung zu bedürfen. Unendlich bedauere ich, daß Sie mich nicht eher in diesen Fall einweihen konnten, aber das lag freilich nicht in Ihrer Hand, da die wichtigsten Entdeckungen erst gestern gemacht wurden. Aber sagen Sie, wie war es denn möglich, daß der seiner drei rückwärtigen Steine beraubte Becher nicht eher und nicht schon vom Grafen Klodwig in die Hand genommen wurde? Nach Ihrer Darstellung ist der Diebstahl der Granatsteine doch mindestens acht Tage vor dem Hinscheiden des Grafen erfolgt. Der Kastellan wohnte bereits am ersten Mai in der Naunynstraße.«

»Ganz recht. Und Graf Klodwig starb unerwartet am sechsten Juni. Immer hatte er in seinem Schlafzimmer den Becher vor Augen. Es mag Ihnen verwunderlich erscheinen, daß der genannte Schrank in diesem Raume steht. Es war aber nun einmal so. Es war dem Grafen so am sichersten. Im selben Schlafzimmer befindet sich auch ein kleiner, in die Wand eingelassener Geldschrank, der von einem Bilde bedeckt wird. Ich erwähne das beiläufig. Der Eckschrank war verschlossen, und es lag keine Veranlassung vor, daß Graf Ferenberg den Becher herausnahm; er hatte ihn, wie gesagt, immer vor Augen.«

»Was haben Sie heute noch in Berlin vor, Herr Pfarrer?«

»Der Zweck meines Hierseins erledigt sich mit meinem Besuche bei Ihnen.«

»Dann steht dem also nichts im Wege, wenn ich Sie sofort nach Treptitz zurückbegleite?«

»Das ist mehr, als ich hoffen konnte. Haben Sie wirklich freie Zeit?«

»Wenn ich sie nicht zufällig hätte, würde ich sie mir nehmen. Wie steht es mit Ihnen, Eckhardt?«

Der Polizeihauptmann sah auf die Ahr. »Ich verspreche mir aus der Besichtigung des Bechers nichts Neueres, als was uns der Herr Pfarrer bereits gesagt hat. Ich glaube auch, daß ich dem Fall Scholta einen besseren Dienst tue, wenn ich einstweilen hier der Spur nachgehe, auf die mich die entwendeten Edelsteine bringen.«

»Nun dann,« sagte Ralf Recking aufstehend und den Rest seiner Zigarre in die Aschenschale drückend, »will ich Ihrem Eifer nicht im Wege sein. Unsere Ansichten über diesen Fall scheinen sich noch nicht zu decken. Ich meinerseits muß mir die Örtlichkeit ansehen. Sie kennen meine eigenartige Methode.«

»Und ich achte sie auch zu jeder andern Zeit, wie Sie wissen. Auf Schloß Benepartus werden aber, nach so viel nutzlos verstrichener Zeit, Ihr Fleiß und Ihr Finderglück wenig verfangen.«

»Der nächste Zug geht vom Schlesischen Bahnhof in einer knappen Stunde,« sagte der Detektiv, ohne auf Eckhardts Bemerkung einzugehen. »Wir erreichen ihn vom Bahnhof Zoologischer Garten aus mit der Stadtbahn bequem. Leben Sie wohl, Eckhardt, und heben Sie die drei Flaschen Malvasier für einen ruhigeren Tag auf. Ich vermute, daß mir hier mehr Arbeit winkt, als ich auf den ersten Blick glaubte.«


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