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In der Villa Bracciano begaben sich viele Dinge, die nicht zur Kenntnis der Allgemeinheit gelangten.
Erstens einmal nahm die Anzahl der Besucher des Marquis zu. Die krummnasigen Männer mit den leuchtenden Augen gingen immer offener in der Villa ein und aus, sie kamen nicht mehr in der Dämmerung wie Nikodemus, sie kamen zu allen Zeiten des Tages. In ihren und den Gesprächen des Marquis kamen unaufhörlich Zahlen mit mehreren Nullen vor, und indem die Tage vergingen, wurden die Nullen immer zahlreicher. Eines schönen Tages wurde geflüstert: nächsten Dienstag! Der Marquis strich seinen assyrischen Bart und wiederholte: nächsten Dienstag!
Dieser Dienstag kam, und als es dämmerte, erschienen drei der krummnasigen Männer. Sie trugen einen, offenbar schweren Koffer. Sie placierten ihn in ein Gelaß ohne Fenster und versperrten die Tür gut. Die krummnasigen Männer sprachen intensiv mit dem Marquis, und der Marquis hörte zerstreut zu und rieb sich die Hände.
Die Tage gingen; in Bologna baute man Barrikaden; in Florenz schoß man mit Revolvern; der Eisenbahnbetrieb des Landes wurde von Militär und Studenten aufrechterhalten. La Guardia Regia, die königliche Polizei, starke Bauern aus Calabrien, das sich mehr durch seinen guten Wein, als durch den Verstand seiner Söhne auszeichnet, fuhren in Lastautos herum, bis zu den Zähnen bewaffnet. Aber man hohnlächelte über die königliche Polizei. Man baute auch in Brescia, Modena und Mantua Barrikaden; man schoß auch in Bari, Foggia und Ravenna mit Revolvern. Der Marquis rieb sich die Hände, und die Villa Bracciano war in ein Ghetto verwandelt, wo es von Russisch, Deutsch und Italienisch summte und man unaufhörlich Besuche in dem fensterlosen Gelaß machte.
Aber eines Tages kam ein Umschlag. Man riß die Barrikaden in Bologna und Brescia nieder; man schoß in Florenz und Foggia nicht mehr mit Revolvern. Die Eisenbahnzüge kamen in Gang; der Telegraph und die Post funktionierten wieder, La Guardia Regia rollte in Lastautos herum, stärker bewaffnet denn je, und man sah sie mit Furcht an. Es begannen Prozessionen durch die Straßen zu gehen, anstatt Demonstrationszügen, man sprach von Fiume anstatt von Moskau. Der Marquis rieb sich nicht mehr die Hände, er strich sich gedankenvoll den Bart. Die krummnasigen Männer mit den leuchtenden Augen verlegten ihre Besuche in die diskreten Dämmerstunden. Der Marquis fand Zeit, an Privatangelegenheiten zu denken. Eines schönen Tages erinnerte er sich des französischen Gelehrten im Kasino. Wie war das doch? Als er dem französischen Professor vor einiger Zeit einen Besuch machte, war ihm da nicht eine Sache aufgefallen? Doch, es war ihm eine Sache aufgefallen: Die Hände des Professors, die bleich von Studien sein sollten, waren braun und übel mitgenommen, so, als hätten sie sich mit körperlicher Arbeit befaßt.
Und in einer Ecke des Parkes um das Kasino hatte eine Plache gelegen.
Der Marquis beschloß, dem Professor einen Besuch abzustatten, aber nicht offiziell, wie das letztemal. Er wollte den Professor ebenso diskret besuchen, wie die krummnasigen, jungen Männer nunmehr ihn selbst besuchten.
Er kam von diesem Besuch in nächtlicher Dunkelheit zurück, etwas wirr im Kopfe und ohne klaren Begriff, was er denken sollte. Am nächsten Tage bekam er einen Brief, bei dessen Lektüre er die Augen weit aufriß.
Il Casino, den 12. Februar 1920.
Herr Marquis!
Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen, das Sie in Ihrer Eigenschaft als ehemaliger Besitzer meiner kleinen Villa interessieren muß.
Ihr Besuch im Kasino ist mir morgen, den 13., halb ein Uhr willkommen. Seien Sie so gütig, die Zeit einzuhalten.
In ausgezeichneter Hochachtung
Ihr ergebener
Prof. Pelotard.
Als die Uhr zwölf schlug, war der Marquis auf dem Weg zu der erotischen Villa seines Stammvaters.
Der Professor empfing ihn mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit. Seine Hände sprachen noch immer dafür, daß er sich nicht ausschließlich mit Lektüre befaßt hatte. Der Marquis konnte es nicht hindern, daß seine Augen zu einer Ecke des Parkes schweiften, wo die Erde von einer Plache verborgen war. Wenn der Professor diesen Blick sah, so tat er jedenfalls nichts dergleichen. Er führte den Marquis in sein Studierzimmer. Dort begann er auf und ab zu gehen, während er ununterbrochen von seiner Liebe zu Italien sprach. Der Marquis wurde immer ungeduldiger und ungeduldiger. Die Erinnerung an seine nächtliche Expedition stand zu klar in sein Bewußtsein eingebrannt. Endlich warf der Professor einen Blick auf seine Uhr, lächelte und sagte:
»Es ist halb eins. Lassen Sie uns zur Sache kommen!«
Den Marquis durcheilte ein unwillkürliches Staunen, er war zu früh gekommen, sein Gastfreund hatte ihn mit gleichgültigem Geplauder hingehalten, bis der Glockenschlag kam, den er für die Begegnung festgesetzt hatte. Warum? Was sollte das bedeuten?
Der Professor schlug mit der Hand auf ein Buch.
»Dies sind Ciceros vier Reden nach der Wiederkehr aus der Landesflucht, post reditum,« sagte er. »Sie kennen sie. Sie kennen Ciceros Landesflucht. Sie wissen, daß der Volkstribun Clodius Pulcher, von ihm seines unmännlichen Aeußeren wegen Pulchellus genannt, ihn in die Verbannung trieb. Sie wissen, daß Clodius und seine Schwester Clodia Cicero mit unauslöschlichem Haß verfolgten, und daß Clodius die Landesflucht seines Feindes dazu benutzte, so viel als möglich von seinem Hab und Gut zu zerstören. Ciceros Haus auf dem Palatin wurde niedergerissen, und Clodius stiftete den Baugrund für religiöse Zwecke. Außer seinem Haus auf dem Palatin besaß Cicero noch Villen in Arpinum, in Antium, in Astura, in Formiae, in Cumae und in Puteoli. Er war ein reicher Mann.«
»All dies ist mir bekannt,« sagte der Marquis, »aber haben Sie mich gebeten, herzukommen, um mir einen Repetitionskurs in der Geschichte der Republik zu lesen?«
Der Professor fuhr fort, ohne von der Unterbrechung Notiz zu nehmen:
»All dieser Villen suchte sich Clodius zu bemächtigen oder sie zu zerstören. Und wie aus der Rede de domo sua hervorgeht, kam namentlich die Villa bei Formiae schlecht weg. Aber außer diesen Villen besaß Cicero noch eine, die vielleicht kostbarer für ihn war, als irgendeine der anderen. Das war –«
»Ich weiß, welche es war,« unterbrach der Marquis. »Das war sein geliebtes Tuskulanum, dessen Ruinen eine halbe Stunde von hier bei der Villa Ruffinella liegen. Sie sind ein vortrefflicher Vortragender, caro Professore. Aber worauf wollen Sie hinaus?«
Der Professor sagte:
»Ihre Kenntnis von Ciceros Leben und Werken erfreut mich. Seine siebente und kostbarste Villa war das Tuskulanum. Das ist richtig. Sie war auch die berühmteste. Der Name selbst ist in alle Sprachen als Bezeichnung für eine Freistatt der Wissenschaft und Philosophie übergegangen. Die tuskulanischen Gespräche sind allen gebildeten Menschen bekannt. Und es ist richtig, daß man in der Nähe der Villa Ruffinella Ruinen zeigt, die man die Ruinen des Tuskulanum nennt. Und es ist anzunehmen, daß die Kommune und Einzelne gegen hunderttausend Lire jährlich damit verdienen, daß sie diese Ruinen den Touristen zeigen. Aber damit ist auch alles gesagt, was sich zugunsten dieser Ruinen sagen läßt.«
»Ich verstehe Sie nicht,« sagte der Marquis. »Wollen Sie bestreiten, daß nach der Tradition das Tuskulanum da lag, wo diese Ruinen liegen?«
»Und diese Tradition ist eine Lüge,« sagte der Professor. »Das Tuskulanum – die berühmteste Villa der Antike – lag nicht da, wo diese Ruinen liegen.«
»Und wenn sie nicht da lag,« sagte der Marquis, »wo lag sie denn?«
Seine Stimme zitterte ein wenig. Wieder schweiften seine Augen zum Fenster hinaus. Er wiederholte noch einmal:
»Wo lag sie denn?«
Der Professor antwortete gelassen:
»Hier. Sie lag hier.«
Der Marquis sprang auf.
»Hier? Sie scherzen!«
»Hier. Nirgends sonst, als hier.«
Der Marquis fuhr sich über die Stirn.
» Caro Professore!«
Der Professor wiederholte ruhig:
»Hier, an dieser Stelle, wo wir sitzen, lag einmal eine Villa mit ›Marmorhallen, Statuen und Büsten aus pentelischem und megarischem Marmor, Gemälden, einer reichen Bibliothek, schattigen, kühlen Alleen, fremden Blumen und Bäumen‹. Ich zitiere aus dem Gedächtnis. Hier auf dem Boden, wo Ihr Stammvater, Marchese Gerolamo di Bracciano, sein erotisches Kasino erbaute, wandelten einstmals ernste Männer in Gesprächen darüber, daß der Tod verächtlich sei und daß Schmerzen ertragen werden können. Hier, gerade hier.«
Der Marquis starrte seinen Gastgeber an.
»Es ist leicht, eine Behauptung hinzuwerfen. Haben Sie Beweise?«
»Ich habe Beweise. Seit ich Besitzer des Kasinos wurde, habe ich mich nicht ausschließlich mit Lektüre befaßt. Ich habe eigenhändig Grabungen vorgenommen, und meine Grabungen haben ein bestimmtes Resultat ergeben.«
»Sie haben ein Resultat ergeben,« wiederholte der Marquis mechanisch.
»Aber sie haben nicht nur das Resultat ergeben, das ich schon erwähnt habe.«
»Und das an sich genug wäre,« murmelte der Marquis.
»Meine Grabungen beweisen überdies, daß eine von Ciceros Reden post reditum verlorengegangen sein muß. Denn in keiner dieser, die man besitzt, spricht er davon, daß Clodius sich an seiner siebenten und kostbarsten Villa, an seinem Tuskulanum, vergriffen haben sollte. Und doch hat Clodius dies getan, und ich habe Beweise dafür.«
»Sie haben Beweise dafür,« wiederholte der Marquis mechanisch.
»Aber Clodius vergriff sich in ganz besonderer Weise am Tuskulanum, in einer Weise, die viele Männer, auch wenn sie strenge Philosophen wären, geduldet, ja mit Freuden begrüßt hätten. Clodius gab das Tuskulanum seiner schönen Schwester Clodia zum Aufenthaltsort. Nachdem er Ciceros Haus auf dem Palatin der Freiheitsgöttin geweiht hatte, weihte er sein Tuskulanum der Liebesgöttin.«
»Clodia hat hier gewohnt! Catulls Geliebte, Lesbia, hat hier gewohnt!«
»Sie hat hier gewohnt.«
»Sie haben Beweise?«
»Ich habe Beweise.«
»Zeigen Sie sie mir.«
»Um sie Ihnen zu zeigen, habe ich Sie gebeten, herzukommen.«
Der Professor öffnete seinem Gast die Türe. Der Marquis ging ohne zu zögern auf den Platz unter den Oliven zu, der von der Sackleinwand verborgen war. Der Professor lächelte unmerklich –
»Sie kennen den Weg,« sagte er.
Der Marquis antwortete nicht. Er war sichtlich erregt.
Der Professor zog die Sackleinwand fort. Eine Fläche von ungefähr zehn Quadratmetern war zu einer Tiefe von etwa zwei Metern ausgegraben.
Auf dem ausgegrabenen Platz zeigten sich die Konturen einer Säulenhalle, Fußböden mit Mosaiken, Säulen, und auf dem Boden, ein Stück von dieser Säulenhalle entfernt, Fragmente eines Frieses mit Inschrift. Der Marquis starrte und strich sich den Bart.
»Es sollte hier gewesen sein?« fragte er.
»Es war hier. Hier an dieser Stelle lag das Tuskulanum,« sagte der Professor. »Hier strömte Roms berühmteste Beredsamkeit, hier suchte man die Natur des Todes und der Schmerzen zu ergründen, und hier residierte einstmals Lesbia. Vielleicht nicht lange, vielleicht nur einige Monate, aber doch lange genug, um Spuren ihres Aufenthaltes zu hinterlassen.«
Er schob seinen Arm unter den des Marquis und führte ihn zu dem Fries mit der Inschrift.
»Sie ist verstümmelt,« sagte er, »aber sie ist zu lesen. Tull. Calumniat. Exp … Clod. Pulch. Trib … Clodiae Bor. Domin. Tusc. Ded. Nachdem der Verleumder Tullius oder Marcus Tullius Cicero vertrieben war, schenkte Clodius Pulcher, Volkstribun, dieses tuskulanische Haus seiner Schwester Clodia. Kann das etwas anderes bedeuten?«
Der Marquis strich sich über die Stirn.
»Kaum.«
»Aber zur größeren Gewißheit«, fuhr der Professor fort, »habe ich dies gefunden. Und was sagen Sie dazu?«
Er hob ein Stück Sackleinwand. Der Marquis erstickte einen Aufschrei.
Er sah einen Frauenkopf in Marmor. Das Gesicht war faszinierend, mit einer leicht gebogenen Nase, einem feinen, sinnlichen Mund und zwei blinden Marmoraugen, die ausdrucksvoller waren, als die meisten lebenden Augen. Der Torso fehlte. Quer über dem Hals stand etwas mit halb verlöschten Buchstaben geschrieben. Er sah und sah.
»Clodia,« sagte der Professor, »Clodius Pulchers schöne Schwester. Catulls vergötterte und geschmähte Lesbia, die Geliebte von Hunderten von Männern. Welches Feuer hat nicht einstmals in diesen Adern gebrannt! Welche Küsse sind nicht von diesen Lippen geregnet! Und welche Worte sind ihnen nicht entströmt, undeutlich vor Leidenschaft! Ille par mi par esse deo videtur … Sie stehen Angesicht gen Angesicht Lesbia gegenüber.«
Der Marquis räusperte sich.
»Aber woher wissen Sie, daß –«
»Ich weiß es. Es ist leicht durch den Vergleich mit anderen Bildern Lesbias zu beweisen. Aber zur vollständigen Gewißheit existiert noch ein handgreiflicher Beweis, und wenn ich Ihnen diesen zeige, können Sie nicht länger zweifeln. Erinnern Sie sich noch des Schmähwortes, das Cicero sich nicht scheute, öffentlich gegen die Schwester seines Feindes Clodius zu gebrauchen?«
»Quadrantaria,« sagte der Marquis, »um den Wert ihrer Liebe in Münze anzudeuten. Ich erinnere mich.«
»Lesen Sie, was quer über diesem Marmorhals steht.«
Der Marquis beugte sich vor und las. Als er den Kopf wieder hob, war er bleicher denn je.
»Die schmähende Schrift ist«, sagte der Professor, »vielleicht von dem hingeschrieben, der diese Statue hinauswerfen ließ, nachdem das Haus seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben war. Sowohl der Kopf, wie der Fries lagen hier ein Stück weit von dem Hause. Meiner Ansicht nach ist die Kette komplett.«
»Die Kette ist komplett,« murmelte der Marquis. Er sah die Ausgrabung an, die Oliven, deren Wurzeln in die Marmorfliesen verflochten waren. Schließlich sah er den Professor an. »Sie haben kein schlechtes Geschäft gemacht, als Sie il Casino kauften,« sagte er. »Sie sagten, daß das jetzige falsche Tuskulanum der Kommune und Privaten hunderttausend Lire jährliches Einkommen bringt. Und als Sie das sagten, haben Sie gewiß nicht zu hoch gegriffen. Was wird nicht erst dies tragen! Sie haben das Tuskulanum gefunden, und Sie haben Lesbias Haus gefunden! Das ist ja sogar noch besser als Romeo und Julias Haus. Nein, Sie haben kein schlechtes Geschäft gemacht.«
Der Professor sah stumm Lesbias Kopf an.
Der Marquis räusperte sich.
»Darf ich Sie eine Sache fragen?« sagte er.
»Mit Vergnügen, alles, was Sie wollen.«
»Hatten Sie eine Ahnung von all dem, damals, als Sie – als Sie zu mir kamen und il Casino mieten wollten?«
Der Professor lächelte.
»Eine Ahnung hatte ich,« sagte er, »ich hatte hier ein bißchen in der Erde herumgestochert, bevor ich Sie aufsuchte. Sie wissen, was Voltaire sagt: Wer in der Erde gräbt, bestellt seinen Sinn.«
»Und nachdem Sie dies getan hatten, kamen Sie zu mir, um il Casino zu kaufen?«
»Verzeihung, ich wünschte doch nicht, es zu kaufen. Sie selbst schlugen vor, daß ich il Casino kaufen sollte!«
Der Marquis zögerte.
»Hatten Sie – hatten Sie irgendwelchen Anlaß, zu glauben, daß ich Ihnen einen Kauf vorschlagen würde, auch wenn Sie es nicht selbst zur Sprache brachten?«
Der Professor lächelte.
»Vielleicht.«
»Sie hatten gehört, daß ich nicht allzusehr – hm – mit Glücksgütern gesegnet bin?«
»Man hatte mir etwas in dieser Richtung gesagt.«
»Und so kauften Sie mit ganzer oder halber Gewißheit über das, was Sie kauften, das wertvollste aller meiner Besitztümer für ein Spottgeld!«
Der Marquis reckte sich auf.
»Mein Herr, ich weiß nicht, wie ich Ihr Vorgehen charakterisieren soll. Meine italienische Höflichkeit verbietet mir, es in den Worten zu tun, die dafür erforderlich wären.«
Der Professor lächelte zum drittenmal.
»Herr Marquis, Sie sind Politiker, Sie ereifern sich leicht. Die Sache hat noch mehr Seiten, als Sie im Augenblick sehen wollen. Erstens einmal: ohne mich wäre dieses Besitztum ebenso wertvoll oder wertlos gewesen, wie der übrige Grund und Boden hier, und mit zwanzigtausend Lire hoch bezahlt! Ich und meine Forschungen haben es erst das wert gemacht, was es jetzt wert ist.«
»Das hindert nicht,« rief der Marquis, »daß Sie es unter falschen Voraussetzungen ergattert haben. Mein Urteil bleibt bestehen.«
»Herr Marquis, was wäre geschehen, wenn ich zu Ihnen gekommen wäre und Ihnen gesagt hätte, was ich Anlaß hatte zu glauben? Hätten Sie mir edelmütig den Anteil gegeben, zu dem ich berechtigt war? Meine Kenntnis der menschlichen Natur macht es mir schwer, dies zu glauben. Und ich bin ein armer Mann, Herr Marquis, vom Krieg ruiniert und ärmer, als Sie waren – noch als Sie mir das Kasino verkauften.«
Der Marquis entsendete einen Samtblick aus dem Augenwinkel.
»Noch als ich Ihnen das Kasino verkaufte? Was meinen Sie damit?«
»Was ich sage,« sagte der Professor.
»Haben Sie die Güte, sich deutlicher auszudrücken.«
»Das werde ich, wenn Sie es wollen. Als Sie mir das Kasino verkauften, waren Sie arm. Seither hat sich Ihre Stellung verändert. Sie haben den Kapitalismus, der Ihnen nichts brachte, über Bord geworfen, Sie haben sich mit seinen Feinden alliiert, die Ihnen um so mehr bringen. Ich teile Ihre Politik nicht. Der Kapitalismus hat mir ebenso wenig gebracht, wie Ihnen, aber ich sehe nicht den Nutzen davon, ihn in Blut umzutaufen. Denn daß etwas anderes Neues kommen sollte, als ein neuer Name, ist ja ausgeschlossen. Aber Sie wünschen also, der Volkstribun einer neuen Zeit zu werden, der Clodius Pulcher einer neuen Zeit. Nun wohl, Clodius Pulcher setzte sich im Jahre sechzig vor Christo in den Besitz dieser Erde hier. Dasselbe steht dem modernen Clodius Pulcher frei.«
»Was wissen Sie von meiner Politik?« sagte der Marquis mit einem Blick, wie ein Stilettstoß.
»Das, was ich aus den Dingen schließen konnte, die ich hier in Frascati gesehen hatte,« sagte der Professor. »Ich habe schon lange nicht soviel russische Juden an einem Ort beisammen gesehen. Außerdem hatte ich vor einiger Zeit Gelegenheit, Sie sprechen zu hören. Es war an einem Abend in der Via Cavour in Rom. Sie sprachen zum Proletariat, und Sie wurden ein paarmal von einem Ausländer unterbrochen, einem Franzosen, glaube ich.«
Der Marquis zuckte die Achseln und schien nachzudenken.
»Und nun wollen Sie mir das Kasino zurückverkaufen?« sagte er endlich.
»Wenn Sie Lust haben, es zu kaufen. Sonst kann ich ja hier bleiben, um die Einkünfte selbst zu beziehen.«
»Und Ihre Studien?«
»Die können mit dem Resultat, das ich schon erzielt habe, als abgeschlossen gelten. Kaufen Sie das Kasino zurück, so werde ich Ihnen mit Vergnügen das Haus räumen. Mit dem Preise, den Sie mir bieten werden, kann ich mir leicht eine andere und etwas zeitgemäßere Wohnung verschaffen.«
»So, sind Sie dessen sicher?«
»Ja. Unter den Einkünften eines Jahres, danach berechnet, was die falsche tuskulanische Villa abwirft, ziehe ich nicht aus.«
»Hunderttausend! Sie sind verrückt!«
»Ich wäre verrückt, wenn ich weniger nehmen würde. In meinem Lexikon steht das Wort feilschen nicht!«
Der Marquis starrte gedankenvoll die Ausgrabung, die Marmorfliesen, die Säulen, den verstümmelten Fries und den wunderbaren Marmorkopf an. In seiner Seele spielte sich ein sichtbarer Kampf ab. Der Professor nahm eine Hacke und begann zu arbeiten. Der Marquis räusperte sich.
»Haben Sie Ihren Kaufkontrakt bei sich?« sagte er.
Der Professor nickte vergnügt.
»Der verläßt mich nie!«
»Wollen Sie mit mir nach Hause kommen,« sagte der Marquis, »so wird es mir ein Vergnügen sein, ihn zurückzukaufen, um das Stammschloß meiner Väter wieder in unversehrter Gestalt zu besitzen.«
Der Professor neigte lächelnd den Kopf. Die beiden Herren gingen zur Villa Bracciano. Der Marquis zeigte den Weg in sein Arbeitszimmer. Der Schreibtisch war mit Schriften von Lenin, Marx und Engels beladen. Ein Kaminfeuer brannte zum Schutz gegen die Februarkälte.
Der Marquis entschuldigte sich, verschwand und kam mit der Hand voll Banknoten zurück.
»Haben Sie den Kontrakt?« sagte er.
Der Professor nahm ihn heraus und streckte die Hand nach den Banknoten aus.
Im selben Augenblick schnellte die freie Hand des Marquis vor, packte blitzschnell den Kontrakt und schleuderte ihn in die Flammen. Dann steckte der Marquis die Banknoten in die Brusttasche, kreuzte die Arme über der Brust und sah seinen Gast mit einem Lächeln an, das eines Caligula oder Commodus würdig war.
»Sie haben eine Sache vergessen, caro Professore,« sagte er, »Sie haben meine politische Anschauung vergessen. Ich bin Bolschewik. Für mich ist der Kauf eine veraltete Form der Erwerbung.«
Der Professor, der sehr bleich war, murmelte:
»Das hätte ich voraussehen sollen. Und jetzt?«
Der Marquis lachte.
»Jetzt, wo der Besitz meiner Vorväter wieder in unversehrter Gestalt mein ist, können wir immerhin diskutieren. Sie sollen auf jeden Fall die Summe zurückbekommen, die Sie mir vor einiger Zeit bezahlt haben.«
»Das ist nicht Ihr Ernst?« sagte der Professor. »Und meine Ausgrabungen? Und ihr Resultat?«
»Einer kleinen Entschädigung werde ich mich nicht widersetzen.«
»Ich weigere mich, sie anzunehmen.«
»Wie Sie wollen. Aber sie steht zu Ihrer Verfügung.«
»Ich weigere mich, sie anzunehmen, und ich werde noch mit Ihnen abrechnen, Herr Marquis.«
Der Marquis lächelte blutig in seinen assyrischen Bart. In diesem Augenblick schlug die Uhr zwei. Ein Diener klopfte an die Tür des Arbeitszimmers und kam mit einem Tablett herein, auf dem eine Visitenkarte lag.
Der Marquis sah sie an.
»François Brüggemeyer, Paris,« sagte er. »Dieser Herr ist mir unbekannt. Aber führen Sie ihn herein.«
Die Türe ging auf. Der Kritiker Brüggemeyer kam mit kurzen Schritten herein. Er hielt seinen grauen Borsalino in der Hand. Seine Krawatte war ein bauschiges Halstuch aus der Zeit um 1830. Er verbeugte sich vor dem Marquis und sagte:
»Marquis di Bracciano, vermute ich? Mein Name ist François Brüggemeyer, Kritiker.«
»Es freut mich, dies zu hören,« sagte der Marquis. »Gleichzeitig schmerzt es mich, Ihnen zu sagen, daß dieser Name mir unbekannt ist.«
Der Kritiker Brüggemeyer lächelte ein selbstironisierendes Voltairelächeln.
»Das wundert mich nicht. Wer kennt den Namen eines Kritikers? In der Regel kennt niemand einen Kritiker, und wenn man sich eines Kritikers erinnert, so ist es der Dummheiten wegen, die er angestellt, nicht der guten Dinge wegen, die er gesagt hat. Aber, wenn Sie meinen Namen nicht aus der Literatur kennen, so kenne ich dafür den Ihren aus dieser Quelle – wenn man nun in diesem Zusammenhang von Literatur sprechen kann. Ich kann sogar sagen, daß, als ich Ihren Namen geschrieben anstatt gedruckt sah, ich anfangs glaubte, einer Mystifikation ausgesetzt zu sein.«
»Eine Mystifikation? Mein Name? Geschrieben? Gedruckt?« wiederholte der Marquis, in dessen Gesicht sich die deutlichste Verwunderung malte. »Erklären Sie sich näher.«
»Ich werde mich näher erklären, da Sie es wünschen, obgleich ich eigentlich hergekommen bin, um selber Erklärungen zu erhalten. Nachdem ich Ihren Namen zu verschiedenen Malen – wenn ich nicht irre drei – gedruckt gesehen hatte, erhielt ich diesen Brief, mit der Aufforderung, in Ihre Villa in Frascati zu kommen. Nach einigem Zögern entschloß ich mich, zu glauben, daß Sie existieren und daß Sie möglicherweise der Besitzer einer Villa in Frascati sind. Ich begab mich also hierher und fand, daß eine Villa, dem Marquis di Bracciano gehörig, tatsächlich existiert. Ich bin der Aufforderung in dem Brief gefolgt, und ich bin nun hier in der Villa Bracciano.«
»Literatur, Erklärungen! Existenz! Ein Brief mit der Aufforderung in meine Villa zu kommen!« wiederholte der Marquis, dessen Verblüffung von Minute zu Minute stieg.
»Ja, mit der Aufforderung, heute präzise zwei Uhr hierherzukommen. Darum sehen Sie mich hier.«
»War diese Aufforderung mit meinem Namen unterzeichnet?«
»Nein,« sagte der Kritiker Brüggemeyer, »das war sie nicht. Sie war mit zwei Initialen unterzeichnet.«
In diesem Augenblick erinnerte sich der Marquis an etwas. Indem er auf den Professor deutete, der stumm im Hintergrund stand, sagte er:
»Ich vergesse eine Sache. Ich habe schon einen Gast, darf ich vorstellen, Herr François Brüggemeyer, Professor Pelotard.«
Der Kritiker Brüggemeyer drehte sich mit einem Ausruf um:
»Sie hier, Professor?«
»Wie Sie sehen, Herr Brüggemeyer.«
»Sie wohnen in Frascati! Darum hat man Sie solange nicht gesehen.«
»Ich wohne hier. Darum.«
Der Marquis fuhr ungeduldig fort:
»Sie kennen sich, meine Herren? Um so besser. Aber Sie haben also einen Brief erhalten, Herr Brüggemeyer, sich heute präzise zwei Uhr in meiner Villa einzufinden, und dieser Brief war mit zwei Initialen unterzeichnet? Waren es meine Initialen?«
»Nein, das nicht, aber im übrigen wüßte ich nicht, warum ich Ihnen den Brief nicht zeigen sollte?«
Er reichte dem Marquis einen Brief, den dieser durchflog.
Herrn François Brüggemeyer,
Hotel Cavour,
Roma.
Wenn Sie sich morgen Mittwoch, den 13. Februar, präzise zwei Uhr, in der Villa Bracciano, dem Marquis Bracciano gehörig, in Frascati einfinden, werden Sie jemanden treffen, den Sie seit einiger Zeit ohne Erfolg gesucht haben, und Gelegenheit finden, Ihre Differenz mit ihm beizulegen.
Sie werden gebeten, die Zeit genau einzuhalten, weder früher noch später. Unnötige Eile oder Saumseligkeit sind beide gleich schädlich.
Der Marquis gab den Brief zurück.
»Und durch diesen Brief veranlaßt, haben Sie die Reise von Rom nach Frascati hinaus gemacht!«
»Ja.«
»Sie haben Ihr Billettgeld vergebens hinausgeworfen. Ich bedaure es, aber ich kann nichts dafür. Ich habe keinen Brief geschrieben, und ich kenne niemanden mit den Initialen P. P.«
Der Kritiker Brüggemeyer ließ den Kopf hängen.
»Und ich auch nicht!«
»Und Sie auch nicht? Das ist nicht wahr!«
»Es ist wahr oder es ist zum mindesten so wahr, als etwas in dieser Welt der relativen Wahrheiten sein kann. Ich kenne niemanden mit den Initialen P. P., aber seit einiger Zeit habe ich keinen sehnlicheren Wunsch, als einen Herrn mit diesen Initialen kennenzulernen. Wir haben eine unerledigte Rechnung, und der Brief spiegelte mir die Möglichkeit vor, diese Rechnung zu begleichen. Darum fuhr ich ohne Zögern mit dem Zuge hier heraus und suchte Sie auf, Herr Marquis, obwohl ich Sie nicht kannte oder irgendwelchen Anlaß hatte, zu glauben, daß Sie außerhalb der Literatur existieren –, wenn man nun in diesem Zusammenhange von Literatur sprechen kann.«
Der Marquis sah den Kritiker Brüggemeyer mit einer Miene an, die zeigte, daß er nicht wußte, ob er bei Trost oder übergeschnappt sei. In diesem Augenblick klopfte es an die Türe. Der Diener des Marquis zeigte sich mit einer neuen Visitenkarte, die der Marquis etwas erstaunt von dem Tablett nahm.
Die Türe öffnete sich, ein langer Herr mit violettem Gesicht kam herein. Sein schwarzes Haar fiel verwirrt in das Gesicht. Auf seiner Nase wippte ein aufgeregter Zwicker.
»Mein Herr, Sie nennen sich, wie ich höre, Marquis di Bracciano,« sagte er mit heiserer Stimme. »Mein Name ist Maurice Lebrun, Schriftsteller. Sie werden vermutlich zugeben, daß er Ihnen bekannt ist? Und wollen Sie darum die besondere Freundlichkeit haben, mir zu erklären, wie es kommt, daß ich hier in einer sogenannten Villa Bracciano stehe?«
Der Marquis starrte seinen neuen Gast mit einem Interesse an, das wenigstens doppelt so groß war, wie das, das er seinem früheren entgegengebracht hatte.
»Sie fragen, ob ich mich Marquis di Bracciano nenne? ich bin der Marquis von Bracciano, der sechste dieses Namens. Sie geben als Ihren Namen Maurice Lebrun an und vermuten, daß ich zugeben werde, daß er mir bekannt ist. Ich kenne keinen Maurice Lebrun und werde nie zugeben, daß ich ihn kenne. Sie bitten mich ferner, zu erklären, woher es kommt, daß Sie hier in einer Villa stehen, die Villa Bracciano genannt wird? Ich wüßte nicht, daß der Umstand, daß ich Sie nicht sofort von meinen Dienern zur Türe hinauswerfen lasse, irgendwelche Verpflichtungen zu langwierigen Erklärungen mit sich bringt, warum ich mein Landgut nach mir selbst benenne. Mein Herr, was meinen Sie eigentlich?«
Maurice Lebrun hatte nur Augen für den Marquis. Er sah weder den Professor, noch den Kritiker Brüggemeyer. Im übrigen hatte sich der Kritiker Brüggemeyer, sowie Lebrun sich zeigte, in eine diskrete Ecke zurückgezogen.
»Mein Name sollte Ihnen unbekannt sein!« rief er. »Das ist aus verschiedenen Gründen unwahrscheinlich, und nicht alle diese Gründe sind literarische. Wenn mein Name Ihnen unbekannt ist, wie soll ich mir dies erklären?«
Er zog einen Brief aus der Tasche und reichte ihn hin.
Der Marquis unterdrückte die deutliche Lust, ihn von sich zu werfen. Er las ihn mit gerunzelten Augenbrauen.
Herrn Maurice Lebrun,
Albergo Milano,
Roma.
Wenn Sie sich morgen Mittwoch, den 13. Februar, halb drei Uhr, in der Villa Bracciano, gehörig dem Marquis di Bracciano, in Frascati einfinden, werden Sie jemanden treffen, den Sie seit einiger Zeit ohne Erfolg gesucht haben, und Gelegenheit finden, Ihre Differenz mit ihm zu regeln.
Sie werden gebeten, die Zeit genau einzuhalten, weder früher noch später. Unnötige Eile und unnötige Saumseligkeit sind beide gleich schädlich.
F. C.
Maurice Lebrun schob den Zwicker auf die Nase hinauf und starrte durch.
»Nun?«
Der Marquis reichte ihm den Brief zurück.
»Durch diesen Brief veranlaßt, haben Sie die Reise nach Frascati hinaus gemacht?«
»Ich bedaure Ihre Ausgaben und Ihre Zeitverschwendung. Ich weiß nichts von diesem Brief und ich kenne niemanden mit den Initialen F. C.«
»Und ich auch nicht,« rief Maurice Lebrun. »Aber ich würde viel dafür geben, ihn kennenzulernen. Wir haben eine unbeglichene Rechnung miteinander, und um sie zu erledigen, habe ich die elektrische Straßenbahn hier hinaus genommen und bin auch zur bestimmten Zeit gekommen.«
»Mein Herr,« sagte der Marquis, »obgleich weder Ihr Auftreten noch Ihr Naturell mir irgendeinen Anlaß geben, Sie zu trösten, werde ich es doch tun. Man sagt ja, daß geteilter Schmerz doppelter Schmerz ist. Darf ich Ihnen einen Landsmann vorstellen, der dasselbe Erlebnis gehabt hat, wie Sie? Der einzige Unterschied ist, daß sein Brief P. P. unterzeichnet war und daß er aufgefordert wurde, eine halbe Stunde vor Ihnen zu kommen. Herr Maurice Lebrun, Herr François Brüggemeyer! Herr Maurice Lebrun, Professor Pelotard!«
Ein Ruf schwang sich zu dem Plafond des Arbeitszimmers des Marquis auf. Erst jetzt entdeckte Maurice Lebrun den Kritiker Brüggemeyer in seiner diskreten Ecke. Ohne sich mit irgendwelchen Zeremonien aufzuhalten, stürzte er sich sofort auf ihn. »Der Elende!« rief er. »Ich bin also nicht vergebens gekommen!« Der Professor und der Marquis mußten sich dazwischenwerfen, aber nur mit Mühe gelang es ihnen, den rasenden Schriftsteller zurückzuhalten, der nicht aufhörte, die furchtbarsten Drohungen auszustoßen, die der Kritiker Brüggemeyer mit dem einen oder anderen Ausdruck der Verachtung beantwortete:
»Sie riechen nach Schmalz! Kamel! Habe ich Sie nach der Farbe Ihrer Unterhosen gefragt?«
Endlich verebbte der Kampf. Der Marquis benützte die Pause, um zu sagen:
»Meine Herren, Sie sind die originellsten Gäste, die ich noch gehabt habe. Wenigstens erinnere ich mich nicht, je erlebt zu haben, daß zwei wildfremde Menschen sich in mein Arbeitszimmer drängen und ihre Privatzwistigkeiten durch eine Schlägerei auszutragen suchen. Ich glaube das Recht zu einer Erklärung zu haben, falls Sie sie in anderer Weise als mit den Fäusten geben können. Sollten Sie Lust dazu zeigen, so muß ich zu meinem Bedauern meiner Dienerschaft klingeln und Sie Ihre literarische Debatte in freier Luft fortsetzen lassen. Also?«
Maurice Lebrun starrte mit blutunterlaufenen Augen den Kritiker Brüggemeyer an und sagte:
»Sie haben das Recht auf eine Erklärung. Es ist nicht meine Schuld, wenn diese Erklärung die Geschichte von der Schande eines anderen Menschen ist.«
»Sie sind –« begann der Kritiker Brüggemeyer, aber verstummte bei einer Geste des Marquis.
»Heuer im Januar begann ich eine Serie Erzählungen in der Revue Lévy zu veröffentlichen. Kaum war die erste im Druck erschienen, als ich einen Erpresserbrief empfing. Von wem, wußte ich nicht und machte auch keinen Versuch, es zu erfahren, da ich derartige Briefe und die, welche sie schreiben, viel zu tief verachte, um mich überhaupt mit ihnen zu befassen. Aber das wird vielleicht aus der Fortsetzung hervorgehen.«
»Sie sind ein –« begann der Kritiker Brüggemeyer, aber verstummte wieder bei einer Geste des Marquis.
»Kaum war die zweite Erzählung im Druck erschienen, als das Geheimnis mit dem Erpresser sich zu klären begann. Nicht genug damit, daß ich einen neuen Erpresserbrief bekam, in diesem Brief wurde angedeutet, daß man sich gewisser Mittel bedienen würde, um die Erpressung noch wirksamer zu machen. Es dauerte auch nicht lange, so zeigte es sich, was für Mittel dies waren. In der Revue du Globe erschien plötzlich ein Artikel mit dem Titel: Warum nicht ebensogut Maurice Lebrun? Dieser Artikel war ein einziger giftiger, gemeiner, haßerfüllter Angriff auf mich und meine Produktion, deren Wert zu beurteilen ich der Nachwelt überlasse.«
»Sie sind ein Kam –« sagte der Kritiker Brüggemeyer, aber verstummte zum dritten Male bei der vielsagenden Geste des Marquis.
»Dieser Artikel begann Licht über die Situation zu verbreiten, denn er war mit einem Namen unterzeichnet. Er war mit dem Namen Brüggemeyer unterzeichnet. Ich ließ ihn unbeachtet. Zwei Wochen darauf, nachdem ich noch zwei weitere Erpresserbriefe erhalten hatte, las ich einen neuen Angriff auf mich in der Revue du Globe, womöglich noch giftiger und haßerfüllter als der erste. Auch dieser war François Brüggemeyer signiert. Tagelang habe ich François Brüggemeyer gesucht. Erst jetzt finde ich ihn in dieser Villa. Mein Herr, begreifen Sie meine Erregung?«
»Wenn das, was Sie sagen, wahr ist,« sagte der Marquis, »begreife ich sie. Ist es wahr, Herr Brüggemeyer?«
»Es ist wahr!« rief Lebrun.
»Es ist dummes Geschwätz!« rief Brüggemeyer.
»Man weiß, daß Sie der rückgratloseste aller Kritiker sind,« rief Lebrun. »Man ist es gewöhnt, daß Sie im März zurücknehmen, was Sie im Januar geschrieben haben. Aber, daß Sie sich schon im Februar herauslügen wollen, dafür hat man bis jetzt kein Beispiel erlebt.«
»Sie sind ein Kamel,« sagte der Kritiker Brüggemeyer. »Kein Mensch auf Erden braucht, was immer er über Ihre Erzählungen geschrieben hat, zurücknehmen, falls es nicht ein Lob gewesen sein sollte. Wenn Sie sie gelesen hätten, Herr Marquis, würden Sie das begreifen. Wissen Sie, was dieses Brechmittel von einem Menschen sich in diesen Erzählungen erlaubt hat? Er verwendet Ihren Namen als Namen einer seiner Personen.«
»Meinen Namen?!« rief der Marquis. »Er hat meinen Namen verwendet? Sprachen Sie deshalb davon, daß Sie meinen Namen gedruckt gesehen haben? Hat deshalb dieser Herr anfangs seine eigentümlichen Ausrufe an mich gerichtet? Mein Herr, Ihre Erpressergeschichte interessiert mich nicht; aber wenn Sie meinen Namen mißbraucht haben, den seit zweihundert Jahren unbefleckten Namen des Geschlechtes di Bracciano, werden Sie mir mit dem Degen in der Hand Rechenschaft geben.«
Ehe noch Lebrun antworten konnte, klopfte es, und die Türe öffnete sich. Der Diener des Marquis kam mit einem Visitenkartentablett herein.
Der Marquis beherrschte sich und nahm die Karte.
»Mr. James Kenyon, London,« sagte er. »Auch dieser Herr ist mir unbek –«
Bevor er noch den Satz zu Ende gesprochen hatte, wurde die Tür mit einem ungeduldigen Ruck aufgerissen, und ein rothaariger Herr mit blauen Augengläsern kam in das Arbeitszimmer des Marquis gestürzt.
Der rothaarige Herr sah sich um, musterte unruhig die Gesichter des Kreises und leuchtete plötzlich auf. Mit einer Stimme, die vor Befriedigung zitterte, brach er los:
»Endlich! Nach all diesen Jahren! Es war also wahr! Da steht er, und diesmal wird er mir nicht entkommen, wenn auch der leibhaftige Gottseibeiuns –«
Der Marquis vergaß Brüggemeyer und Maurice Lebrun. Er stellte sich seinem letzten, ungebetenen Gast in den Weg und sagte kalt:
»Mein Herr! Ich fange an, mich daran zu gewöhnen, daß mein Arbeitszimmer der Tummelplatz von Personen ist, die ich nicht kenne, aber bisher haben sie wenigstens gewartet, bis ich sie aufgefordert habe, einzutreten. Sie erfüllen nicht einmal diese bescheidenen Forderungen der Sitten meines Heimatlandes. Wer sind Sie?«
Der rothaarige Herr wies steif auf seine Visitenkarte.
»Ich bin James Kenyon, Detektiv aus London.«
»Und was ist der Grund, daß Sie bei mir eindringen?«
»Der, daß ich wünsche, eine Person zu arretieren.«
Der Marquis sagte:
»Verzeihen Sie mir, ich muß mich verhört haben. Sollten Sie eine Ausnahme sein? Sollten Sie nicht auch anläßlich eines Briefes kommen?«
»Doch,« sagte der rothaarige Engländer erstaunt. »Ich komme anläßlich eines Briefes.«
»Und dieser Brief war F. C. signiert, nicht wahr?«
»Nein,« sagte der Engländer, dessen Staunen sichtlich wuchs. »Warum sollte er F. C. signiert sein?«
»Wenn er nicht F. C. signiert war, dann war er mit absoluter Sicherheit P. P. signiert.«
»Nein,« sagte der Engländer noch erstaunter. »Er war nicht P. P. signiert. Warum sollte er das sein?«
»Darum,« sagte der Marquis, »weil die zwei Herren, die Sie hier sehen, der Schriftsteller Maurice Lebrun und der Kritiker Brüggemeyer, die mir beide noch vor einer Stunde unbekannt waren, beide durch diesen Brief veranlaßt, hierher gekommen sind. Der einzige Unterschied war, daß Herrn Brüggemeyers Brief P. P. signiert war, Herrn Lebruns hingegen F. C.«
Der Engländer zuckte die Achseln.
»Mein Brief war anonym. Ich habe mich auch nicht darauf verlassen, aber nun sehe ich, daß er jedenfalls die Wahrheit enthalten hat. Es ist wahr! Guten Tag, Herr Professor, es ist lange her, seit wir uns gesprochen haben! Aber diesmal –«
»Auch Sie kennen den Professor?« sagte der Marquis erstaunt. »So wie Herr Brüggemeyer und Herr Lebrun! Ich vermute, daß Sie auch eine Privatangelegenheit mit Herrn Lebrun oder Herrn Brüggemeyer haben, die Sie in meinem Arbeitszimmer zu ordnen wünschen?«
»Und ob ich den Professor kenne! Das will ich meinen! Ich habe dieses Vergnügen seit zehn Jahren und länger, und meine Angelegenheit spielt nicht mit diesen Herren, die mir gänzlich unbekannt sind, sondern eben mit dem Professor.«
»Mit dem Professor?« sagte der Marquis. »Was hat ein Detektiv, wie Sie, mit einem Mann der Wissenschaft zu ordnen?«
»Mann der Wissenschaft!« sagte der Detektiv Kenyon mit einem harten Auflachen. »Ich kenne die wissenschaftlichen Verdienste des Professors besser als irgendeine Akademie. Der Professor ist der größte Hochstapler, den ich in meiner fast zwanzigjährigen Laufbahn als Detektiv je das Vergnügen hatte, kennenzulernen. Er ist mir zehnmal aus den Händen geschlüpft, aber dieses Mal wird das nicht passieren. Nein, dieses Mal nicht! Ich bin hier mit ein paar Handschellen, zu denen ich vor mehr als zehn Jahren Maß genommen habe, und ich werde, mit Ihrer Erlaubnis, meine Herren, das Vergnügen haben, sie um die Hände des Professors Pelotard, alias Filip Collin, zu placieren.«
Der Schriftsteller Lebrun machte einen Schritt vor.
»Heißt Professor Pelotard eigentlich Filip Collin?«
»Ja,« sagte der Detektiv Kenyon. »Kennen Sie auch den Namen?«
»Nein, ich kenne den Namen nicht,« sagte Lebrun. »Aber, als Sie ihn aussprachen, fiel mir eine Sache auf. Wenn man die Initialen des Namens nimmt, was kommt da heraus?«
»F. C.,« sagte der Detektiv Kenyon.
»F. C.,« wiederholte Maurice Lebrun. »Mein Brief war F. C. unterzeichnet. Und wenn man die Anfangsbuchstaben von Professor Pelotards Titel und Namen nimmt, was bekommt man dann?«
»P. P., natürlich,« sagte der Detektiv Kenyon.
»P. P.,« stammelte der Kritiker Brüggemeyer. »Mein Brief war P. P. unterzeichnet.«
»Er ist also F. C.!« rief der Schriftsteller Lebrun.
»Er ist also P. P.,« rief der Kritiker Brüggemeyer.
»Er ist sowohl F. C. wie P. P.,« sagte der Marquis mit emporgezogenen Augenbrauen.
Der Professor hatte einen Stuhl vor sich hingestellt. Er sah hastig auf seine Uhr, wie, um sich zu vergewissern, wieviel Minuten der Freiheit er noch haben mochte. Kenyon und die anderen hatten einen Kreis um ihn gezogen. Er hob die Hand und sagte:
»Meine Herren! Der Detektiv Kenyon ist hier, um mich zu arretieren, und wie Sie sehen, bin ich hilflos in seiner Hand. Diesmal brauchen Sie keine Angst zu haben, Herr Kenyon. Wenn Sie allein nicht genug wären, um mir die Handschellen anzulegen, die Sie seit dem Jahre 1910 fertig haben, so haben Sie drei Personen, die bereit sind, Ihnen zu helfen. Aber bevor Sie mich arretieren, habe ich eine Erklärung abzugeben.«
»Machen Sie sie kurz!« rief Kenyon ergrimmt. »Ich kenne Ihre Kniffe. Aber diesmal werden Sie mir nicht entwischen.«
»Ich widersetze mich der Erklärung des Professors,« sagte der Kritiker Brüggemeyer hastig.
»Ich ebenfalls,« sagte Maurice Lebrun, ebenso hastig.
»Und ich verlange sie zu hören,« sagte der Marquis, der sich die Hände rieb und beim Anblick von Kenyons Handschellen in glänzende Laune zu geraten schien. »Als Hausherr und als eine Person, die bisher ohne besonders große Rücksichten behandelt wurde, verlange ich die Erklärung des Professors zu hören. Es ist nur gerecht, daß er sich aussprechen darf, bevor er arretiert wird. Nun, Herr Professor?«
»Bevor Sie kamen, Herr Kenyon,« sagte der Professor, »hatten wir eine literarische Debatte. Ich habe einen Beitrag dazuzugeben. Die Sache ist die, daß ich im Dezember des vorigen Jahres die Bekanntschaft Herrn Lebruns, wie Herrn Brüggemeyers machte. Ich kannte die Namen dieser beiden Herren aus den Zeitschriften. Die beiden Herren ließen mich wissen, daß sie nach Rom gekommen waren, um zu arbeiten. Herr Brüggemeyer hatte einen Kontrakt mit der Revue du Globe über eine Serie kritischer Artikel, von der jeder mit fünfzehnhundert Franken honoriert werden sollte. Herr Lebrun hatte einen Kontrakt mit der Revue Lévy über eine Serie Erzählungen, von der jede Erzählung mit fünftausend honoriert werden sollte. Das sind schöne Honorare und ich beneidete die beiden Herren, denn selbst war ich durch den Krieg ein armer Teufel geworden. Nach einiger Zeit bemerkte ich eine Sache. Herr Lebrun war verstimmt. Bald glaubte ich aus bestimmten Gründen die Ursache seiner schlechten Laune zu erraten. Er konnte nicht mehr arbeiten, er war ausgeschrieben.«
Der Schriftsteller Lebrun machte knurrend einen Schritt auf den Professor zu.
»Sie sehen, Herr Kenyon, Sie brauchen nicht zu fürchten, keine Bundesgenossen zu haben. Nein, Herr Lebrun konnte nicht arbeiten, das wurde mir bald klar, als ich seine Verstimmtheit sah und seine bitteren Ausfälle gegen die Literatur und die Kritik hörte.
Womit soll sich ein armer ruinierter Professor die Zeit vertreiben?
Eines Tages setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Mit einigem Bemühen und Nachdenken gelang es mir, eine Erzählung zusammenzubringen. Ich fand sie nicht besonders gut, aber immerhin passabel, und ich schrieb sie auf der Maschine ins reine. Ich wußte, daß die Erzählung eines Amateurs keine großen Aussichten hatte, gedruckt zu werden. Ich dachte: Warum nicht zwei Fliegen auf einen Schlag? Ich werde nicht gedruckt, Herr Lebrun wird sofort gedruckt. Ich kann offenbar Erzählungen schreiben, Herr Lebrun ist ausgeschrieben. Warum die Erzählung nicht mit Herrn Lebruns Namen signieren?«
»Haha! Er hat Lebruns Erzählung geschrieben! Er! Er hat seine Erzählungen geschrieben! Ich glaubte wohl eine Aenderung zum Besseren zu bemerken!« rief der Kritiker Brüggemeyer, indem er sich vor Lachen wälzte.
Ultraviolett im Gesicht beugte sich der Schriftsteller Lebrun über den Professor und rief:
»Elender! Sie haben meinen Namen gestohlen, und weil ich Sie nicht öffentlich brandmarkte, suchten Sie mir Geld zu erpressen! Schämen Sie sich denn nicht, Ihre Schande zu enthüllen?«
»Aber«, fuhr der Professor fort, »ich unternahm keinerlei Versuche, in Herrn Lebruns Namen Honorare von der Zeitschrift zu erlangen. Daß Herr Lebrun alles bezüglich der Honorare genau geordnet hatte, davon war ich überzeugt. Darum schrieb ich an Herrn Lebrun und sagte: Sie liefern den Namen, ich die Arbeit. Lassen Sie uns teilen! Ich bekam keine Antwort. Unterdessen war mir noch eine Sache aufgefallen. Herr Lebrun war nicht der einzige, der an Schwermut litt. Es gab noch jemand anderen, der unaufhörlich bittere Ausfälle machte, nicht nur gegen die Literatur, was sein Metier war, sondern auch gegen die Kritik und den Beruf des Kritikers. Diese Symptome frappierten mich als analog mit jenen, die ich früher bei Herrn Lebrun beobachtet hatte. Ich zog die Schlußfolgerung, daß, wenn die Symptome gleich waren, die Krankheit es auch sein würde. Ich setzte mich folglich wiederum an den Schreibtisch und warf einige einfache Reflexionen über Bücher und Schriftsteller hin. Ich benützte die Gelegenheit, um Herrn Lebrun im besonderen eine kleine Zurechtweisung zu erteilen, im Hinblick auf meine ausgebliebenen Honoraranteile. Ich schickte diese Reflexionen an die Revue du Globe, François Brüggemeyer signiert und –«
»Haha!« brüllte der Schriftsteller Lebrun, »er hat Brüggemeyers Artikel geschrieben! Er! Ich glaubte zwar zu merken, daß der Stil besser war!«
»Nur ein Mensch,« sagte der Kritiker Brüggemeyer mit essigsaurer Stimme, »für den Stil ein unbekannter Begriff ist, kann so etwas behaupten. Elender Schwindler! Sie haben mir mehr Meinungen auf den Hals geladen, als ich in zwei Monaten zurücknehmen kann, und ein paar Honorare, die mir den Rest meiner Arbeitskraft gestohlen haben. Nur eines stimmt mich milder gegen Sie, das ist die Behandlung, die Sie Herrn Lebrun in Ihren Artikeln angedeihen ließen.«
»Das habe ich vergessen,« rief Lebrun. »Also nicht genug damit, daß Sie meinen Namen stehlen, daß Sie mir Geld zu erpressen suchen, und daß Sie, wenn es nicht gelingt, meine Unterschrift fälschen und eines meiner Honorare stehlen – Sie machen sich auch noch zum Kritiker, um in dieser Eigenschaft den Namen, den Sie gestohlen haben, in den Staub zu ziehen! Das ist zu viel!«
»Es ist auf jeden Fall genug,« sagte Kenyon und trat mit den Handschellen vor. » Im Namen des Gesetzes –«
Bevor er noch den Satz beendet hatte, wurden seine Worte von draußen in dröhnendem Italienisch wiederholt. Schwarze Gestalten schienen rings um die Villa Bracciano aus dem Boden zu schießen, Federbüsche wehten, Befehle ertönten. Ein Ruf widerhallte irgendwo aus der Villa: »La Guardia Regia, die königliche Polizei!«
Im nächsten Augenblick war das Zimmer von schwarz gekleideten Männern überschwemmt, großen, starken Söhnen Calabriens, das berühmter durch seinen Wein, als durch die Begabung seiner Söhne ist, acht Männern mit schwerfälligen Gesichtern unter dem Befehle eines Sergeanten mit Federbusch. Sie riefen in einem unverständlichen Italienisch durcheinander. Der Sergeant strahlte bei dem Anblick des Professors, der hinter seinem Sessel stand, von Kenyon, Lebrun und Brüggemeyer bedrängt.
»Komme ich zurecht?« rief er in seinem dicken Dialekt.
»Sie kommen, wie ich Sie gebeten habe, auf den Glockenschlag,« sagte der Professor. »Sie kommen genau im rechten Augenblick, um das bolschewistische Oberkomitee in dieser Gegend, die Herren Kenyon, Lebrun und Brüggemeyer und ihren Chef, den Marquis von Bracciano, zu arretieren.«
Der Marquis machte mit funkelnden Augen einen Schritt auf ihn zu.
»Sie haben mich angezeigt?«
»Ja.«
»Mitgefangen, mitgehangen.«
»Ist das ehrliches Spiel?«
»Und Ihr Benehmen gegen mich und meine Freunde dort oben? War das ehrliches Spiel?«
Der Marquis begann in strömendem Italienisch auf die Schwarzgekleideten einzureden. Er sagte ihnen, wer er war. Er beschwor sie bei allen Heiligen, doch keine Dummheiten anzustellen. Dieselbe Bitte wurde von dem Kritiker Brüggemeyer, dem Schriftsteller Lebrun und dem Detektiv Kenyon an sie gerichtet. Man hätte ebensogut die Felsen über Frascati anrufen können. Der Sergeant mit dem Federbusch grinste nur und sagte, in seinem gebrochenen Calabreser Dialekt: Capit! Ist schon gut! Aber ich weiß, wer Sie sind. Der Herr – hat's mir gesagt und ich kenne den Herrn schon seit zwei Wochen. Ihr seid Bolschewiken. Und es ist unsere Pflicht, die Bolschewiken hopp zu nehmen. Außerdem kriegen wir eine Belohnung dafür. Capit? Der Herr hat gesagt: Kommt punkt vier Uhr. Punkt vier Uhr sind wir gekommen, und jetzt haben wir euch! Capit?« Die übrigen riesenstarken Calabreser sagten nicht ein Wort. Mit ihren schweren Pranken legten sie Beschlag auf den Marquis, Brüggemeyer, Lebrun und den Detektiv Kenyon. Keine noch so wütenden Proteste machten Eindruck auf sie. Und das Englisch und Französisch, das sie hörten und das ihre dicken Köpfe dunkel von Reichsitalienisch zu unterscheiden vermochten, bestärkte sie noch in ihrer Ueberzeugung, daß sie es mit Bolschewiken zu tun hatten. Sie wußten sehr wohl, daß die Bolschewiken Russen waren. Nach wenigen Minuten waren die sämtlichen vier Herren festgenommen und gebunden.
Als sie abgeführt wurden, drehte sich der Marquis um und sah den Professor mit einem funkelnden Katzenblick an.
»Sie haben gezeigt, daß Sie Repliken sagen können,« sagte er. »Aber die letzte ist noch nicht gesagt. Wir treffen uns wieder.«
»Das wollen wir,« sagte der Professor. »Dann können wir uns weiter über Clodia und Cicero unterhalten.«
Der Detektiv Kenyon wand sich in dem Griff seiner Gefängniswächter, wie Simson in dem der Philister und brüllte:
»Sie verfluchter Schwindler, aber das nächste Mal werden Sie nicht davonkommen, das schwöre ich.«
Der Professor sagte freundlich:
»Das nächste Mal werden Sie besser davonkommen. Heute war ich gezwungen, Sie so zu behandeln, um ein bißchen Zeit zu gewinnen.«
Der Kritiker Brüggemeyer sagte mit konzentriertem Haß in der Stimme:
»Sie mutzen mir die unmöglichsten Meinungen auf, Sie stehlen meine Arbeitskraft, und als Krone des Ganzen bringen Sie mich noch ins Gefängnis. Sie sind ein Kamel.«
Der Professor sagte: »Ich danke Ihnen für die angenehme Zusammenarbeit, Herr Brüggemeyer. Und seien Sie nicht ungehalten! Im Gefängnis werden Sie Ihre Arbeitskraft wiederfinden, wie Oscar Wilde.«
Der Schriftsteller Lebrun rief mit kaum verständlicher Stimme:
»Es war Ihnen also nicht genug, meinen literarischen Ruf zu stehlen! Sie müssen mir auch noch meinen bürgerlichen rauben.«
Der Professor sagte:
»Ich danke Ihnen für eine angenehme, wenn auch einseitige literarische Zusammenarbeit, Herr Lebrun. Und was das heutige Ereignis betrifft, sollten Sie mir dankbar sein. Es wird Ihnen doch endlich die Idee zu einem Roman geben, zu einem Roman von Ihnen selbst.«
Auf der Schwelle der Villa sagte der Professor zu dem befriedigt grinsenden Polizeisergeanten:
»Ich komme Ihnen auf die Wache nach. Aber zuerst will ich das Haus revidieren und die ganze Bolschewistenliteratur als Beweisstück zusammensuchen. Diese Sache werden Sie ja vielleicht nicht recht verstehen!«
Der Polizeisergeant nickte. Der Professor hatte in dem so gut wie unverständlichen calabreser Dialekt gesprochen. Aber die sechs Arrestanten – die beiden Diener des Marquis befanden sich auch darunter – ahnten die Bedeutung seiner Worte. Als er sich umdrehte, um in die Villa zu gehen, ertönte ein Aufschrei der Erbitterung von zwei von ihnen, dem Marquis und Kenyon:
»Er kommt gar nicht mit! Er macht sich aus dem Staub!«
Die Polizisten schüttelten sie mit ihren großen Händen, um sie zum Schweigen zu bringen. Aber, als der Professor die Stufen zur Villa hinaufging, geleitete ihn eine Serie empörter Rufe:
»Er kommt nicht mit! Er brennt durch!«
Dann waren die Arrestanten außer Hörweite. Der Professor ging mit leichten Schritten die Treppen zum oberen Stockwerk hinauf und ohne zu zögern auf eine bestimmte Türe zu. Diese Türe war verriegelt und versperrt. Er nahm einen Schlüsselbund aus der Tasche und begann an den verschiedenen Schlössern zu hantieren. Es dauerte nur wenige Minuten, so sprangen sie auf. Er öffnete die Türe und wurde von zwei Stimmen begrüßt, die wie eine klangen:
»Sie, Professor! Endlich!«
Das Zimmer beherbergte zwei Herren, von denen der eine sehr mager war, der andere auf dem besten Wege, es zu werden, und beide unglaublich unrasiert. Sie waren auf altertümliche Weise an die Wand geschlossen, mit soliden, gut versperrten Fußketten. Der Schlüsselbund des Professors trat wieder in Aktion. Die beiden Herren waren frei und erhoben sich ein wenig mühselig. Eine Handshake-Szene folgte.
»Professor! Das ist aber lange her!«
»Lavertisse, Graham! Das kann man wirklich lange nennen!«
»Fünf Jahre!«
»Vier Jahre!«
»Es hätte leicht noch länger dauern können, bis wir uns wiedergesehen hätten.«
»Jawohl, wenn Sie nicht gewesen wären!«
»Hätte der Marquis uns losgelassen, so wäre es nur gewesen, um uns der Quästur zu überliefern!«
Der Professor winkte.
»Jetzt ist er selbst auf dem Wege zur Quästur. Insofern sind die Forderungen der Gerechtigkeit erfüllt. Vergeßt ihn! Wir haben ihm keine Zeit zu opfern. Folgt mir!«
Die zwei befreiten Gefangenen folgten dem Professor die Treppen hinunter zu einer anderen gut versperrten Türe. Der Schlüsselbund des Marquis trat zum dritten Male in Aktion. Als die Türe aufsprang, zeigte es sich, daß sie in ein Zimmer ohne Fenster führte. Sein einziger Inhalt war ein Koffer – ein Koffer, der eines Abends in der Dämmerung vor nicht allzu langer Zeit in dieses Zimmer gekommen war. Die dazwischenliegende Zeit hatte seinem Inhalt einigermaßen zugesetzt. Barrikaden werden nicht gratis gebaut, und das Revolverschießen kostet Geld. Aber als die drei Freunde den Inhalt untersuchten, war er doch genügend, um ein vergnügtes Lächeln auf ihre Gesichter zu zaubern.
»Dreihunderttausend Lire,« sagte der Professor. »Nicht viel bei dem jetzigen Kurs, aber genug für arme Teufel, die durch den Krieg ruiniert sind. Bitte, bedienen Sie sich, Graham, bitte, bedienen Sie sich, Lavertisse!«
»Lavertisse! Sind Sie verrückt, Professor? Der macht ja jetzt nur streng ehrliche Geschäfte.«
»Ich weiß, Lavertisses neue Prinzipien gehören zu den wenigen moralischen Errungenschaften des Weltkrieges. Ich hatte gehofft, aus einer literarischen Darstellung derselben genug Geld herauszuschlagen, um Sie und Lavertisse selbst freizukaufen. Aber, das ist mir mißlungen. Ich werde nie mehr ungebeten Novellen und Kritiken schreiben. Schriftsteller und Kritiker sind ein zu irritables Geschlecht, als daß sich das lohnen sollte. Aber im übrigen betrachte ich auch das Geschäft, das wir eben jetzt machen, als streng ehrlich.«
»Ich auch,« sagte Lavertisse.
»Gut,« sagte der Professor, »dann sind nur noch zwei Dinge zu tun.«
Die drei Freunde gingen in den Garten der Villa Bracciano. Der Professor suchte eine Ecke auf, wo eine Steineiche mit einer eigentümlichen Geschwulst stand. An ihrem Fuß grub er ein Loch, legte einige Tausender in ein Futteral, schob es in das Loch und füllte es wieder mit Erde aus.
»Das ist für unseren Freund Giacomo,« sagte er, »den Diener des Marquis, den es mir gelang zu bestechen, als Bote zwischen euch und mir zu fungieren. Er mußte sich jetzt arretieren lassen, aber er wird wieder frei, und wenn er es wird, dann hat er seine Belohnung hier. So haben wir es vereinbart. Wäre er nicht gewesen, hätte ich weder Ihr Erlebnis erfahren, Lavertisse, noch hätte ich Sie in der Revue Lévy besingen können.«
Lavertisse strich sein unrasiertes Kinn. Die Bartstoppeln knisterten wie Laub im Herbstwinde.
»Wenn Sie mich nicht an jenem Abend bei der politischen Versammlung des Marquis in der Via Cavour gesehen hätten und mir gefolgt wären, dann hätten Sie nie erfahren, daß wir in seinen Händen waren. Und wären wir dann aus der Villa Bracciano herausgekommen, dann wäre es nur gewesen, um auf die Quästur transportiert zu werden.«
»Nun ist der Marquis selbst in der Gesellschaft Kenyons auf dem Wege hin. Die Forderungen der Gerechtigkeit sind erfüllt. Nun erübrigt nur noch eines. Folgt mir.«
Die drei Freunde nahmen den Weg durch den Park zum Kasino. Es war jetzt gegen fünf Uhr. Es dämmerte. Die Kronen der Pinien waren dunkelblau, die Campagna unter Frascati lag blau da, wie ein Frühlingsmeer, ein dünner Neumond zog eine Silberritze durch das türkisblaue Email des Himmels.
»Dies ist meine Ausgrabung,« sagte der Professor. »Meine Arbeit im Dienste der Wissenschaft. Es freut mich, ihr ein solches Opfer zu Füßen legen zu können. Nun mögen andere Professoren kommen und nach Belieben Abhandlungen über meine Entdeckung schreiben. Ich wollte sie bei dem Marquis zu Gold machen, aber das einzige, was ich erlangte, war die Bestätigung, daß die Wissenschaft ihren Alumnen kein Gold abwirft. Der Marquis prellte mich auf altrömische Weise. Nun, ich hatte ihn ja auch teilweise geprellt. Die Villa ist echt genug, aber ob Cicero da gewohnt hat, das dürfte ungewiß sein. Mein Fries und meine hausgemachte Inschrift schluckte der Marquis wie Butter, aber ob andere sie auch schlucken werden, das kann nur die Zukunft lehren. Aber, ich verzage nicht. Der Fries soll nur liegenbleiben. Doch da ist eine andere Sache, die ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückgestellt werden muß.«
Herr Collin holte aus dem Haus eine kleine Holzkiste, füllte sie mit Heu und Sackleinwand und legte einen Marmorkopf hinein – einen Kopf mit einem faszinierenden Gesicht, mit leicht gebogener Nase, mit einem feinen, sinnlichen Mund und mit zwei blinden Marmoraugen, die ausdrucksvoller waren als die meisten lebenden Augen. Er sah ihn lange an, bevor er ihn verhüllte und die Kiste zunagelte. Dann schrieb er ein paar Zeilen auf eine Karte:
Lieber Direktor Parabeni!
Eines Tages vor längerer Zeit wollten Sie wetten, hundert Lire gegen eine, daß Diebstähle in Ihrem Museum ausgeschlossen seien. Ich riet Ihnen ab. Aber Sie waren eigensinnig. Eines Tages vor nicht gar so langer Zeit besuchte ich also, versehen mit einem Radmantel und einer Kopie von Lesbias Kopf zu zwanzig Lire, Ihr Museum, in dem ich so viele genußreiche Stunden verbracht habe.
Ich sende Ihnen hiermit Lesbia zurück. Lassen Sie meine Kopie auf dem Sockel 272 stehen und placieren Sie in Zukunft dieses Meisterwerk in einer würdigeren und etwas sichereren Umgebung.
Die Schmähinschrift, die auf Lesbias Hals steht, ist mit roter Tusche gemacht und läßt sich leicht entfernen. Sie drückt keineswegs meine Gefühle für dieses anbetungswürdige Weib aus. Sie entstand bei dem Versuche, mit einem Abkömmling ihres Bruders, des Volkstribunen, Geschäfte zu machen.
Ich bitte Sie, meine gewonnene Wette irgendeinem Fonds für Gelehrte zu stiften, die durch den Krieg ruiniert sind.
Leben Sie wohl! Wir dürften uns nicht sobald wiedersehen.
Ihr immer gleich ergebener
Professor Pelotard.
»Dies muß noch befördert werden,« sagte Herr Collin. »Und laßt uns dann vereint in die in Versailles neugeschaffene Welt hinausziehen!«
*