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Das Viertel um die Spanische Treppe wimmelt von Touristen, Blumenverkäufern und Antiquitätengeschäften. Zwei Teesalons wenden sich an den Durst der besseren Menschen. Hingegen befindet sich nur eine Bar da – von der gewöhnlichen italienischen Sorte. Wie alle solche hat sie eine Zinkschank, einen ständig rinnenden Wasserhahn, eine Unendlichkeit von vielfarbigen Flaschen und eine Maschine zur Bereitung von Espresso – Kaffee mit Dampf gekocht.
Am Morgen des 10. November 1919 verließ ein rothaariger englischer Tourist diese Bar, nachdem er seine Zeche bezahlt hatte. In den Fußtapfen von zwanzig Seminaristen in flatternden schwarzen Gewändern ging er die Spanische Treppe hinauf. Mitten auf der Treppe spielten drei blinde Musikanten unter der Aufsicht ihres Ausbeuters, eines dicken Mannes, der, mit dem Hut in der Hand, alle Vorübergehenden attackierte, indem er rief: » Poveri cechi, signori, signori! Arme blinde Männer!« Die zwanzig Seminaristen hoben segnend und abwehrend die Hände. Der Engländer warf dem Mann einen verachtungsvollen Blick und einen Fünflireschein zu und verschwand in der Via Sistina.
Anstatt dessen zeigte sich unterhalb der Treppe ein schwarzbeschnurrbarteter Herr, der mit melancholischen Augen die Blumenpracht des Spanischen Platzes überflog. Die roten Tulpen, die gelben Mimosen, die weißen Schwertlilien, die ganze Fanfare von Farben entlockte ihm nicht ein einziges Lächeln. Hingegen betrachtete er mit sichtlichem Interesse einen Kutscher, der ein Stück Brot und einen Knoblauch zum Frühstück verzehrte. Der Kutscher winkte eifrig mit der Peitsche, aber der schwarzbeschnurrbartete Herr schüttelte den Kopf und ging mit einem melancholischen Blick auf das Brot und den Knoblauch die Häuser entlang, bis er das Haus Nummer 97 gefunden hatte.
Während der Engländer seine Zeche bezahlte, hatte er auf englisch gesagt:
»Rom hat Versuchungen!«
Und der Mann, der hinter dem Schanktisch stand, hatte glucksend geantwortet:
»Und was es vielleicht nicht hat, läßt sich beschaffen.«
Der schwarzbeschnurrbartete Herr stand da, die Blicke melancholisch auf die Hausnummer 97 geheftet. Ja, das war 97. Seltsam! Er machte ein paar Schritte, um zu sehen, ob es noch einen anderen Eingang gab. Aber in Italien hat jede Tür ihre eigene Nummer. Die Tür, die die Nummer 97 trug, teilte diese Nummer mit keiner anderen Tür. Und die Tür Nummer 97 führte in ein Gasthaus – in eine gewöhnliche italienische Bar, wo die Espressomaschine wie ein Verdammter kreischte, während sie den Kaffee bereitete.
Der schwarzbeschnurrbartete Herr zuckte die Achseln und trat durch die Türöffnung, die der Tür ermangelte.
Der Mann hinter der Schank sah kaum auf. Er spülte eben Gläser.
»Signor, Sie wünschen?«
Der schwarzbeschnurrbartete Herr sagte mit gesenkter Stimme, wie in geheimer Mission:
»Kann ich Signor Carlo Carletti hier treffen?«
»Das bin ich.«
Der schwarzbeschnurrbartete Herr prallte einen Schritt zurück.
»Das sind Sie?«
»Das bin ich. Wundert Sie das? Haben Sie etwas dagegen einzuwenden, daß ich Carletti heiße?«
Der schwarzbeschnurrbartete Herr zog einen Brief aus der Tasche, sah Signor Carletti an und überreichte ihn. Der Mann hinter dem Schanktisch las den Brief durch.
»Nun?« sagte der schwarzbeschnurrbartete Herr herausfordernd.
»Ich sage ganz dasselbe,« erwiderte der Mann hinter dem Schanktisch.
»Und ich sage noch einmal: Nun?«
»Ich kann Sie nicht daran hindern!«
»Oder mit anderen Worten?«
»Ich überlasse es Ihnen, diese Worte zu finden.«
Der schwarzbeschnurrbartete Herr nahm den Hut ab und fuhr sich über die Stirn. Der Mann hinter dem Schanktisch servierte einem Soldaten einen Americano, einem Zivilisten einen Aranciata und einer Amme, die mit dem Kind an der Brust in die Bar gekommen war, einen Espresso. Der schwarzbeschnurrbartete Herr fuhr sich ein Mal ums andere über die Stirn. Plötzlich brach er los:
»Mein Herr! Ich wünsche eine Erklärung!«
»Eine Erklärung? Wofür?«
»Gestern morgen erhielt ich diesen Brief in Monte Carlo. Wie Sie sehen, enthält er die Aufforderung, nach Rom zu fahren. Außerdem enthält er eine bestimmte Adresse in Rom. Ich bin nach Rom gefahren, und ich habe die Adresse gefunden. Es ist Ihre Adresse. Nun?«
»Nun?«
»Was sagen Sie dazu?«
»Ich sage, Sie haben impulsiv gehandelt.«
»Mit anderen Worten?«
»Finden Sie diese Worte!«
»Mit anderen Worten: Sie wissen nichts von der Sache?«
»Sie haben vollkommen recht. Ich weiß nichts von der Sache.«
Der schwarzbeschnurrbartete Herr, der sich den Hut aufgesetzt hatte, nahm ihn wieder ab und schlug ihn auf die Zinkschank, so daß es aufklatschte.
»Mit anderen Worten, jemand hat sich auf meine Kosten amüsiert! Jemand hat sich damit amüsiert, sich auf meine Kosten zu amüsieren. Ah, sapristi! Donnerwetter! Aber man amüsiert sich nicht auf meine Kosten. – Und wenn man es tut, pflegt man doch nicht tausend Franken dafür hinauszuwerfen. Der mir diesen Brief schickte, hat tausend Franken hineingelegt. Was er auch getan hat, dieser Herr, er hat sich nicht gratis auf meine Kosten amüsiert!«
»Das mag Ihnen ein Trost sein,« sagte der Mann hinter dem Schanktisch trocken.
Der schwarzbeschnurrbartete Herr warf einen wütenden Blick auf die Espressomaschine, den Soldaten, der den Americano trank, und die Amme, die mit dem Kind an der Brust ihre zweite Tasse Kaffee schlürfte. Er war im Begriffe zu gehen, als der Mann hinter der Schank plötzlich Interesse für ihn zu fassen schien.
»Sie sind von Monte Carlo nach Rom gefahren?«
»Sapristi! Ich habe es Ihnen gesagt.«
»Um mich zu treffen? Einen Menschen, den Sie gar nicht kennen?«
» Mille tonnerres! Versuchen Sie nicht, mich noch lächerlicher zu machen, als ich ohnehin schon bin.«
»Sie kennen vielleicht sonst niemanden in Rom?«
»Doch, den Papst! Bei allen Teufeln, Signor!«
»Sie wünschten, Sie hätten den Mann, der Sie hergeschickt hat, hier?«
Der schwarzbeschnurrbartete Herr starrte Signor Carletti düster an.
»Wenn ich mir die Sache überdenke, ist es vielleicht gar nicht notwendig, soweit zu gehen, um ihn zu finden. Ihr Name dürfte außerhalb von Rom nicht gar so vielen bekannt sein. Je mehr ich mir die Sache überdenke, desto klarer wird es mir, daß –«
»Daß ich derjenige bin, der den Brief geschrieben, tausend Franken hineingelegt und ihn Ihnen in Monte Carlo zugestellt hat? Je mehr Sie sich die Sache überdenken, desto wahrscheinlicher kommt Ihnen das vor?«
Der schwarzbeschnurrbartete Herr brach in einen Strom von bunten, klingenden Flüchen aus. Der Mann hinter der Schank sah nicht aus, als könnte er mit den Tausendern so um sich werfen. Der Mann hinter der Schank – er war fett, olivengelb und öllockig – unterbrach ihn, die Daumen in den Achselhöhlen. Er deutete auf die Amme, die jetzt das Kind durch eine dritte Tasse Espresso einer Koffeinvergiftung aussetzte, und sagte:
»Mein lieber Herr, man flucht nicht so in Gegenwart eines unschuldigen Kindes! Ich heiße Carlo Carletti. Ich bin ein ehrlicher Barbesitzer. Ich wußte nicht, daß jemand außerhalb von Rom meinen Namen kennt, aber offenbar ist dies der Fall, und offenbar hat es diesem Jemand ein Vergnügen bereitet, meinen Namen zu einem Schabernack zu verwenden, den er Ihnen gespielt hat.«
»Offenbar! Sapristi! Tausend Teufel!«
»Ich verstehe, daß Sie schlimm dran sind, auch wenn der Mann, der Ihnen diesen Streich spielte, Ihnen tausend Franken geschickt hat.«
»Ich habe sie gestern nacht im Spiel an einen italienischen Marquis verloren. Ah, mille!«
»Was ich sagen will, ist dies: Wenn Sie meine Hilfe annehmen wollen, bin ich bereit, Ihnen zu helfen.«
Das Gesicht des schwarzbeschnurrbarteten Herrn erhellte sich, wie ein Himmel nach einem Unwetter.
»Aber ich weiß nicht, wann ich zurückzahlen kann.«
»Ich kann Ihnen nicht mit Geld helfen.«
»Womit denn?«
»Mit einer Stelle.«
»Bei Ihnen?«
»Ja!«
»Hier in der Bar?«
»Ja!«
Der schwarzbeschnurrbartete Herr, der einen Gehrock und Lackschuhe trug, sah sich hilflos um. »Barkellner!«
Ein seltsamer Ausgang einer Reise nach Rom! Menschen fuhren nach Rom, um Mönche und Nonnen zu werden, aber war schon je einmal ein Mensch hierhergefahren, um Bartender zu werden? Aber konnte er wählerisch sein? Er stand da ohne einen Sou, in einem Land, dessen Sprache er kaum kannte. Und man mag von dem Beruf des Bartenders sagen, was man will, es ist ein ehrlicher und gesetzlicher Beruf überall, außer in Amerika. Und ein ehrlicher Lebensunterhalt war ja sein Traum gewesen.
»Es ist abgemacht,« sagte er, und reichte Carlo Carletti seine Visitenkarte.
Signor Carletti las:
M. Adolphe Lavertisse
Grand Industriel
Paris.
Signor Carletti steckte sie in die Tasche, mit einer Geste, als wäre er es gewöhnt, täglich die Männer der Großindustrie in seinem Geschäft zu engagieren.
Aber Herrn Lavertisses Tätigkeit hinter dem Schanktisch war nicht von langer Dauer. Er konnte sich kaum mit den verschiedenen Mitteln vertraut machen, die man in Italien anwendet, um sich des Gebrauchs der Vernunft zu berauben. Er konnte sich kaum über die leichtsinnige Art und Weise verwundern, wie Carlo Carletti große Summen in einer offenen Kassenlade verwahrte. Eines schönen Morgens schien die Sonne auf die Spanische Treppe; die Seminaristen in ihren schwarzen Röcken wanderten sie hinauf und hinunter, so wie die Engel die Jakobsleiter hinauf und hinunter gingen, und unter sie gemischt, wie Luzifer unter die Engel, kam ein rothaariger englischer Tourist. Der englische Tourist machte nichts Besonderes, er hatte blaue Augengläser, durch die er sich die Waren eines Antiquitätengeschäftes ansah. Gleichzeitig sprach er mit dem Inhaber und gab ihm schließlich einen Scheck auf den Credito Italiano. Dann verließ er den Laden, und gleichzeitig kam es Carlo Carletti in den Sinn, daß seine Bar unzureichend mit Blumen geschmückt war. Er ging auf den Spanischen Platz, der eine nationalistische Fanfare von Rot, Weiß und Grün war. Am Fuße der Spanischen Treppe stieß er, wie zufällig, mit dem Engländer zusammen. Der Engländer sagte, wie alle Engländer sagen:
» Well!«
Carlo Carletti antwortete rätselhaft:
»Ehrlich!«
Hierauf antwortete der Engländer lakonisch, indem er einen Namen nannte. Carlo Carletti deutete quer über den Spanischen Platz und fragte nur:
»Jetzt?«
Der Engländer nickte und verschwand in den Fußtapfen einer neuen Schar Seminaristen die Spanische Treppe hinauf! Carlo Carletti kaufte eine Ladung Blumen in der Größe eines Wagenrades, rief seinen Schutzheiligen zum Zeugen an, welcher Wahnsinn es sei, eine Lira dafür zu geben, und kehrte in die Bar zurück.
»Mein Großvater«, sagte er zu seinem Untergebenen Lavertisse, »hatte fünfzehn Kinder, mein Vater zwölf, und die älteste Schwester meines Vaters, die mit einem Pallanza verheiratet war, hatte vierzehn. Eines von ihnen ist Cesare Pallanza, der das Antiquitätengeschäft drüben auf dem Spanischen Platz hat. In diesem Geschäft braucht er einen Gehilfen, der gut Französisch spricht. Ich habe Ihnen diese Stelle verschafft.«
Lavertisse riß die Augen auf.
»Sie meinen, daß Sie mir eine Stelle verschafft haben?«
»Ja, jetzt, heute.«
»Ich muß wirklich sagen! Sind Sie unzufrieden mit mir? Nehme ich etwas aus der Kasse? Sie sollten sie nicht offen stehen lassen.«
Carlos Carlettis ölgelber Teint nahm eine Farbe an, als wenn er mit Weinessig verdünnt worden wäre. Er errötete leicht. Daran war kein Zweifel. Er sprach hastig mit ausgebreiteten Händen:
»Ich sollte mit Ihnen unzufrieden sein? Sie sollten aus der Kasse nehmen? Mai, mai! – Nie! Aber dieser Platz ist Ihrer nicht würdig. Der Platz bei meinem Cousin ist Ihrer würdig. Ich habe ihn Ihnen verschafft.«
»Was sagten Sie, ist Ihr Cousin?«
»Antiquitätenhändler.«
»Antiquitätenhändler!« Lavertisse riß die Augen noch weiter auf. »Der Zufall will es, daß ich mich auf Antiquitäten verstehe. Ich habe einmal selbst ein Antiquitätengeschäft gehabt. Und« – seine Augen wurden mißtrauisch – »der Mann, der mir den Brief in Monte Carlo geschickt hatte, wußte es, und nun wollen Sie –«
Er sah seinen Chef durchdringend an, aber sein Teint war wieder ungemischtes Oel und seine Augen schwarz und total verständnislos. Eigentlich paßte ihm ja der Wechsel. In einer Bar zu stehen und zuzusehen, wie die Menschen ihren Durst löschten, war einförmig. Am selben Nachmittag übersiedelte er auf den Spanischen Platz zu Cesare Pallanza.
Cesare Pallanzas Laden war sogar noch bunter als die Westen seines Besitzers. Er war ein Repetitionskurs in der Geschichte Italiens. Er enthielt etruskische Tränenkrüge, römische Lampen und Münzen aus allen Zeitaltern. Er enthielt Funde, in Rom gemacht, und Funde, in Berlin gemacht. Er enthielt alte Meister und billige Heiligenbilder. Ja, er hatte sogar eine eigene Schnitzerei für die Herstellung der letzteren.
Cesare Pallanza selbst war dick. In den bunten Westen, die er trug, glich sein Bauch einem gewaltigen Felde von Tulpen, Rosen und Lilien, die mit dem Spanischen Platz draußen wetteiferten. Er hatte kleine mißtrauische Augen, und es schnurrte in seinem Hals, bevor er zu sprechen anfing, wie es in einer alten Wanduhr schnurrt, bevor sie schlagen soll. Als Lavertisse auf den zweifelhaften Wert einiger in Berlin gemachter Funde aufmerksam machte, senkte er den Kopf, schob den blumengeschmückten Bauch vor und räusperte sich:
»E – eh? Mein lieber Herr! Nicht echt? Eh, ich diskutiere dies nicht. Eh – undiskutabel!«
Lavertisse gab alle Einwände auf. Die Welt will betrogen werden, wenn sie nicht selbst betrügen kann, das wußte er. Es wunderte ihn nicht, daß sein Chef es wußte. Hingegen wunderte ihn etwas anderes.
Sein Gehalt war klein, zweihundert Lire im Monat, kaum genug für Wohnung und Essen. Cesare Pallanza weigerte sich, mehr zu geben, und Lavertisse verlangte übrigens nicht mehr. Er fühlte sich wohl bei seinem ruhigen Leben und seinem kleinen, aber ehrlichen Einkommen. Aber wenn die Zeiten so schlecht waren, wie Cesare Pallanza sagte, und Cesare Pallanza selbst so mißtrauisch, wie er aussah, warum ließ dann Cesare Pallanza große Summen in seinem Kassenschrank liegen, und warum versperrte er ihn nie ordentlich?
Die Kasse war nicht der Gegenstand von Lavertisses Gelüsten, aber die Tatsache war der Gegenstand seines Nachdenkens.
Es war im November 1919, und die Parlamentswahlen standen bevor, die ersten nach dem Kriege. Alle Wände waren voll von Wahlaufrufen, jede Mauer trug flammende Rekommandationen verschiedener Kandidaten. Um das Interesse der Wähler noch mehr anzufeuern, waren die Bilder der Kandidaten in heroischen Stellungen beigefügt. Aber als ob dies nicht genug wäre, griff man zu einem in anderen Ländern unbekannten Mittel, um das Wahlinteresse wachzuhalten. Man richtete Totalisatoren für Abgeordnete ein.
Jeder Kandidat, der sich in die politische Rennbahn stürzte, wurde als ein Wettrennpferd behandelt.
In ganz Italien richteten die Zeitungen Bureaus ein, wo man auf den oder die Abgeordneten, an die man glaubte, wetten konnte.
Man konnte auf Gewinn und auf Placierung spielen. Man konnte hoch oder niedrig spielen. Eines Tages fand die Wahl statt, und wenn man richtig geraten hatte, konnte man große Odds mit einem Outsider gewinnen. Auf diese Weise erweckte man das politische Interesse zu kräftigem Leben und arbeitete der Parlamentscheu entgegen.
Eines Abends hatte Lavertisse das Vergnügen, seinen ersten Arbeitgeber wiederzusehen. Carlo Carletti zog ihn in die Bar und flüsterte:
»Ich habe etwas mit Ihnen zu reden.«
Lavertisse horchte auf.
»Sind Sie mit Ihrem Platz zufrieden?«
»Ja.«
»Aber das Gehalt ist klein.«
»Ja.«
»Es langt kaum für Wohnung und Essen.«
»Ja.«
»Haben Sie nicht Lust, mehr zu verdienen?«
»Doch, wenn es auf ehrliche Weise geschehen kann.«
Die Antwort schien Carlo Carletti zu belustigen.
»Warum beeilen Sie sich zu sagen, daß es auf ehrliche Weise sein muß?«
Lavertisse antwortete mit jenem Freimut, der großen Charakteren vorbehalten ist:
»Weil ich mein Geld nicht immer auf solche Weise verdient habe.«
Carlo Carletti war offenbar beeindruckt.
»Sie haben nicht immer –«
»Nein. Jetzt nach dem Krieg habe ich Geschäfte in Kriegslagern gemacht.«
»Und vor dem Kriege?«
»Vor dem Kriege machte ich verschiedene Geschäfte, die fast ebenso zweifelhaft waren.«
»Und jetzt?«
»Jetzt will ich ehrlich sein.«
Carlo Carletti lächelte verständnisvoll. Dann schien er sich an etwas zu erinnern.
»Früher, vor dem Krieg, haben Sie da Ihre Geschäfte allein betrieben?«
»Nein.«
»Mit wem haben Sie zusammengearbeitet?«
»Mit guten Freunden.«
»Wo sind Ihre Freunde?«
»Ich weiß es nicht. Wir wurden durch den Krieg getrennt.«
Carlo Carletti kniff zweifelnd ein Auge ein:
»Ich kenne die Namen von vielen, die gute Geschäfte gemacht haben. Wie hießen Ihre Freunde?«
»Das ist meine Privatsache.«
Lavertisse sah seinen früheren Chef mit offenkundigem Mißtrauen an. Was war der Zweck dieser Fragen? Carlo Carletti beeilte sich, das Gesprächsthema zu wechseln.
»Haben Sie Lust zu einem Geschäft?«
»Ja, wenn es ehrlich ist.«
»Natürlich, lieber Freund! Natürlich ist es ein ehrliches Geschäft, das ich Ihnen vorschlage. Was ist übrigens nicht ehrlich? Hören Sie!«
Er begann zu flüstern. Auf einem gewissen Platze in Rom wohnte eine Kongregation – eine Vereinigung dieser Männer, lieber Freunde, die das Volk in Unwissenheit und Unterdrückung niederhalten wollen. Diese Kongregation verfügte über eine Kasse, an der der Schweiß und das Blut der Unwissenden und Unterdrückten klebte, hingegen nicht ihre Flüche, denn sie waren so unwissend und unterdrückt, daß sie ihren Unterdrückern freiwillig gaben. Nun wohl, diese Kasse war überaus schlecht bewacht, und ihre Adresse hatte Carlo Carletti. Was war selbstverständlicher, als daß Lavertisse und er die Kasse für eigene Rechnung übernahmen? Brauchten sie Hilfe, so konnte Lavertisse ja seine Freunde hinbeordern.
»Ich kenne die Adresse meiner Freunde nicht,« sagte Lavertisse. »Und ich will ehrlich sein. Wie können Sie es eigentlich wagen, mir solche Vorschläge zu machen?«
»Lieber Freund, Sie sagten doch selbst, daß Sie nicht immer so ehrlich gewesen sind.«
»Ja, aber jetzt will ich es sein. Es wundert mich, daß ein ehrlicher Barbesitzer, wie Sie, auf solche Ideen kommen kann!«
»Ich!« rief Carlo Carletti. »Wollen Sie wissen, was ich bin? Ich bin Bolschewik.«
»Ich bedaure Sie,« sagte Lavertisse. »Der Bolschewismus sagt mir nicht zu. Ich konnte früher einmal die eine oder andere Expropriierung, die nicht völlig korrekt war, mitmachen, aber, wissen Sie, was Bolschewismus ist? Das ist die Militarisierung der Unehrlichkeit.«
Carlo Carletti deutete an, daß er Lavertisses Absicht verstand, die war, selbst die Adresse der Kongregationskasse zu finden. In diesem Falle täte Lavertisse wohl daran, sich in acht zu nehmen.
Lavertisse trank seinen Drink mit sokratischer Ruhe aus und verließ die Bar.
*
Lavertisse hatte den Parlamentswahlen keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Er hatte von dem Wettrennspiel mit den Kandidaten gehört und sich gewundert. Das war alles. Aber eines Abends blieb er nach der Landessitte vor einer Mauer stehen. Diese Mauer war mit Wahlaufrufen und Bildern von Kandidaten beklebt.
Alle Wahlaufrufe begannen so:
»Wähler!
Nach vier Jahren, erfüllt von den furchtbarsten und unerhörtesten, gigantischen Kämpfen gegen einen rasenden übermächtigen Feind, haben wir unseren Fuß auf den Kopf der Hydra gesetzt und gesiegt.
Wir haben den Krieg gewonnen, lasset uns den Frieden nicht verlieren!
Es gilt für uns in diesem Augenblick, eifrig und mit glühender Leidenschaft ( attivamente e con fervida passione) die Zukunft unseres so großen Landes vorzubereiten.
Was wollen wir?«
Eines der Bilder schien ihm jemandem ähnlich zu sehen, den er kannte. Er sah nach. Richtig! Das Bild stellte eine Person dar, die er kannte. Aber es stellte diese Person nicht mit einer Geste dar, die Lavertisse erkannte. Es stellte ihn dar, die eine Hand vorgestreckt, überströmend von Gaben, mit der andern verheißungsvoll auf ein Zukunftsland am Horizont deutend. Der Wahlaufruf unter dem Porträt berechtigte diese zwei Gesten. Während einige der anderen Aufrufe versprachen, für die Interessen der Arbeiter zu sorgen, einige für die Interessen der Industrie, andere für die der Grundbesitzer, einige für die der Kommunisten, einige für die der Gläubigen und einige für die der Freidenker, versprach dieser Wahlaufruf, dafür zu sorgen, daß diese sämtlichen einander so ziemlich widerstreitenden Gesellschaftsklassen das Maximum dessen erreichten, was sie wünschten.
Und der Mann mit der allumfassenden Geste, mit dieser segenausstreuenden Hand, ihn hatte Lavertisse schon gesehen! Aber damals war seine Geste der Gegensatz dessen, was sie jetzt war. Nun gab er. Damals nahm er. Der den Wählern all dies versprach, war kein anderer als der, der im Expreß von Ventimiglia nach Rom Lavertisse seine letzten Centesimi abgeknöpft hatte – der Marquis di Bracciano.
Lavertisse fluchte und ballte die Faust gegen den Wahlaufruf. Soso, der sollte Abgeordneter werden! Er, der sich nicht scheute, einen armen Reisenden seines letzten Scherfleins zu berauben, der sollte Abgeordneter werden! Nun fiel es Lavertisse ein, daß er es ja schon im Zug gesagt hatte. Mit einem solchen Wahlaufruf wurde er es auch vermutlich. Wer konnte ihn schlagen? Er war ja eine politische Universalmedizin, ein Heilmittel gegen alle Gebresten der Zeit. Es war empörend! Es war himmelschreiend! Gab es denn da kein Mittel, um das zu verhindern? Was hatte er für Gegenkandidaten?
Ein Plakat neben dem des Marquis verriet, wer einer von ihnen war. Signor Giovanni Battistini hielt sich auch für berufen, das Wort für die Wähler von Roms drittem Wahlkreis zu führen. Sein Aufruf war von einem nahezu beklemmenden Mangel an Adjektiven, die auf issimo ausgehen, charakterisiert. Er wollte Frieden und Verständnis. Der Krieg war ein Fieber gewesen. Was es nun galt, war, die Folgen dieses Fiebers zu überwinden. Arbeit! Zusammenarbeit! war Signor Battistinis Losung.
Lavertisse schüttelte den Kopf. Es würden wohl nicht viele Spieler ihre Groschen auf Signor Battistini setzen. Zum Spaß ging er zu einem Totalisator und erkundigte sich nach den Odds im dritten Wahlkreis. Es war, wie er es erwartet hatte. Wer auf den Marquis setzte, hatte im Augenblick Aussicht, drei Lire für einen zu bekommen, wer kühn genug war, auf Signor Battistini zu wetten, zweiunddreißig für einen.
Lavertisse blieb stehen und dachte nach. Rings um ihn auf der trottoirlosen Straße wogte Roms Abendverkehr. Kleine Offiziere, in blaue Togas drapiert, schlanke Römerinnen, die das Gesicht in Pelzkragen verbargen, Blicke aus Feuer und Samt verschossen, Kapuzinerbrüder in café-au-lait-farbenen Mänteln, Zeitungsverkäufer, die letzte Lüge über Fiume kreischend, Droschken, deren Pferde mit einer die Pferde in Elberfeld übertreffenden mathematischen Begabung den Minimalabstand zwischen einem Droschkenpferd und einem Menschenfuß berechneten. Lavertisse sah all dies und dachte nach. Dies waren die Wähler, an die der Marquis sich wendete. Sein Blick blieb an einem Kapuzinerbruder hängen, der, an seinem Rosenkranz fingernd, über die Straße ging. Ein Funke glomm in seinen Augen auf. Wenn – ja, wenn –
Und wenn – Warum nicht? Was riskierte er?
Nichts, aber was konnte er gewinnen?
Alles. Rache an einem Gegner, der ihn gedemütigt hatte, Revanche für sich selbst. Und möglicherweise – ja, warum nicht? – noch ein bißchen darüber –
Er warf sich in die Brust und sah über das Straßengewühl hin.
»Wenn ich den Professor da hätte, ich glaube, er wäre mit mir einverstanden!«
Mit diesen dunklen Worten eilte er heim nach dem Spanischen Platz, in Cesare Pallanzas Laden.
*
Am Tage nach der Wahl im dritten Wahlkreis fand sich ein junger Mann mit smartem Gesicht in der Redaktion der Zeitung Mezzo Giorno ein. Er wünschte den Chefredakteur zu sprechen. Er wurde abgewiesen. Er legte einen fertiggeschriebenen Artikel in ein Kuvert, versiegelte es und schickte es dem Redakteur hinein. Zwei Minuten später wurde er vorgelassen. Der Chefredakteur sah den smarten jungen Mann an.
»Sie haben diesen Artikel geschrieben?«
»Ja.«
»Warum schicken Sie ihn mir?«
»Weil die Zeitung Mezzo Giorno während der ganzen Wahlkampagne Giovanni Battistinis Sache verfochten hat.«
»Ich sehe keinen Anlaß.«
»Würde mein Artikel in einer anderen Zeitung erscheinen, so würde er zweifelsohne Giovanni Battistini in hohem Grade schaden, vielleicht eine neue Wahl veranlassen.«
»Hm, und Sie können sich für die Richtigkeit Ihrer eigentümlichen Behauptungen verbürgen?«
»Mit meinem Kopfe,« sagte der junge Mann enthusiastisch.
»Gut, hier ist ein Scheck auf fünfhundert Lire. Ich erwerbe Ihren Artikel. Schmerzt es Sie, wenn Sie ihn nicht gedruckt sehen?«
»In keiner Weise,« sagte der junge Mann, »vorausgesetzt, daß der Scheck auf tausend Lire lautet.«
Der Chefredakteur des Mezzo Giorno runzelte die Stirn. Dann murmelte er etwas, worin das Wart Parteikasse vorkam, stellte einen neuen Scheck aus und deutete durch eine Gebärde an, wo die Tür sich befand.
Der Artikel, den die Zeitung Mezzo Giorno für ihren Papierkorb erworben hatte, lautete so:
»Die Wahl im dritten Wahlkreis war das einzig spannende Detail der im übrigen so interesselosen römischen Wahlkampagne. Sie gestaltete sich zu einer Ueberraschung, wie man sie nicht oft erlebt. Das Resultat liegt vor und ist allgemein bekannt. Aber die Erklärung? Wir sind im Besitz dieser Erklärung.
Es dürfte den Scharen unserer Leser bekannt sein, daß der dritte Wahlkreis den vierzehnten und fünfzehnten Bezirk unserer glanzvollen traditionsreichen Stadt umfaßt, die Viertel Borgo Vecchio und Borgo Nuovo, die sich gleich erschreckten Tauben zu Füßen der vatikanischen Burg des Heiligen Vaters geschart haben. Es muß gesagt werden, daß die Bevölkerung dieser Viertel sich kaum alle Schattierungen unserer edlen Kultur in gleich hohem Grade angeeignet hat. Vielmehr setzen sie ihre Ehre darein, Untertan dessen zu sein, im Schatten von dessen Burg ihre Hütten Schutz gesucht haben. Und um es zu vermeiden, mit dem Index der verbotenen Bücher in Konflikt zu kommen, den Seine Heiligkeit jedes Jahr in erweiterter Form aussendet, haben sie beschlossen, sich ganz und gar aller Lektüre zu enthalten. Sie erkennen lächelnd die Buchstaben unseres Alphabets, das ist ihnen genug.
Um die Stimmen dieser Bevölkerung warben, brennend vor Eifer, für ihre Interessen zu kämpfen, der Marquis di Bracciano, Signor Eugenio Graziani, Signor Pisistrato Taramelli und Signor Giovanni Battistini. Schon lange vor dem Wahltag war niemand im Zweifel, wer in dem edlen Kampf um das Vertrauen des Volkes obsiegen werde. Ein Name war auf aller Lippen: der so glänzende Name des Marquis di Bracciano. Die Ueberzeugung von seinem Siege spiegelte sich bei den Totalisatoren wieder, die eingerichtet wurden, um der Allgemeinheit gesteigerte Gelegenheit zu geben, ihren politischen Scharfblick zu dokumentieren. Von fünfzig Personen, die ihren Obolus in diesen, wenn wir sie so zu nennen wagen, ökonomischen Wahlurnen niederlegten, taten es vierzig, indem sie als eine Zauberformel Marquis di Braccianos Namen aussprachen, sechs, indem sie sagten: Eugenio Graziani, drei, indem sie murmelten: Pisistrato Taramelli. Nur ein Bürger von fünfzig flüsterte, indem er seinen ökonomischen Einsatz machte: ich glaube an Giovanni Battistinis Sieg.
Dies war die Situation noch am Tage vor dem Wahltag. In der Nacht vor diesem ließ ein heftiges Gewitter seine majestätische Stimme über unserer Stadt ertönen. Der Wahltag kam, die Wählerscharen strömten zu den Urnen, am Abend lag das Resultat vor. Der Marquis di Bracciano hatte verloren, Giovanni Battistini war gewählt.
Man fragte sich sofort: war es das Gewitter, das diesen Ausschlag gegeben hatte? Diese lächelnden Kinder unserer Stadt, die, von ihrer Furcht verleitet, in Konflikt mit dem Index zu kommen, die Ansichten der Wissenschaft über den Blitz nicht in den Zeitungen verfolgen, hatten sie das Gewitter für eine Warnung von der Höhe gehalten, einen göttlichen Protest gegen ihre Absicht, für den Marquis di Bracciano zu stimmen?
Dies fragte man sich. Die Antwort war: nein, so einfach war die Sache nicht.
In der Nacht zum Wahltag ereignete sich etwas Seltsames, etwas, das kaum ein Gegenstück in den Annalen aller Wahlkämpfe haben dürfte, etwas, das unsere lächelnden Stadtkinder, weit davon entfernt, sich von dem Gewitter erschrecken zu lassen, tatsächlich für ein Wahrzeichen hielten, und das von anderen in anderer Weise aufgefaßt werden dürfte. Als das Gewitter vorüber war, fanden alle Einwohner von Borgo Vecchio und Borgo Nuovo auf ihren Treppen, vor ihren Türschwellen, auf ihren Fußböden, ein Gewühl von Heiligenbildern. Diese Heiligenbilder, schön gedruckt, stellten eine Jungfrau mit einem Heiligenschein um die Stirn dar. Aus ihren gefalteten Händen entrollte sich eine Papierschlinge. Auf dieser Schlinge waren mit auch für unsere lächelnden Stadtkinder faßbaren Lettern die Worte zu lesen: Eine Stimme für Giovanni Battistini ist eine Stimme für mich.
Dies begab sich in der Nacht vor dem Wahltag im dritten Wahlkreis. Was sich am Wahltage ereignete, haben wir berichtet, insofern, als wir sagten, daß der Marquis di Bracciano unterlag und Giovanni Battistini gewählt wurde. Was sich außerdem begab, war, daß jener fünfzigste Bürger, der Bürger, der seinen ökonomischen Einsatz machte, indem er flüsterte: ich glaube an Battistinis Sieg – daß dieser Bürger für jede Lira, die er gesetzt hatte, fünfzig behob.
Signor Battistini ist durch den Beistand des Himmels gewählt. Signor Battistini hat das Wort!«
*
In dem Antiquitätengeschäft auf dem Spanischen Platz sah sich ein rothaariger Engländer alte Meister an. Unterdessen sprach er mit dem Inhaber des Geschäfts, dessen feistes Gesicht von Gemütsbewegung verzerrt war.
»Die hier haben ihn nicht verlockt?«
» E-h porcodio, nein!«
»Und die Kasse auch nicht?«
» E-h, porcamadonna, nein!«
»Und etwas anderes auch nicht?«
» E-h arrosta! Ja, und jetzt schmeiß ich ihn hinaus!«
»Hinaus! Was hat er denn getan?«
»Was er getan hat? – – Da kommt er! Treten Sie in das Kontor, Signor, und spitzen Sie gut die Ohren, dann werden Sie schon hören, was er getan hat!«
Der Engländer, der blaue Augengläser hatte, verschwand in Cesare Pallanzas Kontor. Fast im selben Augenblick öffnete sich die Türe auf die Straße, und Lavertisse kam herein. Sein Gesicht war düster wie eine Gewitterwolke.
Cesare Pallanza wartete nicht einmal ab, bis er die Türe geschlossen hatte, sondern brach los:
»Sie da! Kerl! Infamer Kerl!«
Lavertisse bohrte zwei schwarze Augen in seinen Chef.
»Was wollen Sie? Sprechen Sie höflich!«
»Mit Ihnen? Nie! Was haben Sie getan? Sie haben sich Zutritt in meine Schnitzerei verschafft.«
»Wo Sie Ihre Heiligen machen, ja.«
»Aus meiner Schnitzerei haben Sie einen Bildstock mit dem Bilde der heiligen Cäcilie genommen.«
»War das die heilige Cäcilie? Schon möglich!«
»Dieses Bild haben Sie geschändet. Sie haben die religiöse Inschrift entfernt, die sie zwischen ihren gefalteten Händen hielt. Anstatt dessen haben Sie eine Inschrift von nicht religiöser Art angebracht. Battistini, wer ist Battistini? Haben Sie von dem Bild in dieser Gestalt Abdrücke genommen?«
»Ja, ungefähr zweitausend.«
»Zweitausend?«
»Ungefähr zweitausend.«
»Wieso! Wie können Sie sich unterstehen, ein Bild aus meiner Schnitzerei? Was meinen Sie eigentlich?«
»Das ist leicht zu erklären. Ich werde es erklären, wenn Sie höflich auftreten. Der Marquis di Bracciano hatte im dritten Wahlkreis alle Chancen, Battistini keine. Ich kenne den Marquis. Ich hielt es für ein öffentliches Unglück, wenn er gewählt würde.«
»Deshalb – Ah, ich verstehe! Madonna santissima! Ich verstehe! Madre di Dio! Wenn man das entdeckt, haben Sie mich ruiniert. Sie kommen ins Gefängnis!« Cesare Pallanza brach plötzlich in seinem rasenden Wutanfall ab, starrte Lavertisse an, kniff ein Auge ein, machte eine Pause und flüsterte:
»Ah, ich verstehe! Der Totalisator! Sie haben es nicht nur getan, damit Battistini gewählt würde. Sie hatten nebenbei Ihre kleine Berechnung. Was habe ich gehört? Neunundvierzig gegen eins auf den Marquis? Dann war es wohl ebensoviel gegen Battistini? Wieviel haben Sie gesetzt? Zeigen Sie den Gewinn her, lassen Sie uns wie Brüder teilen, und ich werde versuchen, Ihnen zu verzeihen!«
Nun war Lavertisse an der Reihe, die Luft mit französischen, anstatt italienischen Flüchen zu erfüllen.
»Den Gewinn? Sie kennen die politischen Buchmacher nicht! Meinen ganz mageren Lohn, zweihundert Lire, hatte ich auf Battistini gesetzt, bei einem Buchmacher an der Piazza di Licina. – Ja, das hatte ich! Ich hätte zehntausend Lire gewinnen sollen. Nicht viel, aber genug, um nicht mehr abhängig von Ihnen zu sein – genug, um eine Zeitlang ehrlich von meinem eigenen Gelde zu leben! Und heute, als ich hinkomme, ist das Kontor gesperrt. Der Mann hat selber gespielt, auf den Marquis gesetzt und alles verloren. Er ist weg, mein Gewinn ist weg, meine zweihundert Lire sind weg – Ah, warum ließ ich mich in dieses Land locken? Man wird von oben bestohlen, man wird von unten bestohlen, man versucht, ehrlich von einem Hungerlohn bei einem Schwindler zu leben, der Luca Signorellis und del Sartos dutzendweise verkauft und – –«
»Das werden Sie nicht mehr nötig haben!« brüllte Cesare Pallanza. »Marsch hinaus! Und seien Sie froh, wenn ich Sie nicht anzeige!«
»Mich anzeigen? Was habe ich denn getan? Ich mache meine Heiligenbilder selbst und verteile sie gratis. Sie lassen sich Ihre von anderen malen und verkaufen sie teuer. Leben Sie wohl!«
Lavertisse verschwand, von seinem wütenden Chef zur Türe und noch weiter geleitet. Als dieser zurückkam, fand er den englischen Touristen in Grübeleien vor einem alten Meister versunken.
»Was sagt er, Sie hätten solche hier dutzendweise?«
»Geschwätz! Geschwätz!« rief Cesare Pallanza erbittert. »Wie können Sie dem, was ein solcher Kerl sagt, die geringste Bedeutung beimessen!«
»Und jetzt ist er ohne Stelle!« sagte der Engländer. »Nun, es ist vielleicht besser so!«
Auch er verschwand und ließ Cesare Pallanza mit den Nachwehen seines Grolls allein.
Am selben Abend gegen halb zehn Uhr stieß ein erregter, schwarzbeschnurrbarteter Herr an der Ecke des Corso und der Piazza Venezia mit einem beleibten Herrn von englischem Aussehen buchstäblich zusammen. Einen Augenblick sah er den Engländer wütend an, dann ging ein Leuchten über sein Gesicht. Mit einer Stimme, als traute er seinen Augen nicht, sagte er:
»Graham! sind Sie es? Wo ist der Professor?«