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VII.
Literarischer Nahkampf

In der Rosticceria al Povero Diavolo, in der Straße der Demut, rief der Kellner Romeo:

»Die zwei französischen Herren sind aber schon lange nicht dagewesen!«

Der Kellner Aristides rief:

»Gestern war der rote französische Herr da!«

Der Pikkolo Herkules rief:

»Aber der kleine, magere französische Herr ist schon seit mehreren Tagen nicht mehr dagewesen!«

Der Schankwirt Cesare Pedrotti, der hinter dem Schanktisch Modell zu seinem künftigen Grabmonument auf dem Friedhof von Genua stand, rief:

»Der eine ist hier gewesen, aber der andere nicht! Sie sind böse miteinander! Wenn sie sich treffen, werden sie mit Messern aufeinander losgehen!«

In diesem Augenblick kam der Schriftsteller Maurice Lebrun in die Rosticceria. Das Haar hing ihm in die Augen, durch den Zwicker, der auf dem Rücken seiner violetten Nase wippte, warf er wütende Blicke um sich. Die schienen nicht zu finden, was sie suchten. Er setzte sich an einen Tisch. Der Kellner Aristides legte ihm die Speisekarte vor, der Kellner Romeo erkundigte sich, welchen Wein er wünschte, und der Pikkolo Herkules eilte zu den Weinfässern, bereit, sie durch Saugen zu erschließen.

Der Schriftsteller Maurice Lebrun bestellte Essen und Wein und dachte nach. –

Diesen Morgen hatte er wieder einen Bries von der Person bekommen, die behauptete, der Verfasser der Erzählungen in der Revue Lévy zu sein. Wenn es einen Menschen auf Erden gab, den Lebrun haßte, so war es dieser Mann. Jede Woche bekam er nunmehr von der Revue Lévy ein Honorar von siebentausendfünfhundert Lire. Er war beinahe imstande, sein altes Leben in Paris aufzunehmen, er wäre, mit anderen Worten, glücklich gewesen, wenn nicht dieser verdammte Mensch gewesen wäre, der behauptete, daß er die Erzählungen schrieb. Denn jede Woche schrieb er, regelmäßig wie ein Uhrwerk, und suchte Geld zu erpressen. Letzte Woche hatte er seinen Erpressungsversuch sogar noch unterstrichen. Ein Artikel in der Revue du Globe, eine gemeine Verleumdung von Maurice Lebruns schriftstellerischer Tätigkeit sollte, wie er behauptete, in direktem Zusammenhang damit stehen, daß er das Geld nicht bekommen hatte. Dieser Artikel war François Brüggemeyer signiert. Der erste Gedanke, der Lebrun durchblitzt hatte, war: Brüggemeyer ist derjenige, der die Erzählungen geschrieben hat! Er hat mich gesehen, hat meine Unfähigkeit zu schreiben geahnt und die Erzählungen eingeschickt! Nun sucht er Geld zu erpressen, indem er sie kritisiert!

Dann war er wieder unsicher geworden. Es kam ihm unwahrscheinlich vor, daß Brüggemeyer Erzählungen schreiben konnte. Er hatte in seinem ganzen Leben nichts anderes geschrieben, als ausgeklügelte, misanthropische Kritiken. Wer die Erzählungen geschrieben hatte, blieb bis auf weiteres unentschieden. Aber eine Sache war sicher: Brüggemeyer hatte sie kritisiert. Und aus diesem Anlaß suchte er Brüggemeyer schon seit mehreren Tagen, ohne ihn zu finden. Er hatte mit Brüggemeyer ein paar Wörtchen zu sprechen.

Die Sache war die, daß seine Gefühle für die Erzählungen in der Revue Lévy (nicht für den Verfasser derselben) eine gewisse Entwicklung durchgemacht hatten.

Sein Entschluß, sie öffentlich zu verleugnen, war in dem Augenblick unmöglich geworden, in dem er das erste Honorar behob, und damals bedauerte er es, denn er fand die Erzählungen total unmöglich. Als er das zweite Honorar behob, konnte er nicht umhin, sich selbst zu sagen: das ist eine angenehme Art, Einkünfte zu haben. Er konnte sich nicht helfen, er fühlte eine gewisse Nachsicht für diese Novellen, die ihm Woche für Woche Einkünfte brachten. Als er das dritte Honorar behob, war dieses Gefühl zu einem unleugbaren Interesse für die Erzählungen übergegangen. Er fühlte, daß zwischen ihm und ihnen ein Band existierte. Er sah sie mit einer herablassenden Nachsicht an, wie ein strenger Vater Kinder ansieht, die ihm außerhalb der Ehe geboren sind. Sie waren nicht so schön, als wenn er sich die Mühe gemacht hätte, sie zu schreiben, aber ganz unmöglich waren sie nicht. Und daß ein Mensch wie Brüggemeyer es wagen sollte –

In diesem Augenblick kam der Kritiker Brüggemeyer zum Povero Diavolo herein: Sein Voltairelächeln war nicht so prononciert, wie gewöhnlich. Am selben Morgen hatte er einen neuen Brief von dem bekommen, der behauptete, seine kritischen Artikel in der Revue du Globe geschrieben zu haben. Dieser Brief hatte seine Kreise brutal gestört. Sein erster Gedanke, als er den Artikel vor ein paar Tagen gelesen hatte, war gewesen, an die Redaktion der Revue zu telegraphieren. Der Artikel war unmöglich. Allerdings hatte er selbst dasselbe gepredigt, was darin gesagt wurde: daß die Literatur meistenteils gleichgültig und lächerlich ist, aber es war eine Sache, es selbst zu sagen, und eine andere Sache, es andere sagen zu hören. Wenn die Literatur von einem anderen angegriffen wurde, merkte er erst, wie teuer sie ihm war. Er war wie ein Mann, der über den Wert des Lebens gescherzt hat und sich plötzlich in Lebensgefahr sieht. Dann war ihm ein Gedanke gekommen: Er brauchte Geld. Was hinderte ihn, das Honorar zu beheben, das in der Bank lag? Er war es gewöhnt, mit Meinungen zu jonglieren. Nachdem er das Honorar behoben hatte, konnte er sich hinsetzen und einen Artikel schreiben, in dem er alles zurücknahm, was der erste Artikel gesagt hatte. Das wäre die richtige Antwort für den Schwindler, der ihn geschrieben hatte. Das hieße mit der gleichen Münze antworten, – einer anderen Münzsorte, als der Schwindler zu sehen erwartet hatte! Und er brauchte ja kaum die einfachste Idee, um einen solchen zweiten Artikel zu schreiben. Er behob das Honorar. Und nun, heute hatte er einen neuen Brief von dem Schwindler bekommen, in dem dieser noch einmal seine fünfzig Prozent vom Honorar forderte und drohte, sonst binnen drei Tagen einen neuen Artikel einzuschicken. Drei Tage! In drei Tagen war es Brüggemeyer unmöglich, einen Artikel zu schreiben. Und nun war es zu spät, an die Redaktion zu telegraphieren. So ein raffinierter Schurke! Man könnte rein glauben, er wäre allwissend! Nicht genug damit, daß er Brüggemeyers Unfähigkeit zu schreiben erraten hatte, er schien zu wissen, was in seiner Seele vorging. Wer konnte das sein?

In diesem Augenblicke sah Brüggemeyer eine Gestalt emporwachsen und ihn überschatten. Ein Zwicker wippte auf einer violetten Nase, zwei wütende schwarze Augen fixierten ihn. Maurice Lebrun! Er hatte sich doch vorgenommen, Lebrun auszuweichen! Was seine Meinung über den Artikel war, war nicht schwer zu erraten. Und nun war er in Gedanken zum Povero Diavolo gewandert, gerade in die Höhle des Löwen!

»Mein Herr!« sagte Lebrun heiser.

Brüggemeyer verbreitete eiligst das Voltairelächeln über seine Züge.

»Mein Herr?«

»Es ist lange her, seit wir uns zuletzt gesprochen haben.«

»Allerdings.«

»Aber ich habe seither Ihr Tun und Lassen verfolgt.«

»So wie ich Ihres.«

»Es hat mir nicht mehr zugesagt.«

»Ich kann das Gleiche sagen.«

»Nicht zum mindesten in letzter Zeit schien es mir gegen ein bestimmtes Ziel gerichtet – gegen mich.«

»Erklären Sie sich!«

»Ich verlasse Paris, Sie verlassen auch Paris.«

»Weil ich Luftveränderung brauche.«

»Ich reise nach Rom. Kaum bin ich hier angekommen, als Sie in Rom auftauchen.«

»Weil ich glaube, in Rom arbeiten zu können.«

»Ha, ha! Ich kenne die Art Ihrer Arbeit. In Rom finde ich dieses Lokal, wo ich esse – sofort beginnen Sie, dasselbe Lokal zu besuchen.«

»Weil ich die Speisen und den Wein vortrefflich finde.«

»Ha, ha! Weil Sie mein Dasein vergiften wollen!«

»Es dürfte Ihnen schwer fallen, das zu beweisen.«

»Nein! Aber da Sie nicht darauf rechnen können, mein Dasein auf diese Weise genügend zu vergiften, beginnen Sie eine Kampagne gegen mich. In der letzten Nummer der Revue du Globe haben Sie einen Artikel –«

»Ja, und?«

»Mein Herr! Ein Artikel mit Ihrem Namen signiert, steht in dieser Nummer. Wollen Sie das leugnen?«

Brüggemeyer durchfuhr ein leises Zucken. Ein Artikel mit Ihrem Namen signiert … Wußte Lebrun etwas?

»Ein Artikel mit meinem Namen signiert, steht in dieser Nummer,« sagte er, »und es ist unleugbar richtig, daß man seine Artikel selbst verfaßt. Nun wohl?«

Diesmal zuckte Lebrun zusammen. Es ist die Regel, daß man seine Artikel selbst verfaßt … Wußte Brüggemeyer etwas?

»Was ich sagen will«, rief er, »ist, daß ein Schriftsteller, der einen Artikel signiert, auch für die Ansichten einsteht, die er enthält. Drücke ich mich endlich deutlich genug aus?« Er machte einen Schritt näher an Brüggemeyer heran. Der Schankwirt Pedrotti, die Kellner Aristides und Romeo und der Pikkolo Herkules riefen:

»Jetzt fangen sie zu streiten an!«

Brüggemeyer fragte:

»Ich habe also Ansichten, über die Sie mich zur Rechenschaft ziehen wollen?«

»Sie sagen in Ihrem Artikel,« rief Lebrun, »daß Herr L. schlechte mystische Schauspiele schreibt!«

»Trifft das nicht zu?«

»Das hat nichts mit der Sache zu tun. Sie sagen, daß Herr I. puerile Waldabenteuer schreibt!«

»Ist das nicht der Fall?«

»Das hat nichts mit der Sache zu tun. Sie sagen, daß Herrn N.s philosophische Zukunftsphantasien lächerlich sind!«

»Sind sie das nicht?«

»Das hat nichts mit der Sache zu tun. Nachdem Sie das gesagt haben, schleudern Sie einen Satz hinaus, den Sie vermutlich vernichtend finden: Warum nicht ebensogut Maurice Lebrun? Sie stellen mich mit diesen Personen, die Sie lächerlich machen, auf eine Stufe – nein, Sie stellen mich unter sie! Mein Herr! Den Wert meiner Schriftstellerei zu beurteilen, überlasse ich der Nachwelt, und auf jeden Fall setze ich mich über einen Artikel von Ihnen hinweg, dessen Urteil ich teils verachte, teils bestreite. Aber – –«

Lebrun machte noch einen Schritt näher. Der Schankwirt Pedrotti, die Kellner Aristides und Romeo und der Pikkolo Herkules riefen: »Jetzt fangen sie an zu raufen!«

»Aber die von Natur aus ungünstige Auffassung, die ich von Ihnen habe, ist noch durch etwas verschärft worden, was sich jetzt ereignet hat. Mein Herr, ich habe Anlaß zu vermuten, daß, was Sie in Ihrem Artikel schreiben, nicht einmal Ihre Auffassung ist.«

Brüggemeyer machte das Voltairelächeln so intensiv als möglich.

»Welchen Anlaß haben Sie denn zu einer so eigentümlichen Vermutung?«

Lebrun rief:

»Ich habe Anlaß zu glauben, daß Sie nichts anderes sind als ein Werkzeug.«

»Ein Werkzeug?«

»Ein gedungenes Werkzeug!«

»Ein gedungenes Werkzeug?«

»Ein gedungenes Werkzeug eines gemeinen Schurken! Wünschen Sie das Wort zu hören, eines Erpressers!«

Brüggemeyer zuckte wieder zusammen. Eines Erpressers! … Ein eigentümliches Wort. Und was war das für ein Brief, den er gerade heute morgen bekommen hatte?

»Eines Erpressers!« murmelte er. »Das ist eine Menschenklasse, mit der ich wenigstens bis jetzt nicht in nähere Berührung gekommen bin. Darf ich fragen: Welchen Anlaß haben Sie zu einer so seltsamen Vermutung, wie, daß ich François Brüggemeyer das Werkzeug eines Erpressers sein sollte? Was sollte das für eine Erpressung sein? Sollte sie sich gegen Sie richten?«

»Ja,« rief Lebrun. »Es dürfte Ihnen bekannt sein, daß die Revue Lévy gerade jetzt eine Serie Erzählungen von mir bringt.«

»Die Revue Lévy bringt Erzählungen unter Ihrem Namen,« wiederholte Brüggemeyer. »Nun?«

Lebrun zuckte zum zweiten Male zusammen. Wußte Brüggemeyer etwas? Er kam seinem Gegner noch einen Schritt näher und hob den Arm. Der Schankwirt Pedrotti, die Kellner Aristides und Romeo und der Pikkolo Herkules riefen:

»Jetzt gehen sie mit Messern aufeinander los!«

»Es geht aus Ihrem Artikel hervor,« rief er, »daß Sie diese Erzählungen kennen! Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß diese Erzählungen nicht gerade – daß ich eigentlich nicht – daß gewisse Umstände – mit einem Worte, daß diese Erzählungen –«

Er brach ab und starrte Brüggemeyer mit blutunterlaufenen Augen an.

Brüggemeyer fragte, unberührt von der erhobenen Hand:

»Mit einem Wort, daß diese Erzählungen –?«

Lebrun rief wütend:

»Das ist Wurst! Das geht Sie nichts an! Das ist meine Privatsache! Aber ich habe Anlaß zu glauben, daß Ihr Angriff im Zusammenhang mit diesen Erzählungen erschienen ist, veranlaßt durch diese Erzählungen, daß Sie nichts anderes sind, als das Werkzeug eines gemeinen Schurken, daß Sie ein Interesse daran haben, daß er – daß ein Erpresser – mit einem Worte, sacré bleu –«

Brüggemeyer betrachtete seinen Gegner mit dem allerkühlsten Lächeln und sagte eisig:

»Sie riechen nach Schmalz!«

Lebrun schnellte gerade in die Höhe, wie ein auffallender Ball. Seine gehobene Hand fiel.

» Ah, sacré bleu, ah, sacré bleu du ciel! Ich rieche nach Schmalz! Das ist Ihre Antwort! Sehen Sie her! Da haben Sie!«

Aber bevor noch seine violette Hand das Voltairelächeln des Kritikers Brüggemeyer erreichte, hatten ihn die Kellner Romeo und Aristides und Pikkolo Herkules von rückwärts umarmt. Brüggemeyer schritt langsam zur Türe hinaus, indem er nochmals eines der zwei vulgären Worte ausstieß, die er gebrauchte:

»Kamel! Sie riechen nach Schmalz!«

Als der vor Zorn wahnsinnige Lebrun loskam, war Brüggemeyer verschwunden. In den kommenden Tagen suchte ihn Lebrun, wie man eine Stecknadel sucht, aber vergebens!

Zu Ende der Woche bekam er einen Brief von dem Manne, dessen Werkzeug Brüggemeyer offenbar war. Er lautete:

Mein Herr!

Noch habe ich nicht den geringsten Bruchteil meines Honoraranteils von der Revue Lévy erhalten. Sie haben offenbar die Absicht, meine Geduld auf die äußerste Probe zu stellen.

Es gibt eine Fabel, die Ihnen bekannt sein dürfte, von den Sibyllinischen Büchern, die jedesmal, wenn man sie dem widerwilligen Käufer anbot, teurer wurden.

Diese Fabel ist nach Rom verlegt. Wir befinden uns in Rom. Ich bitte Sie, die Konsequenzen zu ziehen. Ihre Verblendung hindert mich nicht, unsere Serie fortzusetzen.

Sollten Ihnen die Augen aufgehen, ist meine Adresse nach wie vor:

F. C.
Redaktion der Zeitung Tempo.

Die Revue Lévy, die am selben Tage erschien, enthielt eine neue Erzählung von Maurice Lebrun mit dem Titel: »Eine Spekulation innerhalb der Grenzen der Ehrlichkeit«.


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