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XIV. Kapitel.

Die Tortur im neunzehnten Jahrhundert. – Galizien. – Vereinigte Staaten. – Orient. – Russland. – Russische Gefängnisse. – Politische Verbrecher in Russland. – Russisches Strafgesetz. – Gefängnis für Politische in Russland. – Kriminaluntersuchung im Deutschen Reich. – Untersuchungshaft. –

Aus verschiedenen bereits angeführten Fällen ist zu ersehen, dass die Tortur auch in der jüngsten Zeit zur Anwendung gelangte, und, wie wir hinzufügen können, noch gelangt, Beispiele, die nur zu deutlich bekunden, dass in dieser Grausamkeit eine gewisse Ursprünglichkeit liegt, und deren Ausübung nicht erst später willkürlich in unser Kulturleben hineingetragen wurde. Es lag und liegt leider noch nur zu nahe, dass Gewalthaber – das Wort in seiner einfachen Bedeutung gebraucht – einen harten Zwang mit peinigenden Mitteln ausführten und ausführen, um eine ihnen genehme Aussage zu erzielen. Wollten wir alles als Tortur betrachten, was in dieser Beziehung im übertragenen Sinne noch erfolgt, so liesse sich eine lange Reihe von Foltermitteln und -Methoden anführen, die vielleicht oft noch viel empfindlicher sein mögen, als die einer vergangenen, uns als barbarisch geltenden Zeit.

Allerdings lässt sich anführen, dass die peinliche Frage nunmehr aus unseren Rechtsbüchern verschwunden ist, doch nur aus den Rechtsbüchern; in der Praxis kommt sie selbst im Gerichtsverfahren europäischer Völker nur zu häufig vor, und die Klagen, die darüber laut werden, mögen nur ein schwaches Echo dessen sein, was tatsächlich geschieht. Mancher Wehlaut mag hinter dicken Kerkermauern verhallen, und selbst wenn die Kunde solcher Misshandlungen in die Öffentlichkeit dringt, wird es oft nicht geglaubt und noch öfter nicht beachtet. Besonders bei politischen Verbrechen, Verschwörungen gegen die bestehende Staatsgewalt scheint die peinliche Frage selbst in Ländern mit europäischer Kultur vorzukommen. Ferner kommt es auch vor, dass übereifrige Polizeibeamte bei der ersten Untersuchung eines Straffalles zu diesen Mitteln greifen. In Österreich scheint besonders in Galizien diese Praxis in Übung zu sein. Im Jahre 1901 wurde ein Prozess gegen einige Polizeibeamte dieses Kronlandes verhandelt, wobei die Anwendung einer regelrechten Tortur ans Tageslicht kam. Im nachfolgenden Jahre wussten die Zeitungen wieder von ähnlichem zu berichten. Eine Notiz lautet:

» Die Tortur auf einer österreichischen Polizeiwache. In Stanislau bei Lemberg wurden zwei Polizisten zu vier bezw. sechs Wochen Arrest verurteilt, weil sie mehrere Personen, die in Haft gebracht wurden, in geradezu unmenschlicher Weise behandelt hatten. Sie wendeten die Prozedur des sogenannten »Anbindens« an, indem sie ihren Opfern die Hände rücklings zusammenbanden und die Bedauernswerten in dieser Position an Haken oder an der Thürklinke aufhingen, so dass sie den Boden kaum mit den Fussspitzen berührten. Die Gemarterten schrieen fürchterlich, wurden in kurzer Zeit schwarz im Gesicht und brachen nach Abnahme vom Haken bewusstlos zusammen. Die beiden Angeklagten suchten sich damit zu verteidigen, dass sie dieses Verfahren beim Militär als Strafe in Anwendung gesehen und deshalb für erlaubt gehalten hätten. Der Staatsanwalt meldete gegen das milde Strafmass Berufung an.«

Über ähnliche Vorkommnisse aus Ungarn wurde gleichfalls manches laut. Seltsam berührt der oben erwähnte Rechtfertigungsversuch mit dem Hinweis auf das beim Militär übliche Strafverfahren, eine Bezichtigung, die wohl nicht unwahrscheinlich genannt werden kann, denn es wurden zuweilen auch sonst Stimmen laut, die über dergleichen Marterungen im Militärdienst klagten. Dieser Zustand mag sich wohl aus den eigenartigen Verhältnissen in den verschiedenen Armeen erklären, wenn auch nicht begründen lassen Verhältnisse, mit denen wir uns hier nicht weiter zu beschäftigen brauchen. Übrigens sind diese Vorkommnisse nicht örtlich beschränkt, sondern fast überall zu finden und besonders häufige Klagen über martervolle Behandlung wurden aus den Reihen der in Afrika und Asien dienenden französischen Fremdenlegion laut. Unter solchen Umständen ist es nicht sehr verwunderlich, dass zuweilen die Militärmacht gegenüber den besiegten, oder als Gefangene in ihre Hände gekommenen Feind mit harter, unnötiger Strenge vorgehen und zur Erpressung von Geständnissen die Tortur anwenden. Im Frühling des Jahres 1902 wurde in den Vereinigten Staaten von Nordamerika ein Prozess wider einige Offiziere verhandelt, die sich auf den Philippinen Grausamkeiten gegen die Bewohner zu schulden kommen liessen und gegen die auch die Anklage erhoben worden war, die Tortur angewandt zu haben. Das einzig Tröstliche bei all diesen beklagenswerten Erscheinungen ist, dass sie sich als Handlungen, oder als Missbräuche einzelner erweisen, und das die Staatsmacht in der Regel bemüht ist, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen.

Dass in der Türkei heute noch, besonders bei sogenannten politischen Verbrechen, die Tortur mit aller Strenge gehandhabt wird, kann als gewiss angenommen werden, so wenig auch von dort her aus den dicken Kerkermauern hervor in die Öffentlichkeit dringt. Derlei Praktiken gehören einmal zu den unerlässlichen Hilfsmitteln der Regierungen des Ostens, und wir sehen sie, wie bereits schon früher bemerkt wurde, auch in Persien, China etc. zur Anwendung gelangen, oft mit allen Raffinement der Grausamkeit. Aber auch in andern europäischen Staaten, besonders in den früher zu dem türkischen Reich gehörigen, finden wir die Tortur angewandt, mögen auch die nach westeuropäischen Mustern verfassten Gesetzbücher nichts davon zu sagen wissen. Unter der Regierung Milans soll in Serbien nicht selten ein Gefangener, oder auch eine Gefangene, »peinlich befragt« worden sein und mancher auch starb »plötzlich« im Kerker. Ob diese Zustände noch in der unmittelbaren Gegenwart in Serbien und wohl auch in den andern Balkanländern herrschen, entzieht sich unserer Kenntnis. Wir wollen hoffen, dass eine Wendung zur Besserung, zur Menschlichkeit eingetreten ist, so sehr auch zu befürchten ist, dass die Tradition machtvoll weiterwirkt.

Nicht sehr erfreulich klingt auch, was betreffs Anwendung der Tortur aus Russland zu melden ist, so sehr es auch zuweilen den Anschein hatte, als ob dieses Riesenreich nach einer gewissen Führung in humanitären Bestrebungen eiferte. Es sei nur an die Abschaffung kleinkalibriger Sprengstoffe und an das Schiedsgericht in Streitfällen zwischen Mächten erinnert. Freilich handelt es sich hierbei, soweit dergleichen Anträge überhaupt ernst zu nehmen sind, nicht um »politische Verbrecher«, gegen die ja überall, besonders aber in Russland, mit besonderer Strenge vorgegangen wird. Bestrebungen, Taten, sogar Worte, die gegen die vorhandenen Machthaber gerichtet werden, gelten als die ärgsten Verbrechen, mögen sie im Grunde genommen auch noch so berechtigt sein, noch so sehr von der Not der Zeit, den Drang der Verhältnisse herbeigeführt worden sein. Der im Mai 1902 hingerichtete Balmatschoff, der einige Wochen vorher den Minister Schipjägin aus politischen Gründen ermordet hatte, wurde, wie Zeitungsberichte zu melden wussten, im Gefängnis der Tortur unterzogen, um von ihm die Namen seiner vermuteten Mitverschworenen zu erfahren. Er blieb standhaft verschwiegen, auch dann noch, als ihm vor seiner Hinrichtung die Begnadigung gegen Preisgabe seiner Genossen angeboten wurde. Ähnliche Vorfälle liessen sich aus Russland noch zahlreich anführen. So wenig auch der politische Mord zu billigen oder zu entschuldigen ist, so sehr man sich auch hüten muss, eine derartige Verschwiegenheit als heroische Tat zu preisen: eine gewisse Achtung kann ihr doch nicht versagt werden, bei aller Missbilligung der Tat selbst.

Der bekannte amerikanische Publizist Georg Kennan, der seine so grosses Aufsehen erregenden Aufsätze über Sibirien veröffentlicht hatte, gab uns auch Schilderungen aus den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die unter dem Titel »Russische Gefängnisse« auch deutsch von David Haek erschienen sind, denen wir nachfolgende Stellen entnehmen: »In den Gefängnissen, die nur für politische Verbrecher bestimmt sind, ist zwar weniger Unordnung und Unehrlichkeit zu finden, als in den Provinzialgefängnissen niedrigeren Ranges; allein auch hier gelten Beamtenlaunen und Zeitverhältnisse viel mehr als die Bestimmungen des Gesetzes. Dieses darf wirklich nur in den seltensten Fällen im Widerspruch mit den Launen sein, die ein hochgestellter Beamter für die wichtigsten Staatsinteressen betrachtet. Wenn ein Staatsanwalt wie Strelnikoff, ein Gendarmeriechef wie Mezzentseff der Meinung ist, er könne aus einem politischen Verbrecher ein Geständniss herauspressen, das die Verhaftung seiner Mitschuldigen ermöglichen würde, wenn er ihn einer gewissen Behandlung unterzöge, so säumt er keinen Augenblick die vom Gesetz gezogene Grenze zu überschreiten. Um einen solchen Zweck zu erreichen, wird ein Beamter sich nicht die geringsten Skrupeln machen, nach Mitteln zu greifen, die im höchsten Grade niederträchtig und ehrlos sind, Mittel, die den Gefangenen erbittern müssen und die die Regierung schänden, welche sie zulässt.

Die Behandlung der politischen Gefangenen hängt auch nicht wenig von der Stimmung der Beamten ab, wie sie zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen vorhanden ist. Jeder Gewalttat der Verschworenen, die noch frei sind, folgt eine strengere und schärfere Behandlung ihrer gefangenen Genossen. So mag es kommen, dass heute die Beamten, erbittert über das Gelingen eines Anschlags, ihren Zorn, ob ihrer eigenen Unfähigkeit ihn vorher zu entdecken, an den Verschworenen auslassen, die in ihrer Gewalt sind, während sie morgen wieder besänftigt von der scheinbaren Untertänigkeit, oder befriedigt über die scheinbare Herstellung der guten Ordnung, die übermässige Strenge der Gefängnisdisziplin mildern. Die natürliche Folge dieser Unterdrückung der gesetzlichen Vorschriften durch Laune und Willkür der Beamten ist der völlige Umsturz jeder systematischen und zielbewussten Leitung der Gefängnisse. Die Behandlung der Gefangenen erfolgt nicht wie das Gesetz will, sondern wie es der Staatsanwalt oder der Gendarmeriechef für gut findet. Und überdies sind dann noch Verhältnisse massgebend, die eigentlich mit den Gefangenen selbst nicht das Geringste zu thun haben.

Ehe ich daran gehe das tägliche Leben des russischen Revolutionärs im Gefängniss zu schildern, will ich die Aufmerksamkeit des Lesers auf drei Umstände lenken, die mit dem Gefängnisleben in enger Verbindung stehen und einen wichtigen Einfluss auf die dadurch hervorgebrachte Stimmung ausüben. Diese Umstände, deren Erörterung der Rest dieses Aufsatzes gewidmet sei, sind: 1) der Brauch, aufs Geratewohl zu verhaften, um Schrecken einzuflössen und in der Hoffnung, zu Aufschlüssen über geheime revolutionäre Bewegungen zu kommen; 2) die Anwendung der Einkerkerung als eine Art Tortur, um den Gefangenen zu Geständnissen oder zum Verrat seiner Freunde zu nötigen; 3) das monatelange, ja sogar jahrelange ungesetzliche Zurückhalten politischer Verdächtiger in Einzelhaft, indess die Polizei im ganzen Reich nach Belastungsmitteln, die eine förmliche Anklage zulassen, herumschnüffelt. Diese »Kunstgriffe« werden in Russland sehr häufig angewendet und nichts mag mehr dazu beigetragen haben die halberstickte Glut der Unzufriedenheit zur Loderflamme des Terrorismus anzufachen.

Wenn ich von Verhaftungen »aufs Geratewohl« sprach, so wollte ich damit selbstverständlich nicht sagen, dass die russische Polizei wie ein brüllender Löwe durch die Strassen schreitet und jeden erfasst, der ihr in den Weg gerät. Die Verhaftungen Politischer, so umfangreich und unwillkürlich sie auch erfolgen, beschränken sich stets nur auf eine Klasse der Bevölkerung, auf jene Leute, die von amtswegen als »neblago-nadezhni« gelten, eine Bezeichnung, die sich nur durch Umschreibung wiedergeben lässt. Blago bedeutet im Russischen gut, nadezhna Hoffnung, nadezhnost hoffnungsvoll und ne die Verneinung. Ne-blago-nadezhnost bedeutet daher: nichts Gutes zu erhoffen, was wir kurz mit »politisch unzuverlässig« bezeichnen wollen. Diese Bezeichnung wird von der russischen Regierung auf alle Personen angewendet, deren politische Anschauungen ihr nicht passen, deren Tun und Lassen daher als ein der Polizeiaufsicht würdiger Gegenstand erscheint. Selbstverständlich sind keine statistischen Angaben über die Klasse der »Unzuverlässigen« zu haben; doch ich weiss, dass im Jahre 1880 die Zahl jener, die öffentlich unter Polizeiaufsicht standen nach amtlichen Berichten 2837 betrug, und dass sie über das ganze Reich verbreitet waren, so in: St. Petersburg 273, Moskau 101, Kaluga 315, Riazan 255, Twer 198, Kostroma 165, Archangel 96, in den übrigen Provinzen 1434, zusammen 2837.

Die unter Polizeiaufsicht stehenden Leute bilden jedoch nur einen verhältnismässig kleinen Teil der grossen Klasse Unzuverlässiger. Es sind dies meistens solche, die aus ihrer Heimat zwangsweise nach anderen Orten versetzt wurden, um ihre dortigen Verbindungen abzubrechen und die in gewissen Zeiträumen von der Polizei in ihren Wohnungen kontrolliert werden. Tausende anderer, die nicht versetzt wurden, stehen unter geheimer Polizeiaufsicht und wieder tausende sind in den Registern der Gendarmerie und Geheimpolizei als verdächtig eingetragen. So oft die Extremsten der revolutionären Partei einen Anschlag ausführten oder nur versuchten, fasst die Polizei alle »Unzuverlässigen«, die in der betreffenden Stadt oder Provinz wohnen und sperrt sie ein, Schuldige und Unschuldige, ohne Unterschied, um sie nach Belieben sich auszuwählen.

Als General Strelnikoff zur Unterdrückung des Aufstandes in Südrussland, vom Zaren mit unbeschränkter Vollmacht versehen wurde, liess er binnen drei Tagen in Odessa allein nicht weniger als 118 Personen verhaften und einkerkern. Dann begab er sich nach Kiew, wo er 89 Personen fast gleichzeitig verhaften liess und befahl ferner die Gefangennahme vieler Hunderte in Charkow, Nikolajeff, Pultawa Kursk und andern südrussischen Städten. Die meisten dieser Verhaftungen erfolgten nicht einmal zufolge eines sogenannten »begründeten Verdachts«, sondern nur um Aufschluss über die Verschwörungen zu erhalten, die nach der Meinung der Polizei existierten, von ihr jedoch nicht entdeckt werden konnten. Viele der Verhafteten waren fast noch Kinder, Jungen und Mädchen im Alter von 15 bis 17 Jahren, die freilich nicht als gefährliche Verschwörer gelten konnten, die aber – und das hoffte man – so weit eingeschüchtert werden konnten, das sie alles gestehen würden, was sie von dem Tun und Treiben, von den Äusserungen ihrer Freunde und Verwandten wussten.

General Strelnikoffs Plan war, gleichzeitig zahlreiche Personen verhaften zu lassen, die für »unzuverlässig« galten, sie zehn bis vierzehn Tage in strenger Einzelhaft zu halten und sie dann einem Kreuzverhör zu unterziehen, in der Hoffnung aus ihnen ein Geständnis in Bruchstücken herauszupressen, hier ein Wort, dort ein Wort, die, zusammengefügt wie die Stückchen einer zerschnittenen Landkarte, den Plan des revolutionären Anschlags erkennen lassen. Wenn z. B. ein junges Mädchen einer »unzuverlässigen« Familie angehörte und man ein Brief von ihr auffing, der als »verdächtig« gelten mochte; wenn man sie spät abends aus einem verdächtigen Hause kommen sah, so wurde sie – dergleichen geschah gewöhnlich nachts – von der Polizeipatrouille verhaftet, in einem geschlossenen Wagen nach dem Gefängnis von Odessa gebracht, in eine Zelle für Einzelhaft gesteckt, der fürchterlichsten Seelenpein überlassen. Sie erhielt keine Aufklärung dieses summarischen Vorgehens und wenn sie die Schildwache draussen anrief, so erhielt sie nur die Antwort: »Prikazano ne goworit.« (Es ist nicht erlaubt zu sprechen.) Man kann sich den Eindruck den dieses plötzliche Versetzen aus der Ruhe, Bequemlickeit und Sicherheit der eigenen Schlafstube in die enge, finstere Zelle eines Gefängnisses für gemeine Verbrecher, auf ein junges, unerfahrenes, für alle Geschehnisse empfängliches Gemüt eines Mädchens hervorbringen muss, besonders wenn der Vorfall nachts sich ereignet, denken. Angenommen selbst, es sei ein Mädchen von Mut und Entschiedenheit, so müsste doch ihre Selbstbeherrschung unter der Aufregung weichen. Die Laute, welche die nächtliche Stille eines russischen Gefängnisses stören – der gemessene Schritt der Schildwache, der unterdrückte Schrei, das Kreischen eines betrunkenen Vagabundens, der an sein Bett gefesselt wird, hie und da das Zuwerfen einer schweren Türe, das Schluchzen und der Weinkrampf anderer jüngst Verhafteter, die sich in den Nachbarzellen befinden, das zeitweilige und plötzliche Erscheinen eines unbekannten menschlichen Gesichts an der kleinen viereckigen Luke der Zellentüre, wodurch die Gefangenen beobachtet werden – dies alles macht die erste Nacht, die das Mädchen im Gefängnis verleben muss zu einer Erinnerung fürs ganze Leben. Doch ist das nur der Beginn der Prüfung, die ihr Mut, ihre Entschiedenheit noch bestehen muss. Es vergeht ein Tag, zwei, drei, zehn sogar! und keine Nachricht wird ihr zu teil, auch nicht die geringste Andeutung über die Anklage, die gegen sie erhoben wird. Zweimal des Tags reicht ihr die schweigsame Schildwache durch die Türluke die Nahrung hinein und das ist die einzige Unterbrechung ihrer öden Einsamkeit. Sie hatte keine Bücher, kein Schreibmaterial, nichts was ihren Gedanken eine andere Richtung geben könnte, was die fürchterliche fast unerträgliche Aufregung mildert. Geplagt von Furcht und Ungewissheit über ihr Schicksal schreitet sie unruhig in der Zelle auf und nieder, bis sie erschöpft auf das schmale Bett der Zelle sinkt und im Schlaf Vergessen ihres Elends sucht, wenn ihr nicht der Gedanke an ihr und ihrer Lieben Schicksal auch den Trost des Schlummers raubt.

Endlich, es mögen zwei Wochen nach ihrer Verhaftung sein, wenn sich annehmen lässt, dass Einzelhaft und Kummer ihre Willenskraft gebrochen haben, wird sie zum »dopros« (ersten Verhör) geholt, das vor keinem Gerichtshof und ohne Zeugen stattfindet und vom General Strelnikoff selbst vorgenommen wird. Er bemerkt vor allem, dass sie auf Grund dieses oder jenes Paragraphen des Strafgesetzes schwerer Verbrechen angeklagt sei, und dass sie eine lange vieljährige Verbannung nach Sibirien zu erwarten habe. Indes, ihre Jugend, Unerfahrenheit berücksichtigend, und auch den Umstand, dass sie wahrscheinlich von verbrecherischen Freunden verführt worden sei, will er ihr versprechen, dass sie sofort in Freiheit gesetzt werde, wenn sie aufrichtige Reue und den Vorsatz zur Besserung bekunde, ein offenherziges Bekenntnis ablege und alle Fragen, die ihr vorgelegt werden, wahrheitsgetreu beantworte. Bliebe sie hingegen verstockt, so wäre sie der Nachsicht unwürdig und als Anwalt der Krone würde er es für seine Pflicht halten, die ganze Strenge des Gesetzes gegen sie anzuwenden.

Die Ärmste weiss, dass der Hinweis auf Sibirien keine leere Drohung bedeute. In ihrer »unzuverlässigen« Familie mag sie oft genug von Marie Prisedski sprechen gehört haben, die im Alter von 16 Jahren nach Sibirien verschickt wurde, weil sie ihre ältere Schwester nicht verraten wollte; ferner von den Geschwistern Iwitschewitsch, einem Mädchen von 17 Jahren, einem Knaben von 14 Jahren, die 1879 in Kiew verhaftet und nach Sibirien verschickt wurden, nur weil die älteren Brüder Revolutionäre waren und bei dem Widerstand, den sie ihrer Verhaftung entgegensetzten, erschossen wurden. Iwan Maximowitsch Prisedski ist ein reicher Gutsbesitzer im Bezirk Zinkofski, Provinz Pultawa. Seine Loyalität für den Zaren wurde nie bezweifelt, hingegen wurden alle seine Kinder – drei Töchter und ein Sohn – wegen politischer Vergehen nach Sibirien verschickt. Zwei der Mädchen leben in Semipalatinsk, an der Grenze Mittelasiens; die dritte befindet sich im Gefängnis der Minen von Kara und der Sohn war bis vor kurzer Zeit zwangsweise im Dorfe Tunka, nahe der Grenze der Mongolei angesiedelt. Drei dieser Personen lernte ich während meiner letzten Reise in Sibirien kennen und sie haben einen recht günstigen Eindruck auf mich gemacht. Es dürften sich kaum wohlerzogenere, gebildetere und einnehmendere junge Leute finden als diese. – Die Geschwister Iwitschewitsch – ein Mädchen von 17 Jahren und ein Knabe von 14 Jahren – wurden nach Kirinsk, Provinz Jakutsk, etwa 4500 Kilometer östlich von St Petersburg verschickt.

Es ist nicht zu verwundern, wenn ein junges Mädchen, das derart ihrer Familie entrissen wurde, entmutigt von der Einzelhaft, ohne Rechtsbeistand, ohne Kenntnis des Gesetzes, ohne hilfreiche Freundeshand, schliesslich unter der Aufregung entsetzlicher Angst zusammenbricht und dem Untersuchungsrichter alles bekennt was sie weiss. Wohl wird sie dann der Haft entlassen, aber nur um neue Qualen zu erleiden. Ihre besten Freunde, ihre Familienglieder werden verhaftet, eingekerkert und dann nach Sibirien verschickt, und sie ist ihr Lebenlang den Selbstvorwürfen und Gewissensbissen preisgegeben, dass ihre Aussagen das Unglück herbeigebracht haben. Allein es kommt auch häufig vor, dass ein Mädchen standhaft bleibt und selbst nach monatelanger Einzelhaft sich weigert, die ihr vorgelegten Fragen zu beantworten. In solchen Fällen wendet die Behörde noch weit schändlichere »Kunstgriffe« an.

Im Jahre 1884 wurde Marie Kaluznaja, die 18jährige Tochter eines Kaufmanns in Odessa, unter der Anklage revolutionärer Umtriebe verhaftet, ins Gefängnis gesetzt, und der erwähnten Behandlung unterzogen. Sie hatte jedoch Mut und Charakter und widerstand monatelang allen Versuchen durch Überredungen oder Drohungen, ein Geständnis aus ihr herauszupressen, ihre Freunde zu verraten. Schliesslich versuchte es der Gendarmerieoberst Katanski mit einem geschickt gefälschten Schriftstück, das angeblich das Geständnis ihrer gleichfalls gefangenen Genossen enthielt. Indes wurde dieses Schriftstück von der Gendarmerie selbst hergestellt, unter schlauer Benutzung aller von ihren Spähern hinterbrachten Mitteilungen. Es sollte dazu dienen, Fräulein Kaluznaja belastende Aussagen gegen ihre Genossen zu entlocken, die im Gefängnis der Untersuchung der gegen sie erhobenen schweren Anklagen harrten. Mit grausamer Heuchelei sagte Oberst Katanski dem Mädchen, er komme nicht zu ihr als Beamter, sondern als Freund; er wolle ihr das Geständnis ihrer Genossen zeigen, um ihr nun Gelegenheit zu bieten sich zu retten, so lang es noch Zeit ist. Sie könne ihren Genossen nicht länger nützen, da sie bereits ihre Schuld eingestanden haben, noch weniger sie schützen, wenn sie länger die Beantwortung der an sie gestellten Fragen verweigere. Gegen sie selbst liege keine ernstliche Anklage vor und ihrer sofortigen Freilassung stehe nichts als ihre hartnäckige Weigerung im Wege. Sie brauche daher nur Reue zu bekunden um eine Besserung ihres Geschickes zu veranlassen. Es sei auch unnötig, dass sie andere Tatsachen bezeuge als jene, welche die Polizei aus dem vorliegenden Schriftstücke bereits kenne, Tatsachen, die von ihren Freunden bereits zugestanden wurden. Warum sollte sie nun ihr junges Leben einem irrigen, übertriebenen Ehrbegriff opfern, besonders wo er nicht mehr von Nutzen sein konnte, wo das Schicksal ihrer Genossen nicht mehr von ihrer Aussage abhing? Sie haben bereits eingestanden und wenn sie nur das wiederholte, was jene schon zugegeben haben, so könnte das niemandem grösseren Schaden bringen. Der Staatsanwalt soll nicht erfahren, dass ihr dieses Schriftstück bereits bekannt war; er möge annehmen, ihr Anerbieten Zeugnis abzulegen, sei der aufrichtigen Reue entsprungen. Dann wäre es auch zweifellos, dass er ihre sofortige Enthaftung veranlassen werde.

Fräulein Kaluznaja ging in die Falle. Sie liess dem Staatsanwalt sagen, sie wäre zur Aussage bereit und gab dann bei dem Verhör Tatsachen zu, die, ihrer Meinung nach der Polizei bereits bekannt waren, die jedoch in Wirklichkeit nur Vermutungen waren. Nachdem das Mädchen derart unbewusst dem Zwecke gedient hatte, zu dem sie verhaftet worden war, gab man sie frei und stellte sie unter Polizeiaufsicht. Als der Prozess ihrer Freunde verhandelt wurde, musste sie natürlich ersehen, dass keiner von ihnen ein Geständnis abgelegt habe, und dass sich ausser ihren Aussagen kein Belastungsbeweis gegen die Gefangenen vorbringen liess.

Man kann sich leicht vorstellen, welche furchtbare Wirkung diese Erkenntnis auf ein Mädchen von so edlem und grossmütigem Charakter ausüben musste. Sie sah ihre Freunde zufolge ihrer eigenen Aussage zur Zwangsarbeit verurteilt, ohne dass sie deren Schicksal geteilt hätte, noch ihnen sagen konnte, welcher Betrug da im Spiel war. Es schien als hätte sie ehrlos ihre Freunde verraten, um sich selbst zu retten. Eine Zeitlang schien es, als würden sie Gewissensbisse zur Verzweiflung, zum Wahnsinn oder Selbstmord treiben. Doch sie beruhigte sich endlich und in ihrem Geiste reifte der Plan, etwas zu tun, was sie für das grausame Unrecht, das sie erlitten hatte, rächen würde, was der Welt beweisen mochte, dass sie nur unwissentlich ihre Freunde verraten habe, und dass sie nicht davor scheue, ihr Los zu teilen. Sie verschaffte sich einen Revolver, liess sich beim Obersten Katansky anmelden und als er ihr entgegentrat, schoss sie auf ihn. Die Kugel streifte seinen Kopf, verwundete ihn leicht am Ohr und schlug in die Wand ein. Ehe sie noch einen zweiten Schuss abgeben konnte, hatte er ihr die Waffe entrissen. Dies geschah am 21. August 1884. Am 10. September wurde sie, des Mordversuchs angeklagt, in Odessa vor das Kriegsgericht gestellt. Ihr Wunsch war, mit den Freunden, die sie verraten hatte, nach Sibirien verschickt zu werden, sie wies daher jeden Rechtsbeistand zurück und machte auch keinen Versuch sich zu verteidigen. Der Gerichtshof fand sie des vorsätzlichen Mordversuchs schuldig und verurteilte sie zu zwanzigjähriger Zwangsarbeit.

Dem Anfang des letzten Aktes dieses Trauerspiels habe ich beigewohnt.

Ich befand mich eben in Tschita, Ostsibirien, als Marie Kaluznaja, am 8. Dezember 1885, dieses Städtchen verliess, um nach den Minen von Kara zu ziehen, zu Fuss, im Sträflingskleid, mit einer Schar gefesselter Verbrecher, bei einer Temperatur von 20 Grad Fahrenheit unter Null.

Es gewährte mir eine wehmutsvolle Genugtuung, zu wissen, dass dieses unglückliche Mädchen, als es an diesem bitterkalten Dezembermorgen müden Schrittes von der »Etappe« zog, wenigstens den einen Trost finden konnte: ein amerikanischer Reisender sei anwesend, der ihre Geschichte kannte und der die Welt aufklären wird, warum sie einen Mordversuch machte. –

Man könnte glauben, Fälle dieser Art wären Ausnahmen. Doch zu meinem Leidwesen muss ich sagen, dass ich ähnliche Geschichten in allen Teilen Sibiriens von Verschickten und Beamten erfahren habe. Ein Betrug, wie er an Marie Kaluznaja verübt wurde, ist in derselben Stadt Odessa früher schon wiederholt versucht worden. So wollte man z. B. kaum ein Jahr, ehe der erwähnte Fall sich abspielte, Fräulein Fanny Morenis, die jetzt in Transbaikalien als Verschickte lebt, ebenfalls mit einem angeblichen Geständnis täuschen. Auch bei Frau Kutitonskaja, die nun im Gefängnis zu Irkutsk sich befindet, wurde derselbe »Kunstgriff« erprobt. In beiden Fällen war die List jedoch vergeblich angewendet.

Wenn Einzelhaft und Kunstgriff nicht wirken wollen, so versuchen es die Gendarmerie und die Offiziere des Justizdepartements mit anderen Mitteln, die vielleicht weniger ehrlos, aber doch nicht weniger grausam sind.

Im März 1882 erkannte General Strelnikoff, dass die Einzelhaft in dem düstern, schlecht ventilierten Gefängnis zu Kiew noch nicht genüge, um die Gefangenen zu zwingen, alles zu gestehen, was ihnen seines Erachtens nach von der revolutionären Bewegung bekannt war. Er beschloss daher ihnen das Leben noch unerträglicher zu machen, ihre »Halsstarrigkeit« zu brechen, indem er die Zellen ganz verdunkeln liess. Unter dem Vorwand, verhindern zu wollen, dass die Häftlinge von den Fenstern aus sich untereinander verständigten, liess er die Fenster aller Zellen, in welcher sich Politische befanden, mit einer Eisenblechkappe bedecken. Diese war gross genug, um das ganze Fenster zu umfangen und sah einer niedrigen Schachtel ähnlich, welcher Deckel und Seitenwand fehlte. Oben und an beiden Seiten schloss sie dicht ans Fenster an, nur unten war sie offen. Den Häftlingen fehlte nun Licht und Luft fast gänzlich und jede Zelle glich einem Keller. Der geringe Schimmer, der durch die Spalte unten in die Zelle drang, war just nur ausreichend, um den Häftlingen den Wechsel von Tag und Nacht erkennen zu lassen. Der Handwerker, der diese Hüllen anbrachte, sagte dem General Strelnikoff, sie würden ihre Bestimmung nicht erfüllen, weil man trotzdem wie früher, würde von einem Fenster zum andern sprechen können. Doch er erhielt die barsche Antwort, das kümmere ihn nichts.

Natürlich wurde den Gefangenen unter solchen Umständen das Leben fast unerträglich. Die jungen, nervösen Mädchen, von jedem Eindruck zu beeinflussen, irrten ruhelos im Dämmerlicht ihrer Zelle umher, bis sie dem Wahnsinn nahe waren. Selbst die Gefängnisbeamten mochten es sich nicht versagen, diesen Unglücklichen ihre Teilnahme, ihr Mitleid zu bekunden.

Nun richteten die politischen Gefangenen eine Bittschrift an den Generalgouverneur Drenteln, worin sie ihn baten, er möge einen Offizier entsenden, der sich von ihrer Lage überzeuge und wenn möglich zu ihren Gunsten interveniere. Der Gouverneur der Provinz Kiew besuchte nun auf Befehl des Generalgouverneurs das Gefängnis. Als er nun in die Zelle eines jungen Studentens eintrat, den ich später in Sibirien kennen lernte, fragte er ihn: »Wozu sind diese Blechkappen an den Fenstern.« Der Gefragte erwiderte, sie seien auf Befehl des Generals Strelnikoff angebracht worden um den mündlichen Verkehr der Häftlinge untereinander zu verhindern.

»Erfüllen Sie diesen Zweck?« fragte der Gouverneur.

»Nein,« antwortete der junge Student. »Wünschen Sie es, so will ich Ihnen beweisen, dass es jetzt ebenso leicht ist wie früher von Fenster zu Fenster zu sprechen.«

»Bitte, beweisen Sie mir's«, sagte der Gouverneur.

Der Student trat ans Fenster und rief einen benachbarten Gefangenen an; sie sprachen miteinander, bis sich der Gouverneur für befriedigt hielt.

»Ich sehe ein«, meinte er da, »dass Ihre Lage eine sehr drückende ist, allein ich kann Ihnen für. die nächste Zeit keine Änderung in Aussicht stellen. General Strelnikoff ist mit Befehlen und Vollmacht von des Zaren höchsteigener Person ausgerüstet, er ist daher nicht vom Generalgouverneur, ja nicht einmal vom Minister des Innern abhängig. Die Provinzialbehörden können daher in solchen Fällen nichts tun.«

Am Tage nach diesem Besuche des Gouverneurs im Gefängnis wurde General Strelnikoff in Odessa ermordet. Die Fensterkappen wurden jetzt gleich entfernt, zur grössten Freude der politischen Gefangenen, die, kühn gemacht durch diesen Erfolg, dem Gouverneur vorschlugen, das Material zu einem Monument für den Erfinder dieser Blechkappen zu verwenden.

Aus räumlichen Gründen ist es mir nicht möglich, hier die vielen anderen Methoden zu erörtern, die Gendarmerie und Beamte des Justizdepartements anwenden, um den Verhafteten Geständnisse zu erpressen. Für eine der grausamsten halte ich das Mittel, alte, schwache Eltern in Schrecken versetzen, indem man ihnen sagt, ihre Söhne oder Töchter würden gehängt werden, wenn sie kein Geständnis ablegen wollten. Die armen alten Leute werden dann in die Gefängniszellen geschickt, wo sie schreckensbebend und halbblind vom Weinen ihre Kinder anflehen die »Halsstarrigkeit« aufzugeben. Die Beamten wissen recht gut, dass die Häftlinge nicht gehängt werden, dass es sogar zweifelhaft sei, ob ihnen überhaupt ein Prozess gemacht wird; sie werden im Gefängnis nur darum zurückgehalten, weil der Staatsanwalt hofft, von ihnen endlich doch etwas zu erfahren. Wenn die Qual der Einzelhaft noch durch das Flehen der überaus geängstigten Eltern vermehrt werden kann, dann um so besser! Ein kleiner Schrecken wird den alten Leuten nicht viel schaden und sie lehren ihre Kinder sie umsomehr zu beobachten; und die »Halsstarrigkeit« der Gefangenen wird vielleicht durch den Anblick des Kummers und Elends ihrer Eltern weichen. Nach der Meinung der Beamten kann ein derartiges Vorgehen nur zum Nutzen beider Teile werden.

Die Mutter eines jungen Studenten in Kiew, Namens Zebunoff, geriet durch die sehr deutliche Schilderung, die ihr General Strelnikoff von der Art und Weise machte, wie ihr Sohn, wenn er nicht bekennen wollte »mit der Schlinge um den Hals in der Luft baumeln« werde, in einen solchen Schreck, dass sie im Arm des Staatsanwaltes ohnmächtig zusammenbrach. Und doch wusste Strelnikoff recht gut, dass nicht einmal genug Beweise zur Anklage vorhanden waren, viel weniger, um henken zu lassen. Dem jungen Studenten wurde auch nicht der Prozess gemacht, man konnte ihn ja »auf administrativem Wege« verschicken.

Der hochbetagten Mutter eines Verschickten, den ich in Transbaikalien kennen gelernt habe, wurde vorgelogen, ihr Sohn würde zweifellos gehängt werden, wenn er nicht alles bekennen würde, was er von der revolutionären Bewegung wisse. Unter der Bedingung, dass sie das Möglichste anwende, um ihren Sohn zu einem Geständnis zu bewegen, wurde ihr dann gestattet, in seine Zelle zu gehen. Hier folgte nun eine furchtbare Scene. Halb wahnsinnig vor Angst sank die Greisin vor ihrem Sohne nieder, presste das thränenüberflutete Antlitz an seine Füsse und beschwor ihn, mit einer vom Schluchzen halberstickten Stimme, bei seiner Liebe zu ihr, bei ihren gebleichten Haaren, er möge ihr versprechen, der Gendarmerie alles mitzutheilen, was er wisse. Es konnte für den Gefangenen nichts Erschütterndes geben als die Wirkung dieses Vorgangs. Er, der durch eine lange Einzelhaft geschwächt, niedergedrückt ist, sieht nun seine Mutter vor sich, zum erstenmal seit seiner Verhaftung und vielleicht auch zum letztenmal vor seinem Abgang nach Sibirien. Die Mutter entfernt sich schliesslich verzweifelt; sie nimmt von ihrem Sohn Abschied wie von einem Sterbenden. Und der Sohn verzeichnet die schmerzlichste Stunde seines Lebens – die grausame Täuschung seiner Mutter, sein eigenes Weh, den Versuch der Polizei, die heiligsten Menschengefühle sich dienstbar zu machen – als Erinnerung, die seine Nerven stärken, sein Herz kräftigen wird, wenn der Tag der Rache erschienen ist.

Der Versuch, die tiefinnersten Bewegungen des menschlichen Gemütes als Mittel zu benutzen, um von den Häftlingen Aussagen zu erpressen, kommt in allen russischen Gefängnissen vor, in denen sich »Politische« befinden. Die Einzelheiten wechseln natürlich, je nach den Verhältnissen oder der Verschlagenheit des Untersuchungsrichters. So wird z. B. einem Gefangenen nach monatelanger Einzelhaft eine Zusammenkunft mit seiner Mutter versprochen. Frohbewegt folgt er dem Kerkermeister durch den langen düstern Korridor in den Gefängnishof, wo seine Mutter auf einer Holzbank sitzt, nur wenige Meter von der Thür entfernt, durch die er hinaustritt. Beim Anblick des inniggeliebten Antlitzes, das der Kummer gealtert hat, seitdem er es zuletzt gesehen, überströmt sein Herz vor Liebe und Mitleid; er eilt auf sie zu um sie zu umarmen. Doch der Kerkermeister hält ihn zurück mit dem Bemerken, die Zusammenkunft finde nicht hier statt, sondern in der Sprechzelle, wohin er jetzt auch abgeführt wird. Er harrt da sehnsuchtsvoll zehn Minuten – eine Viertelstunde – eine halbe. Endlich geht die Thüre auf. Er fährt auf und zur Thüre. Doch nicht seine Mutter ist es, die ihm entgegentritt, sondern der Staatsanwalt, der ihn fragt, ob er nun bereit sei, sich einem Verhör zu unterziehen. Der Häftling antwortet, man habe ihm eine Zusammenkunft mit seiner Mutter in Aussicht gestellt und nicht ein Verhör. Hierauf giebt ihm der Staatsanwalt zu verstehen, eine derartige Zusammenkunft zu gewähren, sei eine Begünstigung, die man nicht an halsstarrige, verstockte Gefangene zu verschwenden pflegt. Wenn er nichts bekennen wolle, so werde man ihn sofort in seine Zelle zurückführen. Enttäuscht, erbittert kehrt er wieder in Einzelhaft zurück, das Herz voll neuem Hass und Rachedurst, während seine bekümmerte Mutter, deren Elend nur noch vermehrt wurde durch den kurzen Anblick ihres Sohnes im Sträflingskleid und unter Bewachung, nach ihrem fernen Heimatsdorfe zurückgekehrt.

In einem anderen Falle, von dem ich in Sibirien Kenntnis erhielt, handelte es sich um eine junge Frau mit ihrem kleinen Kinde. Sie wollte nicht jene Fragen beantworten, die gestellt wurden, um eine belastende Aussage gegen ihre Freunde zu erhalten. Der Gendarmerieoffizier, der die Untersuchung vornahm, drohte ihr daher, er werde ihr das Kind fortnehmen. In ihrer furchtbaren Angst wandte sie sich an den Staatsanwalt mit der Frage, ob der Gendarmerieoffizier gesetzlich berechtigt sei ihr das Kind fortzunehmen, weil sie ein Zeugnis verweigere. Der Staatsanwalt wich der direkten Antwort aus mit dem Bemerken, es wäre vernünftiger von ihr, wenn sie nicht die gesetzlichen Rechte des Untersuchungsrichters erörtern wollte, sondern ihm der Wahrheit gemäss alles zu gestehen was sie wisse; in diesem Falle sei sie sicher, dass er kein Recht habe sie von ihrem Kinde zu trennen. Trotz dieser schrecklichen Drohung blieb die junge Mutter – sie war erst 22 Jahre alt, als ich sie in Sibirien kennen lernte – standhaft bei ihrem Vorsatz, die Freunde nicht zu verraten. Wohl verblieb ihr das Kind, aber wochenlang stand sie die fürchterlichste Angst aus, eine Angst, deren Erinnerung ihr schon die Tränen überfliessen liessen, als sie mir die Geschichte erzählte.

Wenn ich so ausführlich die Methoden, die Gefängnishaft zur Erpressung von Aussagen zu verwenden, erörtert habe, geschah es, teils weil in meinen Tagebüchern eine Menge Anmerkungen just über dieses Verfahren verzeichnet sind, das sich überall in Russland der Beobachtung aufdrängte, teils wieder, weil es mir mehr als alles andere den Gemütszustand zu erklären vermag, in dem die sogenannte »terroristische« Tätigkeit russischer Revolutionäre wurzelt. Wie immer man die moralische Seite eines solchen Vorgehens beurteilen mag, man kann sich der Erkenntnis nicht verschliessen, dass solche Ursachen solche Wirkungen schaffen können; und es ist nicht nötig den russischen Revolutionären blutgierigen Wahnsinn oder unmenschliche Rohheit zuzuschreiben.

Diese Schilderungen zwingen auch die Meinung auf, dass Beamte, die fähig sind Gefangene derart zu behandeln, kalt und herzlos sein müssen; doch in vielen Fällen, vielleicht in den meisten, erweist sich eine derartige Meinung als irrig. Viele der Beamten sind im Grunde genommen nicht schlechter, nicht besser als andere Menschen. Allein sie sind in ein System hineingezwängt, wo kein Widerspruch geduldet wird, besonders kein Widerspruch der in Russland als Auflehnung gegen Vorgesetzte, als Insubordination gilt. Sie sind gewohnt sich mehr als Herr denn als Diener des Volkes zu betrachten; sie haben persönlich nie Gelegenheit gehabt das Joch der Unterdrückung völlig zu empfinden; sie sind in dem langen Kampf mit furchtlosen, gewalttätigen Leuten gereizt, sind erbittert worden; sie verkennen den Charakter dieser Leute und die Motive ihrer Handlungsweise, sie halten sie für tolle Fanatiker und hinterlistige Meuchelmörder; endlich auch, ist ihr Glück, ihre Aussicht auf Beförderung von dem Erfolg abhängig, der sich ihnen aus diesem Kampfe ergiebt ...

Gegen eine Person, die eines politischen Verbrechens verdächtig ist, wird unter gewöhnlichen Umständen folgendermassen verfahren: Ohne dass ihm die Ursache auch nur angedeutet wird, wird er verhaftet, gewöhnlich in der Nacht, und eingekerkert. Nach einer Einzelhaft von einer bis zwei Wochen wird er von einem Gendarmerieoffizier vorläufig verhört. Damit er sich nicht vorbereiten könne, wird ihm in der Regel nicht mitgeteilt, welche Anklagen wider ihn erhoben werden. Die Gendarmerie versucht dieses Vorgehen nicht ungeschickt zu entschuldigen: »Ist der Gefangene unschuldig,« meinen sie, »so geschieht ihm nichts. Ist er jedoch schuldig, so hat er kein Recht Mitteilungen zu fordern, die ihm nur erleichtern könnten, den Untersuchungsrichter, irre zu führen und sich der verdienten Strafe zu entziehen. Der Zweck des Verhörs kann ihm, wenigstens vorläufig, gleichgültig sein. Er muss nur die an ihn gerichteten Fragen wahrheitsgetreu beantworten.«

Der Gefangene befindet sich derart, was seine Verteidigung und die seiner Freunde betrifft, entschieden im Nachteil. Beantwortet er die an ihn gerichteten Fragen, so erfolgt es ohne bestimmten Begriff über deren Zweck und Tragweite, verweigert er die Antwort, so verlängert er, vielleicht ganz unnötig, seine Haft und giebt der Gendarmerie Anlass, einen und den anderen der oben geschilderten »Kunstgriffe« in Anwendung zu bringen.

Die meisten der Verhafteten wählen den Mittelweg, beantworten manche der Fragen und unterlassen es bei anderen. Das Verhör endigt, sobald der Gendarmerieoffizier erkennt, dass von dem Häftling nichts mehr herauszubringen ist. Er wird dann nach seiner Zelle zurückgeführt und die Gendarmerie verwendet eine folgende Woche dazu um seine Bekannten und Freunde auszuforschen, die Berichte der Polizei zu prüfen, die ihn vielleicht schon einige Wochen früher im geheimen beobachtet hat, um schliesslich bei allen möglichen Leuten nachzufragen, die etwas über ihn wissen mögen. Diese Aussagen werden dann dem Staatsanwalt vorgelegt, dazu auch der Bericht des Gendarmerieoffiziers, der die Voruntersuchungen führte, nebst den besonderen Anmerkungen, die dieser zu machen für nötig fand. Der Staatsanwalt prüft sorgfältig das Beweismaterial, vergleicht die Aussagen von Angeklagten und Zeugen mit den Anmerkungen der Gendarmerie und stellt dann eine Reihe von Fragen auf, die dem Gefangenen beim eigentlichen Verhör vorgelegt werden sollen. Dieses, der »Dopros«, ist dazu bestimmt, die Untersuchung zu vollenden, so dass die Angelegenheit dem Justizminister vorgelegt werden kann.

Bis dahin wird also der Angeklagte nicht von der Natur der gegen ihn erhobenen Anklage verständigt. Er weiss nicht recht, ob er als Schuldiger oder als Zeuge verhaftet wurde. Er hat keine der Angaben vernommen, die dem »Dopros« zur Grundlage dienen sollen. Er hat keinen Rechtsbeistand und weiss nicht, was seit seiner Verhaftung sich alles ereignet hat. Kurz, eine schwierigere Lage als die, in der er sich befindet, ist kaum denkbar.

Der Staatsanwalt beginnt das Verhör, indem er den Gefangenen sagt, er sei des Verbrechens angeklagt, das im Paragraph x des Strafgesetzbuches näher bezeichnet ist. Die meisten Anklagen gegen politische Verbrecher stützen sich auf §§ 245, 249 und 250 des Strafgesetzes. Sie lauten:

»§ 245. Wer schuldig befunden wird, der Herstellung oder Verbreitung geschriebener oder gedruckter Dokumente, Bücher oder Abbildungen die geeignet sind zur Unehrerbietigkeit gegen die höchste Gewalt, oder gegen die Person des »Gossudar« (Zarens) aufzureizen, soll als Majestätsverbrecher zu Verlust aller bürgerlichen Rechte und zu Zwangsarbeit von zehn bis zwölf Jahren verurteilt werden.

Diese Strafe hat nach Abbüssung der Zwangsarbeit die Verbannung für Lebenszeit nach Sibirien zur Folge.

»§ 249. Wer sich zu einem Aufruhr gegen die höchste Gewalt verbindet, d. h. wer Anteil nimmt an einer Versammlung oder Verschwörung, die eine Empörung wider den Zaren und das Reich bezweckt; wer den Umsturz der Regierung im Reiche als Ganzes oder teilweise beabsichtigt; wer eine Änderung der bestehenden Regierungsform erstrebt, oder der gesetzlichen Thronfolge; wer behufs dieser Zwecke eine Verschwörung anstiftet, oder an einer solchen teil nimmt, sei es in tätiger, zweckbewusster Weise, sei es durch Lieferung oder Verteilung von Waffen, oder durch andere Vorbereitungen zum Aufruhr, – alle diese Personen, nicht nur die Führer, sondern auch ihre Genossen, Helfer und Hehler sollen aller bürgerlichen Rechte verlustig erklärt und mit dem Tod bestraft werden. Wer von solchen verbrecherischen Plänen und Vorbereitungen Kenntnis hat und die Regierung davon nicht pflichtgemäss verständigt, trotzdem er es vermag, der soll derselben Strafe verfallen.«

»§ 250. Wenn die schuldigen Personen nicht die Absicht bekundet haben Gewalt anzuwenden, aber doch eine Gesellschaft oder einen Verein gegründet haben, der für die nähere oder fernere Zeit die Zwecke erstrebt, die im § 249 verzeichnet sind; oder wenn diese Personen einer derartigen Verbindung angehören, so sollen sie je nach dem Grade ihres verbrecherischen Wirkens, zu Zwangsarbeit auf der Dauer von ein bis sechs Jahren, sowie zum Verlust aller bürgerlichen Rechte verurteilt werden Hier ist eine Verbannung auf Lebenszeit nach Sibirien mit inbegriffen. ... oder zur Kolonisation in Sibirien oder zur Einkerkerung in einer Festung auf die Dauer von ein Jahr und vier Monate, bis zu vier Jahren.«

Die Absicht dieser Bestimmungen scheinen mir ziemlich klar zu sein. Sie umfassen nicht nur alle Versuche, die Regierung mit Waffengewalt zu beseitigen, nicht nur alle Handlungen, die geeignet sind zur »Unehrerbietigkeit« gegen den Zaren aufzureizen, sondern sie wollen auch die Absicht bestrafen, künftig einmal einen Regierungswechsel hervorzurufen, sei es auch infolge friedlicher Erörterung und Hebung der Volksbildung. Aber das ist noch nicht alles! Man kann ein treuer Untertan sein und nicht das geringste äussern, was als Ungehorsam gegen den Zaren und seine Regierung gedeutet werden könnte; erfährt er aber, dass seine Schwester, sein Bruder, sein Freund einer Verbindung angehöre, die eine »Änderung der bestehenden Regierungsform anstrebt,« so ist es seine deutlich vorgeschriebene Pflicht, freiwillig zum Gendarmeriechef zu gehen und seinen Bruder, seine Schwester, seinen Freund zu verraten. Unterlässt er das, so wird er laut Gesetz für sein Leben lang nach Sibirien verschickt.

Wird nun dem Gefangenen beim Verhör gesagt, er sei eines der Verbrechen angeklagt, die in den Paragraphen 245, 249, 250 des Strafgesetzes näher verzeichnet sind, so weiss er noch immer nicht, welcher Art das Vergehen ist, dessen er beschuldigt wird. Er kann eines Majestätsverbrechens beschuldigt sein, oder der Absicht die bestehende Regierungsform jetzt oder später ändern zu wollen; er kann sich auch der Gefahr ausgesetzt haben, zu Zwangsarbeit verurteilt zu werden, weil er es unterliess dem Gendarmeriechef die Vermutung mitzuteilen, dass seine Schwester vielleicht einer geheimen Verbindung angehöre. Doch ihm bleibt immerhin der Trost, dass er aus der Art seiner Bestrafung ungefähr erkennen wird, wessen er beschuldigt wurde.

Der »Dopros« gleicht dem vorläufigen Verhör in allem Wesentlichen; nur dass er vom Staatsanwalt selbst vorgenommen wird, eine grössere Zahl Taten zur Grundlage hat, daher auch strenger und eingehender erfolgt. Zum Schluss wird der Gefangene aufgefordert seine Aussagen mit seiner Unterschrift zu bestätigen; dann wird er wieder nach seiner Zelle gebracht.

Der Staatsanwalt verfasst nun eine genaue Darstellung des Falles, die zeigt, wessen der Angeklagte mit Erfolg beschuldigt werden kann, und sendet sie mit allen Belegen an den Justizminister. Nach dem »Dopros« werden dem Gefangenen, wenn er sich nicht »halsstarrig« gezeigt hat, gewisse Erleichterungen gewährt. Er darf im Beisein eines Gefängnisbeamten wöchentlich zweimal mit seinen Verwandten zusammenkommen, er darf offene Briefe absenden und erhalten, er darf auch Bücher besitzen. Doch diese Begünstigungen haben ihre Schattenseiten! Die Besucher können im Gefängnis verhaftet werden, um auf »administrativem Wege« nach Sibirien verschickt zu werden; Ein junger Revolutionär, namens Majdanski, wurde 1880 in Odessa gehenkt. Seme Mutter, eine alte Bäuerin, kam ins Gefängnis, um auf ewig von ihm Abschied zu nehmen. Es wurde ihr nicht erlaubt ihn zu sehen, dagegen wurde sie verhaftet und »auf administrativem Wege« nach der Provinz Krasnojarsk, Ostsibirien, verschickt. die Polizei, durch deren Hände die Briefe gehen, kann deren halben Inhalt ausstreichen oder sonstwie vertilgen; Ich besitze einen derartigen Brief. Er umfasste ursprünglich vier engbeschriebene Seiten Grossformat. Die Polizei liess nur folgende Worte stehen:
Mezzen, 8 Dezember 1880.
Mein teuerer Iwan Iwanowitsch!
Ich sende dir acht Rubel. Augenblicklich kann ich nicht mehr für dich thun ... (vier Seiten gestrichen) ... Herzlichsten Gruss
Alex
und die einzigen Bücher, die man ihm gewährt, sind wahrscheinlich Bibel und Strafgesetz. Bibel und Strafgesetz waren die einzigen Bücher, die den jungen Verschickten von St. Petersburg, welche ich in Sibirien kennen lernte, in der ersten Zeit ihrer Haft erlaubt waren. Das geschah sicherlich nur, um sie zur Tugend zu leiten, um sie vor Verbrechen zu warnen. Es lässt sich jedoch annehmen, dass diese Lektüre den meisten politischen Gefangenen einen lehrreichen Vergleich – russische Beamte würden es einen rebellischen Vergleich nennen – zwischen russischen und christlichen Gesetzen geboten hat, und somit die weise Absicht der Polizei vereitelt hat.

Die Schriftstücke, die sich auf den Prozess des Gefangenen beziehen, brauchen einen bis drei Monate, ehe sie ins Justizministerium kommen. Dort bleiben sie wahrscheinlich noch drei bis sechs Monate liegen. Und wenn sie endlich vorgenommen werden, so kann der Minister viererlei beschliessen:

1. wenn die vorliegenden Beweise nicht ausreichend scheinen, um auch nur die Verhaftung des Angeklagten zu rechtfertigen, so kann er dessen Freilassung anordnen, wie es auch bei etwa achthundert »Propagandisten« erfolgte;

2. wenn die vorliegenden Beweise zwar unvollständig sind, jedoch vermuten lassen, dass ein Prozess möglich wäre, so kann er die Akten dem Staatsanwalt zurückschicken, mit der Weisung, die Untersuchung fortzusetzen. Das bedingt einen Aufschub von wenigstens sechs Monaten;

3. wenn die vorliegenden Beweise ungenügend sind, um den Angeklagten vor Gericht zu stellen; wenn sich ferner nicht annehmen lässt, dass eine fortgesetzte Untersuchung die Beweise vollständig machen werde; wenn jedoch der Minister trotzdem annimmt, der Angeklagte sei »unzuverlässig« und seine Freigebung gefährlich – so kann er ihn auf »administrativem Wege« für die Dauer von höchstens 5 Jahren nach Sibirien verschicken.

4. wenn die vorliegenden Beweise genügend scheinen, um den Angeklagten vor den Gerichtshof zu stellen, so bleibt er in Haft, bis sein Urteil gesprochen wird.

Vom Justizministerium werden die Akten an das Ministerium des Innern gesandt, wo sie wieder eine Zeit lang liegen bleiben, bis sie vorgenommen werden. Der Minister des Innern kann der Entscheidung des Justizministers zustimmen oder auch nicht. In ersterem Falle werden sie dem Zaren zur Genehmigung vorgelegt, in letzterem werden sie zur reiflichen Überlegung »zurückgelegt« oder dem Staatsanwalt zur Vervollständigung zurückgegeben.

Die Folge dieses Vorgangs ist, dass die Periode zwischen Verhaftung und Freilassung, oder Verurteilung, Verbannung des Gefangenen fast endlos verlängert wird, zumal jede Station, zufolge Anhäufung ähnlicher Akten in allen Provinzial- und Ministerialkanzleien, durch eine lange Verzögerung sich bemerkbar macht. Die neuesten Politischen, deren Fälle ich näher kennen lernte, waren ein bis anderthalb Jahr gefangen, bevor sie nach Sibirien verschickt wurden. In einzelnen Fällen ergab sich sogar eine noch viel längere Haft. Salomon Chudnofski, der jetzt in Tomsk als Verbannter lebt, musste auf die Erledigung seines Falles vom 27. Januar 1874 bis 18. Juli 1878 warten, also vier Jahre und sechs Monate. Fast die ganze Zeit verbrachte er in Einzelhaft, davon zwanzig Monate in den Kasematten von Petropawlowsk.

Eine solche Verzögerung muss Verwandte und Freunde selbst solcher Gefangenen verbittern, deren Schuld sich nicht leugnen lässt. Aber fast zum Wahnsinn muss der Schmerz jene treiben, die da wissen, dass ihre Söhne, Töchter, Schwestern, Freunde unschuldig sind und die sie noch vor dem Prozess durch natürlichen Tod oder Selbstmord im Gefängnis verlieren ...

In dem Aufsatz »Ein russisches Gefängnis für Politische« bemerkt der Verfasser: »Das grösste Staatsgefängnis Russlands, wo alle wichtigen, gefährlichen politischen Verbrecher früher oder später eingesperrt werden, ist die Festung Petropawlowsk. Jeder der schon in Petersburg war, wird sich wohl des schlanken, vergoldeten Turms erinnern, der sich vom niedrigen Ufer der Newa gegenüber dem Winterpalaste, etwa 400 Fuss hoch erhebt, aus der Ferne einer goldenen Lanze gleichend, die über das sumpfige Delta des Flusses und das seichte Gewässer des Finnischen Meerbusens hoch emporragt. Das ist der Turm der Festungskirche, unter der die Gebeine der russischen Zaren ruhen, um die herum aber, fast ebenso tief begraben, die Feinde der Zarenherrschaft schmachten. Vom Flusse aus, dem die Festung die Vorderseite zukehrt, ist nur eine lange niedrige, graue Steinmauer zu sehen, mit scharf vorspringenden und einfallenden Winkeln, einige Kanonen, die aus den Schiessscharten lugen, eine von der Brustwehr aus hoch flatternde Flagge und alles überragend die weisse Kuppel und der blinkende Turm der Kathedrale, sowie die rauchenden Essen der kaiserlichen Münze.

Den Haupteingang der Festung bildet ein langer, gewölbter Torweg, der nahe der Troitskibrücke die Wallmauer durchbricht und in einen ansehnlichen berasten und schattigen Park mündet, der den ganzen Tag geöffnet ist und von den Bewohnern der »Petersburger Seite« – so wird dieser Teil der Stadt genannt – als Durchgang benutzt wird. Hierbei ist es jedoch unmöglich, sich eine genaue Vorstellung von der Ausdehnung und Beschaffenheit von Russlands grossem Gefängnis für Politische zu machen. Das Ganze bildet eine ungeheuer grosse Verbindung von Bastionen, Schanzen, Wällen, Baracken und Magazinen, die etwa dreiviertel englische Quadratmeilen bedecken mögen und von dem erwähnten Park, sowie von einem Festungsgraben durchschnitten werden. Letzterer scheidet die Citadelle von den Vorwerken.

In welchem Teil dieses riesigen Labyrinths die politischen Gefangenen gehalten werden, wissen diese selbst nicht. Sie werden nachts in die Festung gebracht, in dicht geschlossenen Wagen, zwischen Gendarmen; und wenn ihnen endlich befohlen wird auszusteigen, nachdem sie durch schwere Tore, zwischen wiederhallenden Mauern und gewölbten Gängen entlang kreuz und quer gefahren wurden, befinden sie sich in einem engen völlig eingeschlossenen Hof, der keinen anderen Ausblick gewährt als nach dem Himmel über ihnen. Wo dieser Hof sich befindet, können sie nur vermuten. Man hat Gründe anzunehmen, jener Teil der Festung, wo die politischen Gefangenen in Untersuchungshaft sind, sei eine Bastei, die auf der Flussseite, nach der Richtung der Börse, vorspringt. Die politischen Gefangenen jedoch, die ich in Sibirien kennen lernte, meinten, sie wären in der Trubetskoibastei gefangen gewesen. Diesen Teil der Festung konnten sie mir genau beschreiben. Von einem Gefangenen, der sich jetzt in Ostsibirien befindet, erhielt ich sogar einen von ihm gezeichneten Plan der Bastei und der darin befindlichen Kasematten, dessen Grössenangaben allerdings nur auf Vermutungen beruhen.

Die Trubetskoibastei ist ein massiger fünfeckiger Bau aus Stein und Ziegeln, der ein Stockwerk hoch ist, eine Höhe – von der Spitze bis zur Basis gemessen – von etwa 100 Metern hat und eine Breite von etwa achtzig Metern. Sie steht in einem Hofraum, der ungefähr zehn Meter länger und breiter ist und der durch eine hohe, parallel mit der Bastei laufende Mauer abgeschlossen ist, so dass kein Ausblick möglich ist. Die Kasematten, die den politischen Gefangenen als Zellen dienen, befinden sich in zwei Stockwerken übereinander, an der Hauptfront, zwischen dem schmalen Vorhof und dem grossen inneren Hof. Die Türen der Kasematten führen nach einem Korridor, der sich der inneren Hauptmauer entlang zieht. Die Fenster zeigen die kahle Umfassungsmauer des Hofes, die so hoch ist, wie die Bastei selbst und nicht nur jede Aussicht hindert, sondern auch in den unteren Zellen Luft und Licht verhindert.

In jedem Geschoss befinden sich 36 Kasematten, zusammen also 72, die einander an Form und Grösse gleichen, die an den Ecken ausgenommen. Ursprünglich waren sie zur Aufnahme schwerer Geschütze bestimmt, sie sind daher geräumiger als gewöhnliche Gefängniszellen. Sie haben ungefähr acht Meter Länge, von der Türe bis zum Fenster gemessen, fünf und einen halben Meter Breite und bis zur leichtgewölbten Decke vier Meter Höhe, Wände und Decken sind aus Ziegeln, der Fussboden aus Beton.

Die starke Aussenwand der Bastei ist in jeder Zelle von einem Bogenfenster unterbrochen, dass sich etwa drei Meter hoch befindet und dessen tunnelförmige Öffnung mit doppeltem Gitterwerk versehen ist. Die untere Scheibe, rechts, des eisernen Fensterkreuzes bewegt sich in Angeln, damit sie der Lüftung wegen geöffnet werden kann. Ohne sich auf etwas zu stellen, kann der Gefangene das Fenster nicht erreichen, und selbst dann hat er nur einen Ausblick auf den oberen Teil der Umfassungsmauer und auf einen schmalen Streifen Himmel.

Die schweren Türen sind aus Holz. In der Mitte jeder befindet sich ein viereckiges Loch, das durch eine in Angeln bewegliche Platte geschlossen werden kann. Diese wird wie eine kleine Zugbrücke auf und nieder gezogen und in letzterer Stelle dient sie dazu, um die Nahrungsmittel aufzunehmen, die der Schliesser für den Gefangenen hinstellt. Unmittelbar darüber befindet sich eine wagrechte Spalte, ähnlich der eines Briefkastens, die mit einem beweglichen Deckel versehen ist. Diese Vorrichtung, von den Gefangenen ›Judas‹ genannt, dient dazu, um dem Schliesser zu ermöglichen, zu jeder Zeit in die Zelle schauen zu können, ohne dabei die Aufmerksamkeit des Gefangenen zu erwecken.

Die Einrichtung der Zelle besteht aus einem gewöhnlichen russischen Ofen, mit der Feuerung nach aussen, aus einer eisernen Bettstelle, die an einem Ende eingemauert ist, so dass sie nicht von der Stelle gerückt werden kann, aus einer gesimsartigen Eisenplatte, die in der Nähe des Kopfendes des Bettes gleichfalls in die Mauer eingelassen ist und als Tisch dient, aus einem befestigten Waschbecken, einer Holzkiste mit Unratkübel, einem kleinen Muttergottesbild, vor dem der Häftling beten kann, und endlich aus einer Zinnschale, die unter dem Fenster an der Wand hängt, um die Feuchtigkeit aufzunehmen, die von den abschüssigen Seiten der Öffnung herabtropft ...

Nachdem der politische Gefangene nachts in diese Kasematte eingebracht worden ist, wird er vor allem völlig entkleidet. Dann wird er sorgfältig untersucht, ob er nicht in Haren, Mund, Ohren, Nasenlöchern etwas verborgen habe. Hat sich der Gefängniswärter überzeugt, dass dies nicht der Fall ist, so erhält der Gefangene ein Häftlingskleid, das aus einem groben, grauleinenen Hemd, Hosen aus demselben Stoff, einem langen, blauleinenen Mantel, Wollstrümpfen und einem Paar Pelzpantoffeln besteht. Ist der Gefangene damit bekleidet, so zieht sich die Wache zurück, hinter ihr schliesst sich die schwere Holzthüre, der Schlüssel knarrt im rostigen Vorhängeschloss und der Gefangene bleibt in der karg erhellten Zelle allein zurück. Ringsum Grabesstille. Kein Fusstritt, keine Stimme, kein Laut kündet von der Anwesenheit noch anderer menschlicher Wesen in der Bastei. Alle Viertelstunden läutet das Glockenspiel der Kathedrale harmonisch und feierlich die Melodie des russischen Kirchenliedes: ›Erbarm dich, unser, Herr!‹ und jede Stunde ertönt die Weise: ›Ehre, Ehr' sei Gott in der Höh'!‹ Die feuchte dumpfe Luft, die triefenden Mauern, die bedrückende Stille, der gedämpfte Ton der Glocken – dies alles scheint dem einsamen, in stilles Sinnen versunkenen Gefangenen zuzurufen: ›Du bist nicht tot, doch bist du begraben!‹

Niedergedrückt von dem Gedanken, dass solches nun das Ende all seines Hoffens, Strebens, Ringens für das Wohl des Vaterlandes sei, gepeinigt von der Angst um das Schicksal jener, die ihm teuer sind, erhebt er sich von dem schmalen eisernen Bett, auf das er sich im ersten Augenblick der Verzweiflung geworfen hat, und schreitet in der Zelle auf und nieder.

›Wie lange wird dies dauern?‹ fragt er sich. Er prüft im Geiste die Geschehnisse vor seiner Verhaftung und die dann folgten, gedenkt der Fragen, die im ersten Verhör an ihn gerichtet werden dürften und versucht dann die Zeit zu bestimmen, die er hier zubringen mag. Das Vergehen, dessen er beschuldigt werden könnte, scheint ihm nicht so arg zu sein, es sei nichts vorhanden, was die Untersuchung verzögern könnte – er dürfte also in wenigen Wochen vor Gericht gestellt werden und dann freigelassen.

Während er sich derart zu trösten versucht, bückt er sich, um den Pantoffel wieder anzulegen, der ihm vom Fuss geglitten. Und dabei gewahrt er die Spur eines Pfades, der von einer Ecke der Zelle zur andern führt, in derselben schiefen Linie, die er jetzt durchmessen hat. Beängstigt von einem unbestimmten Gefühl nimmt er die kleine Lampe zur Hand und untersucht genauer die Spur. Es ist ein Pfad, eine seichte, aber doch bemerkbare Höhlung, die von menschlichen Fusstritten im festen Beton hervorgebracht wurde, eine Entdeckung, die auf ihn noch niederdrückender wirken muss. Nicht der erste Gefangene ist er also, der in dieser einsamen Zelle begraben wurde, nicht der erste, der sich durch Körperbewegung seine Gemütsstimmung zu beruhigen versucht. Jemand, der vielleicht auch eines politischen Verbrechens angeklagt war, der vielleicht auch eine rasche Erledigung der Sache erhoffte, hat diese Höhlung ausgetreten. Jemand, dessen Herz den Schmerz der Enttäuschung empfunden hat, musste diesen Weg von einer Ecke zur andern nicht nur hundertmal, nicht nur tausendmal, nein, sogar hunderttausendmal zurückgelegt haben, bis unter seinen müden Füssen der harte Boden ausgehöhlt war und eine lange, seichte Rinne die Spur seiner steten Wanderung bezeichnete.

Geängstigt von diesen trüben Erinnerungen aus der Geschichte dieser Festung hat der Gefangene nicht mehr Kraft genug, in der Zelle auf und ab zu wandeln. Er wähnt, seine leichtbedeckten Füsse fühlten die seichten Höhlungen, die von den Tritten seines Vorgängers herrühren; und jeder Schritt erinnert ihn an die Möglichkeit von Qualen, an die er am liebsten nicht denken möchte. Wieder setzt er sich auf sein schmales Bett und lauscht lange und aufmerksam nach irgend einem Laut von der Aussenwelt, nach einem, wenn auch nur leise vernehmlichen Beweis menschlichen Lebens, dass er ihn von dem peinigenden Traum einer unterirdischen Gruft befreie, dass er die Gespenster der Selbstmörder und Wahnsinnigen verscheuche. Und wieder klingen die Glocken der Festungskirche: ›Erbarm dich unser, Herr!‹ Doch der leise Klang des ernsten Gebets verklingt und es scheint dann noch stiller zu sein, als vorher.

Plötzlich bemerkt der Häftling, dass ihn von der Mitte der Zellentüre her zwei Augen festen Blickes anstarren. In seinem Schrecken, seiner Erregung dünkt ihm für den ersten Augenblick, die Gebilde seiner Phantasie würden sich nun verkörpern, der Geist irgend eines politischen Gefangenen, der hier zum Selbstmörder geworden war, blicke nun zur unheimlichen Nachtstunde nach dem trübseligen Ort, wo er vor langer Zeit zu einer schrecklichen Stunde seinen verkümmerten Leib zurückgelassen hatte, auf dem Boden liegend, das Haupt zerschmettert, oder die Kehle voll Glasscherben.

Doch wie er in sprachlosem Schrecken diese geheimnisvollen ausdruckslosen Augen anstarrt, verschwinden sie plötzlich und ein leises Geräusch, das durch den Deckel des ›Judas‹ hervorgebracht wird, lehrt ihn, dass es kein Gespenst war, sondern der Schliesser, der vom Korridor aus in die Zelle schaute. Dem Gefühl augenblicklicher Erleichterung folgt um so ärgere Beklemmung, da er nun weiss, dass er trotz seiner Einsamkeit stets argwöhnisch beobachtet wird. Aus den Blicken eines unnatürlichen Beschauers hätte wenigstens Mitleid und Erbarmen gesprochen; doch der gleichgültige Späherblick, der von Zeit zu Zeit durch die Öffnung des ›Judas‹ auf ihn gerichtet wird, macht ihm die Lage noch viel unerträglicher. Selbst seine Einsamkeit scheint von einem wachsamen, rücksichtslosen, feindlichen Wesen, das er weder sehen noch hören kann, beherrscht zu werden.

Wenn sich des Gefangenen Erregung allmählich legt, so beginnt er die frostige Feuchtigkeit seiner Zelle zu verspüren, und schaudernd vor Kälte und Erregung kriecht er in sein schmales Bett und zieht die dünne Decke bis zum Hals hinauf. Und wenn er endlich in einen unruhigen Schlaf versinken will, so ist das letzte, was er vernimmt, der mitternächtige Klang des Glockenspiels: ›Gott segne den Zaren!‹«

In einem vierten Aufsatz, »Russische Staatsgefangene«, wird die Anwendung der Tortur in den russischen Gefängnissen merkwürdiger Weise in Abrede gestellt. Es ist wohl anzunehmen, dass sich diese Negierung auf eine sozusagen regelrechte, systematische Folterung bezieht, denn das, was wir aus dem Vorhergehenden entnommen haben – abgesehen von Mitteilungen anderer – kann kaum anders als Tortur genannt werden. Die betreffende Stelle lautet: »Es liegt mir ferne, die Leiden der verurteilten politischen Gefangenen übertrieben darzustellen, um ungünstige Vorurteile gegen die russische Regierung zu schaffen, oder Teilnahme für die russischen Revolutionäre zu erwecken. Ich will nur schildern, was ich mit gutem Grund für wahr halte. Stepniak und Fürst Krapotkin haben das Leben der verurteilten politischen Gefangenen noch mit dunklern Farben geschildert, als meiner Ansicht nach hierher gehören. Ich habe in Sibirien mehr als fünfzig Verschickte kennen gelernt, die in der Festung Petropawlowsk gefangen waren, aber keiner wusste etwas von Zellen, die sich unter dem Niveau der Newa befanden, oder von dem bewussten Brief, den Netschajeff mit seinem eigenen Blute geschrieben haben soll, oder von Kerkerzellen, die von Ratten wimmeln, von Auspeitschung Gefangener oder auch nur von einem einzigen Fall, wo der Gefangene gefoltert wurde.

Ich will nicht sagen, dass die betreffenden Angaben von Stepniak und Fürst Krapotkin ungenau oder falsch wären; ich erkläre nur der Wahrheit gemäss, dass mein Nachforschen nicht die Bestätigung dessen finden konnte. Wohl giebt es in der Festung Zellen, deren Atmosphäre so feucht ist, dass Salz und Zucker in kurzer Zeit flüssig werden; und diese Zellen dienen auch den Gefangenen zum Aufenthalt. Aber sie befinden sich keineswegs unter dem Niveau der Newa. Netschajeff wurde wohl an die Wand seiner Zelle gekettet; doch zur Strafe, weil er sich an dem Gendarmerieoffizier Potapoff vergriffen hatte. Bis dahin wurde er noch ziemlich gut behandelt. Möglich auch, dass er gepeitscht wurde, weil er mit seinem eigenen Blute einen Brief an Alexander III. schrieb; doch die Verschickten in Sibirien wissen nichts davon.

Mit den Flintenkolben, mit den Fäusten wurden die Gefangenen in der Festung von den Wachen zwar öfter geschlagen; allein von einer Auspeitschung konnte ich nicht das Mindeste erfahren, obgleich es eine gesetzlich zulässige Strafe ist. Auch die Folter ist, soweit ich mich erkundigen konnte, wenigstens in der letzten Zeit, weder in der Festung noch in einem anderen Gefängnis des europäischen Russlands in Anwendung gekommen. Ein hervorragender Revolutionär, den Stepniak recht gut kennen dürfte, zumal er dessen Biographie geschrieben hat, sagte in Sibirien zu mir:

›Glauben Sie mir, Mister Kennan, zu unserer Zeit wurde von der Folter in der Festung nicht einmal Erwähnung gemacht. Während meiner dreijährigen Haft hörte ich nur von einem Fall, der der Folter nahe kam, das war die zwangsweise Anwendung von Chloroform bei Obolescheff und Frau Witanjewa, um sie zur Aufnahme ihrer Photographien bewusstlos zu machen. Beide wurden als verdächtig an der Teilnahme einer Verschwörung gegen das Leben des Generals Mezzeniseff in der Festung eingekerkert. Sie wollten sich nicht photographieren lassen und wurden daher gewaltsam chloroformiert. Frau Witanjewa verlor das Bewusstsein und blieb ruhig, Obelescheff jedoch wurde von der Cloroformierung fast bis zur Raserei aufgeregt, so dass man von dem Versuch, ihn zu photographieren, absehen musste. Es waren dabei anwesend Major Nikolski, ein Gendarmerieoffizier, der Festungsarzt Doktor Wilms, und einige Aufseher. Doch widersetzten sich dem mehrere Soldaten der Gefängniswache und einer weigerte sich sogar, den ringenden Gefangenen festzuhalten, mit dem Bemerken, er sei kein Henker und seine Pflicht sei nicht, Menschen zu vergiften.‹

Doch in der Hauptsache stimmen die Schilderungen von Stepniak und Fürst Krapotkin viel mehr mit meinen Erfahrungen überein, als die des Geistlichen Lansdell und noch einiger englischen Reisenden, die vor einigen Jahren die Trubetskoibastei besucht und flüchtig betrachtet haben. Ich wenigstens halte es für zweifellos, dass eine lange Einzelhaft in den Kasematten einer russischen Festung, ohne Bücher, Schreibgegenstände, Bettzeug, ohne gehörige Nahrung, ohne jeden Verkehr – dass dies eine viel ärgere Strafe als ein Todesurteil bedeutet.

Eine bekannte Revolutionärin, Frau Wera Phillipowa – beiläufig bemerkt, eine schöne, gebildete Frau – die 1884 in St. Petersburg vom Gerichtshof verurteilt wurde, erbat sich als Gunst, man möge sie lieber henken lassen, als nach der Schlüsselburg schicken. Ihre Bitte wurde abgeschlagen. Selbstmord und Selbstmordversuche kommen in den Festungskasematten sehr häufig vor; auch geschieht es, dass Gefangene sich an einem Offizier der Wache vergreifen, in der Hoffnung, vor das Kriegsgericht gestellt und erschossen zu werden. Während meiner Heimreise von Sibirien lernte ich in Moskau den Vorsitzenden eines Kriegsgerichtes kennen, und auf meine Frage hin gab er mir zur Antwort, dass der Revolutionär Muischkin im Sommer 1885 in der Schlüsselburg erschossen wurde, weil er den Gefängnisarzt geschlagen hatte. Der verzweifelte Gefangene wollte seinem Leben voll Elend durch Verhungern ein Ende machen und es wurde der Festungsarzt in seine Zelle geschickt, um ihm die Nahrung gewaltsam einzuflössen. Der hohe Gerichtsbeamte, der mir diese Auskunft gab, gehörte weder selbst zu den Revolutionären, noch sympathisierte er mit ihnen. Er erzählte mir das trockenen Tones, ohne Erklärung oder Gefühlsäusserung. Und ich habe nicht die geringste Ursache, die Wahrheit seiner Äusserung zu bezweifeln.«

Doch genug dieser Berichte aus dem nordischen Reich! So beklagenswert diese Zustände auch sind, in der Behandlung verhafteter »Verdächtigter«, besonders politisch Beschuldigter stehen sie doch nicht in Europa so vereinzelt da, wie uns andere oder gar, wie wir selbst uns gewöhnlich glauben machen wollen. Nicht nur der Brünn überragende Spielberg, dessen Gefängniszustände uns Silvio Pellico (1789-1854) in seinem »Le mie prigioni« so meisterhaft zu schildern wusste, nicht nur zahlreiche andere Gefängnisse in Mitteleuropa, Italien etc. haben ähnliche Geschehnisse aufzuweisen, von denen uns zumeist nur geringe Kunde überliefert wurde. Denn nicht immer »reden Steine, wenn Menschen schweigen«. Auch unsere verschiedenen zur Zeit in Europa geltenden Kriminalsysteme haben, hauptsächlich in ihren Untersuchungsformen manches aufzuweisen, was fast Tortur genannt werden kann, wobei wir von der schon erwähnten missbräuchlichen Anwendung der Strafuntersuchung ganz absehen wollen. Allerdings handelt es sich hierbei mehr um eine moralische als um eine physische Marterung, wobei sich aber erstere noch qualvoller erweisen mag. Es kommt hierbei auch die Untersuchungshaft in Betracht, worüber die Strafprozessordnung für das Deutsche Reich vom 1. Februar 1877 besagt: »§ 112. Der Angeschuldigte darf nur dann in Untersuchungshaft genommen werden, wenn dringende Verdachtsgründe gegen ihn vorhanden sind und entweder er der Flucht verdächtig ist, oder Tatsachen vorliegen, aus denen zu schliessen ist, dass er Spuren der Tat vernichten oder dass er Zeugen oder Mitschuldige zu einer falschen Aussage oder Zeugen dazu verleiten werde, sich der Zeugenschaft zu entziehen. Diese Tatsachen sind aktenkundig zu machen. Der Verdacht der Flucht bedarf keiner weiteren Begründung:

1. Wenn ein Verbrechen den Gegenstand der Untersuchung bildet; Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 erklärt § 1: »Eine mit dem Tode, mit Zuchthaus, oder mit Festungshaft von mehr als fünf Jahren bedrohte Handlung ist ein Verbrechen.«

2. wenn der Angeschuldigte ein Heimatsloser oder Landstreicher oder nicht im Stande ist, sich über seine Person auszuweisen;

3. wenn der Angeschuldigte ein Ausländer ist und gegründeter Zweifel besteht, dass er sich auf Ladung vor Gericht stellen und dem Urteile Folge leisten werde.

§ 113. Ist die Tat nur mit Haft oder Geldstrafe bedroht, so darf die Untersuchungshaft nur wegen Verdachts der Flucht und nur dann verhängt werden, wenn der Angeklagte zu dem § 112 Nr. 2 oder 3 bezeichneten Personen gehört, oder wenn derselbe unter Polizeiaufsicht steht, oder wenn es sich um eine Übertretung handelt, wegen deren die Überweisung an die Landespolizeibehörde erkannt werden kann.«

Nach Strafgesetzbuch § 361 Nr. 3 bis 8 gehören zu den letzterwähnten Personen: Landstreicher, Bettler oder wer Kinder und Untergebene zum Betteln anleitet, ausschickt oder davon abzuhalten unterlässt, wer sich dem Spiel, Trunk, Müssiggang dergestalt hingiebt, dass er für sich oder die Seinigen zur Ernährung fremde Hilfe durch Vermittelung der Behörde in Anspruch nehmen muss, unzüchtige Weibspersonen, die, wenn sie unter Polizeikontrolle stehen, die Vorschriften verletzen, oder welche ohne unter Aufsicht zu stehen gewerbsmässig Unzucht treiben, wer aus öffentlichen Armenmitteln Unterstützung erhält und sich aus Arbeitsscheu weigert, die ihm von der Behörde angewiesene, seinen Kräften angemessene Arbeit zu verrichten und schliesslich, wer nach Verlust seines bisherigen Unterkommens binnen der ihm von der zuständigen Behörde bestimmten Frist sich kein anderweites Unterkommen verschafft hat und auch nicht nachweisen kann, dass er solches der von ihm angewandten Bemühungen ungeachtet nicht vermocht habe.«

Schon aus dem bisher Angeführten ergiebt sich, dass die zuständige Behörde um Gründe zur Untersuchungshaft nicht in Verlegenheit zu geraten braucht, besonders, wenn es sich um Personen handelt, die nicht in günstigen Verhältnissen leben. Zudem kommt noch, dass man nur zu leicht geneigt ist, in dem Beschuldigten, besonders wenn er in Untersuchungshaft genommen wurde, auch den Schuldigen zu sehen und ihn mit nachdrücklichen, oft auch von harten Worten begleiteten Fragen derart zuzusetzen, dass in manchen Fällen wohl von einer moralischen Tortur gesprochen werden kann. Zudem kommt, dass der Beschuldigte zuweilen auch von den untergeordneten Bediensteten des Gefängnisses nicht am glimpflichsten behandelt werden mag. Indes können wir alle diese Umstände weniger den offenbar vorhandenen Unzulänglichkeiten der Gesetzgebung der verschiedenen Staaten zuschreiben, als der Beschaffenheit der menschlichen Natur, die nur zu leicht geneigt ist, in jedem Beschuldigten auch den Täter zu erblicken, besonders wenn man berufsmässig mit dem Verbrecher oder Beschuldigten viel zu verkehren hat, und wenn das Gemüt durch den Anblick und durch die Erfahrung von heuchlerischer Schuld einigermassen verhärtet wird. Hoffentlich bringt die Zeit auch hierin einen Wandel und es kommt der Tag, an dem mit aufrichtiger Befriedigung gesagt werden kann: Es giebt im Rechtsverfahren keine Tortur mehr!


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