Wilhelmine Heimburg
Trotzige Herzen
Wilhelmine Heimburg

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Den alten Herrn hatte man zur Ruhe bestattet. Schon acht Tage waren seitdem vergangen, die Kinder waren noch vollzählig versammelt um die Mutter, die sich in ihren Jammer nicht zu finden vermochte, in das Leben einer Witwe. Der Leutnant und der Referendar wollten noch über das Weihnachtsfest bleiben, und es gab ja auch noch manches zu besprechen mit der alten Frau, wozu sich bis jetzt der passende Augenblick nicht gefunden hatte; Angenehmes war es natürlich keineswegs. Tante Emilie, die zwölf Stunden später als Änne in Breitenfels eintraf, gerade noch zurecht zum Begräbnis – sie hatte doch die kleine Wohnung erst versorgen müssen auf längeres Fernbleiben –, war mit Rat und Tat um die ganz aus den Fugen gekommene Schwägerin bemüht, trotzdem ihr selbst das Herz um den Goldbruder recht weh tat. Die 200 alte Frau klammerte sich krampfhaft an ihre Tochter, und Änne war so mild und geduldig, so tröstend, wie nur sie sein konnte. Sie schlief neben der Mutter, sie hörte das nächtelange Weinen und Jammern und nahm klaglos die Vorwürfe hin, daß sie gefühllos sei, wenn der Jugendschlaf sie überwältigte unter dem Stöhnen der alten Frau.

Heute fühlte sie sich, die allezeit Aufrechte, die ja doch selber so heißen Schmerz um den Vater empfand, nach einer ganz durchwachten Nacht aber so müde und ruhebedürftig, daß sie hinaufschlich in ihr kleines Stübchen und es Tante und Brüdern überließ, mit der Mutter auf ein paar Stunden allein fertig zu werden. Frau Rat war jetzt in ein neues Stadium, in das der Bitterkeit, geraten. »Wär' ich nur gleich gestorben«, klagte sie wieder und wieder, »läg' ich auch nur gleich da drunten, dann hätten meine Kinder doch die große Last nicht, die so ein armes, verlassenes, altes Tier verursacht, wie ich es bin!«

Der Leutnant, der etwas von ihrem Temperament besaß, legte das Wochenblättchen hin, in dem er gelesen, und nervös mit dem Finger seinen Halskragen lockernd, sagte er: »Von uns hat sich noch keiner beklagt, Mutter, noch keiner gesagt, daß du eine Last bist. Du mußt in deinem Schmerz auch nicht ungerecht werden.«

Es war so in der Dämmerung zwischen vier und sechs Uhr, eine Lampe brannte noch nicht, draußen stöberte der Schnee.

»Hat einer von euch gefragt: ›Mutter, wo wirst du dein Haupt hinlegen?‹« antwortete sie grollend aus ihrem Lehnstuhl am Ofen. »Keiner hat das getan. Ihr lebt hier so hin, als wäre gar nichts passiert.«

»Wenn wir das taten«, lautete die gereizte Antwort, »so geschah es nur aus Zartgefühl – wir ehrten deine Trauer. Da du nun aber von selbst darauf zu sprechen kommst, Mama, so können wir das Thema gleich erörtern. Wo ist denn Änne?«

»Oben!« antwortete Tante Emilie, »sie schläft ein bißchen. Laßt sie doch!«

Aber in diesem Augenblick klinkte die Stubentür und die schlanke dunkle Gestalt des jungen Mädchens glitt wie ein Schatten in das Zimmer.

»Na, da bist du ja!« sagte der Leutnant, »wir wollten dich eben rufen; man muß doch mal darüber reden, was nun werden soll.«

»Ist Mutter hier?« fragte sie, »in der Dunkelheit kann ich gar nichts sehen.«

201 »Wo soll ich denn anders sein?« stöhnte die alte Frau aus ihrer Ecke heraus.

»Setze dich nur, Änne«, eröffnete der Leutnant die Unterredung, »wir brauchen kein Licht. Es ist eben von Mutter die Frage aufgeworfen worden, was nun werden soll mit euch. In diesem Hause werdet ihr ja leider nicht bleiben können, aber in der Nähe, dächte ich, müßte es doch Wohnungen geben?«

Die Witwe begann bitterlich zu schluchzen.

»Weine doch nicht, Mutter«, tröstete Änne. »Ein Vierteljahr bleibst du jedenfalls noch hier wohnen, und nachher kommst du selbstverständlich zu mir.«

»Das heißt – du kommst zu Mutter« erklärte der Referendar, der bis jetzt geschwiegen hatte.

Änne antwortete nicht.

»Oder willst du etwa, daß sich Mutter noch auf ihre alten Tage an eine Großstadt und eine vier Treppen hoch gelegene Wohnung gewöhnen soll?«

»Dann nur lieber gleich tot!« erklärte Frau Rat. »Ach, hätte der Vater mich doch mitgenommen!«

»Aber, Mutter«, bat Änne, »werde doch nur erst ruhiger, es ist ja doch heute noch nicht nötig, einen Beschluß zu fassen!«

»Ja, ja, ich habe alles vorher gewußt! Selbst die einzige Tochter!« rief sie laut weinend.

»Mutter«, sagte jetzt das Mädchen mit fester Stimme, »wenn ich nun verheiratet wäre, würdest du dann auch verlangen, ich sollte hierher nach Breitenfels kommen? Nicht wahr – dann kämest du doch zu mir, ganz selbstverständlich zu mir?«

Die alte Frau hörte einen Augenblick zu weinen auf. »Du bist aber doch noch nicht verheiratet!« warf sie ein, wie ein eigensinniges Kind.

»Aber ich habe meinen Beruf, Mutter, einen Beruf, dem ich Jahre meines Lebens opferte, der mich ernährt und beglückt, an den ich gebunden bin wie an einen Mann.«

»Ah so – das geht natürlich vor!« klang es bitter.

»Aber würdest du denn von Robert oder Walter verlangen, daß sie ihren Beruf aufgeben und hier bei dir bleiben?«

»Blech!« scholl die Stimme des Referendars aus dem Winkel. Der Leutnant räusperte sich. »So bist du also auch eine von den Frauenrechtlerinnen geworden, die unser Familienleben verderben?« sagte er gereizt. »Der Beruf der Frau liegt innerhalb der Familie – die Tochter gehört zur Mutter!«

»Habe ich das bestritten?« fragte Änne. »Bis zu meinem letzten Hauch werde ich ihr gehören, ich kenne keine heiligere 202 Pflicht. Und in dem letzten Brief, den der Vater an mich schrieb, vielleicht unter der Ahnung seines Todes, da steht: ›Nicht wahr, Änne, du bleibst mit Mutter zusammen?‹ Er hätte die Mahnung nicht nötig gehabt, auch ohne sie würde meine Kindesliebe wissen, was sie zu tun hat. Aber ich meine doch, daß diejenige von uns, die nur noch ausruht vom Leben, der andern, die mitten darin steht, wirkt und schafft, die da kämpft um ihre Existenz, sich fügen würde.«

»Na also, geh doch nur«, lamentierte die alte Frau; »kannst ja gleich gehen, ich habe es dir sofort angemerkt, daß dir der Boden hier unter den Füßen brennt.«

»Lieber Gott, ich kann doch nichts dafür, daß der Vater uns keine Reichtümer hinterlassen hat«, sagte das Mädchen.

»Ja, wenn ich recht reich hinterblieben wäre, dann würdest du wohl stillsitzen bei der alten Mutter, aber so ein altes Bettelweib mit fünfhundert Mark Pension – das mag doch allein zusehen, wie es fertig wird!«

»Du hast ganz recht«, sagte Änne fest, aber merklich heiser, »eben weil wir arm sind, muß ich hinaus und darf deine fünfhundert Mark nicht noch mit aufessen, sie werden ohnehin kaum für dich langen.« Die Stimme erstickte ihr vor Aufregung und sie ging schnell hinaus.

Tante Emilies zur höchsten Empörung gereiztes Organ scholl hinter ihr her. »Seid ihr denn nur alle ganz von Gott verlassen?« rief die alte Dame. »Ist denn ein Mädchen, weil es nicht geheiratet hat, gerade nur gut genug, um dahin gestoßen und geschubst zu werden, wohin es die eigensinnige Frau Mutter und die freundlichen Herren Brüder für gut befinden? Hat sie sich dafür gequält mit ihren Studien, Tag und Nacht, um fortan hier in Breitenfels zu versauern? Glaubt ihr denn nicht, daß sie an ihrem Beruf hängt, oder habt ihr so wenig Verständnis, so wenig Achtung vor der Kunst? Glaubt ihr denn, ihr Egoisten, ihr werdet sie vor Armut und Not bewahren können, wenn sie ihre Kräfte jetzt nicht nutzt – ihr beiden armen Teufel, die ihr selbst nichts habt – die ihr nie gegeben, nur immer genommen habt, auch die sauer verdienten Groschen des armen Mädchens!«

»Bitte, ereifere dich nicht«, unterbrach der Leutnant sie kühl, »und werde nicht ausfallend! Wer spricht denn davon, daß Änne ihr Gelerntes und ihre Kunst nicht ferner verwerten soll? Ihre Konzertreisen kann sie doch von hier aus ebensogut machen wie von Dresden aus, das ist meine Meinung.«

»Das kann sie nicht!« schrie Tante Emilie mit einer Stimme, 203 wie man sie ihr nie zugetraut hätte, »sie muß in der Kunst leben, sie muß Musik hören, gute Musik. Sie will weiter streben, weiter lernen, das geht hier nicht, und kurz und gut, ich habe das Kind ausbilden lassen und habe infolgedessen auch ein Wort mitzureden! Änne geht zurück nach Dresden, und wenn die Mutter vernünftig ist, so folgt sie ihr – wenn nicht, dann bleibt sie allein hier, oder einer von euch quittiert und zieht zu ihr, denn ihr seid ihre Kinder so gut wie Änne – das habe ich gesagt!«

Frau Rat war still vor Entsetzen, auch die beiden Söhne schwiegen. Walter, der Referendar, murmelte nach einem Weilchen: »Verrückte Weiberwirtschaft!« Als aber plötzlich das Weinen der Mutter aufs neue begann, da kam er leise herüber zu seinem Bruder und flüsterte ihm zu: »Du, laß uns mal fortgehen, ich schnappe hier über!« Und so konzentrierten sie sich beide rückwärts und gelangten unbemerkt auf die Straße.

Als Frau Rat aus ihrem Weinanfall wieder zu sich kam, stand Änne neben ihr. »Bitte, Mama, setze dich an den Tisch, es ist ein Brief gekommen – Tante bringt gleich die Lampe.« Und sie nahm freundlich die Hand der Mutter und leitete sie zum Sofa. »Mein gutes, altes Muttel«, sagte sie leise und küßte sie. Aber Frau Rat fand sich zu schwer gekränkt, sie erwiderte den Kuß ihres Kindes nicht.

Ein paar Minuten später war das Zimmer erleuchtet und die alte Frau las den Brief mit dick verweinten Augen. Es war ein Schreiben aus der Herzoglichen Kammer, wonach der Witwe des verstorbenen Medizinalrats May das unentgeltliche Wohnungsrecht in dem Hause. das sie bisher mit ihrem Manne innegehabt habe, durch des Herzogs Gnade bis an ihr Lebensende verliehen sei.

»Doch einer, der Mitgefühl hat«, sagte sie, »doch einer!«

Änne rührte sich nicht. Sie hatte eine Handarbeit genommen und nähte. Nun war ihre Sache ganz verloren, das fühlte sie.

»Ihr freut euch wohl gar nicht?« fragte die Mutter scharf.

»Ach, Mama«, antwortete Änne, »ich kann mir ja denken, wie schwer es sein muß, von einem Ort fortzugehen, an dem man so lange Jahre glücklich war! Jetzt – freilich – wirst du hier bleiben.«

»Und du also zu mir kommen?«

Änne sah sie nur groß an, und plötzlich mußte die Mutter den Blick senken vor diesen stillen, ernsten Mädchenaugen. »Es ist deine Pflicht«, murmelte sie verlegen.

»Ja, Mutter, und sie wird mir leicht werden, denn ich habe dich sehr lieb«, sagte Änne herzlich.

204 »Ich habe keine Kinder gehabt«, brummte Tante Emilie, »aber so viel verstehe ich denn doch davon, daß Pflichten immer gegenseitig sind.«

»Tante!« bat Änne.

»Was hat sie gesagt?« forschte Frau Rat mißtrauisch.

Das Klingeln der Haustür enthob Änne einer Antwort, dann brachte das Dienstmädchen eine Visitenkarte herein. »Dr. med. Lehmann, praktischer Arzt«, stand darauf.

Frau Rat wußte von ihm nur, daß er sich vor einiger Zeit im Städtchen niedergelassen hatte. Sie sagte dem Mädchen, sie lasse den Herrn Doktor bitten, einzutreten.

Änne erhob sich, um hinauszugehen, aber die Mutter rief ihr ungeduldig zu, sie solle bleiben. Tante Emilie ließ sich indessen nicht halten. Doktor Lehmann trat herein, ein junger, etwas untersetzter Herr, dem die Mensurschramme über der linken Wange gut zu der frischen Art seines Auftretens stand und dem es sichtlich schwer fiel, seinen offenen, lebenslustigen Zügen den von der Situation geforderten Ernst zu geben. Nach mehreren Höflichkeiten über den Tod des verehrten Herrn Kollegen rückte er heraus mit dem, was er wollte. Er habe gestern abend vom Rentmeister gehört, daß die verehrte Frau Rat hier wohnen bleibe. Nun komme er, zu fragen, ob vielleicht Frau Rat geneigt sei, ein paar Zimmer an ihn zu vermieten. Sie möge ja entschuldigen, daß er schon jetzt, während der tiefen Trauer, danach frage, indessen der nahe Kündigungstermin treibe ihn dazu, und in der untern Stadt seien bereits mehrere Kollegen ansässig, und Frau Rat wisse auch wohl, daß es einem Anfänger immer recht schwer gemacht werde, und so hoffe er –

Änne stand plötzlich auf und ging hinaus. Es war ihr peinlich, zu hören, wie seine Bitte abgelehnt wurde, und daß die Mutter ablehnen würde, glaubte sie bestimmt. Sie setzte sich, in ihren Schmerz versunken, in der Küche auf den Stuhl am Herd, auf dem sie schon als kleines Mädchen so gern gesessen hatte, um in die zuckenden, spielenden Flammen zu schauen. Sie hatte so oft in Dresden von diesem traulichen Plätzchen geträumt. Heute wanderten ihre Gedanken von hier nach Dresden, in ihr liebes kleines Heim unterm Dach, wo sie so viel gelernt hatte, unter anderem auch, wie man sein törichtes, sehnsüchtiges Herz bezwingt, wie man zufrieden wird. – Fahr wohl, du schönes Leben voll Arbeit und frischer Schaffenskraft! Was wird ihre Lehrerin sagen? Was alle die Konzertunternehmer, denen sie sich verpflichtet hatte auf ein Jahr hinaus? Ein Weilchen würde es ja gehen von hier 205 aus, aber dann – dann würde es heißen, die May schreitet nicht mehr vorwärts, dann wird sie so langsam verschwinden aus dem Gedächtnis der Arrangeure und des Publikums, und dann fängt die große Öde und Einsamkeit an. Sie würde dann hier Gesangstunden geben, den Töchtern der Ökonomen aus der untern Stadt und von den umliegenden Gütern, die wollen dann Lieder von Abt singen und werden Brahms scheußlich finden, und wenn's Glück gut ist, darf sie bei ein paar Konzerten in der Kreisstadt mitwirken.

Tante Emilie trat zu ihr. »Verliere den Mut nicht, Kind! Man ißt nichts so heiß, wie es gekocht wird.«

Änne nickte. »Ich hab's dem Vater versprochen, Tante, und Mutter kann auch nicht immer allein sein. Ich dachte nur, sie hätte mich so lieb, daß sie – – aber es ist wahr, es ist ein unbilliges Verlangen von mir gewesen.«

»Laß nur«, tröstete die Tante, »ich bin alt und bleibe bei ihr, und du bist ein verständiges Kind, du gehst allein ins Leben hinaus. Sie werden sich das alles noch überlegen, die Mutter und die dummen Jungen dazu. Die haben's doch gern genommen, wenn du ihnen was schicktest, und werden's vermissen.«

Änne schüttelte den Kopf. »Nein, Tante, ich will der Mutter den Lebensabend nicht verbittern, es war ja nie nach ihrem Sinn, daß ich hinausging. Sie hat immer Kummer um mich gehabt.«

»Natürlich, du solltest heiraten und tatest es nicht.«

Änne seufzte. »Reden wir nicht mehr davon, Tante!« bat sie.

Nun hörten sie, wie die Stubentür ging und wie die Mutter den Gast hinausbegleitete. Nach einem Weilchen trat sie in die Küche. Es lag auf ihrem Gesicht zum erstenmal wieder ein Ausdruck, der an die tätige wirtschaftliche Frau von früher gemahnte.

»Ich habe die Zimmer vom Vater vermietet«, sagte sie, »Neujahr zieht er ein. Natürlich – vorbehaltlich der Genehmigung der Herzoglichen Kammer.«

Änne erbleichte. »Vaters Zimmer – vermietet?« stotterte sie, »Vaters Zimmer?«

»Mit den Möbeln – was soll man machen, um durchzukommen?«

Keine der beiden Überraschten antwortete; Änne verstand ihre Mutter nicht. Eben noch der Kampf um ihr Dasein, jetzt das schnelle Preisgeben der Wohnräume des Verstorbenen an einen Fremden – –

»Es ist doch besser, ich habe einen Schutz im Hause«, fuhr 206 die Rätin fort, »als wenn wir Frauensleute so allein wohnen –« und sie schalt zum erstenmal wieder auf das kleine Dienstmädchen, weil der Wasserkessel beinahe leer auf dem Feuer stand. In ihrem Herzen war wieder eine Hoffnung aufgegangen – der Doktor hatte Änne so bewundernd nachgeblickt, als sie hinausging.

Änne aber stieg hinauf in ihr Stübchen. Sie lehnte die Stirn an die Scheiben, und Tränen flossen ihr aus den Augen, so daß das einsame Licht in dem Erkerfenster des Schlosses droben zu allerlei Gestalten verschwamm vor ihren Blicken. Und der dort bei dem Lichte saß – der war noch unglücklicher als sie.

Und auf einmal erfaßte sie ein törichtes, riesengroßes Verlangen, neben ihm zu sitzen, den Kopf gegen seine Schulter zu legen und unter Tränen zu sagen: »Ach, wir beide, Heinz, wir beide – was ist aus uns geworden!« Aber dann würde er sie ansehen, so gleichgültig und kalt und fremd wie am Begräbnistage.

Es fror sie plötzlich, die kleine Änne May, und sie schlich hinunter in die Wohnstube zu Mutter und Geschwistern und saß da mit wehem Kopf und hörte, wie die Brüder es sehr vernünftig fanden, daß Mutter den Doktor als Mieter angenommen hatte.

Und in dieser Nacht weinte die alte Frau nicht, zum erstenmal nicht seit dem Tode ihres Mannes, sie schlief.


Hede Kerkow konnte es nicht lassen, sie trug die kleinen Sächelchen, die sie für die Kinder gearbeitet hatte, am Heiligen Abend in der Dämmerung nach der Oberförsterei hinunter. Sie wußte, der Oberförster war nicht zu Hause. Er pflegte an diesem Tage immer noch mal einen Gang durchs Revier zu machen, den Wilddieben zum speziellen Vergnügen, die auf einen Festtagsbraten pirschten. Es gab dort ein paar arg verrufene Kerle in der Gegend, die aber, wenn sie dem Oberförster auf der Chaussee begegneten, ganz besonders höflich grüßten und deren Gruß von ihm leutselig erwidert wurde. Der Grüßende dachte dann: Hol' dich der Teufel! Der Kerl hat die Nase überall – ich wollt', er fiele in sein eigenes Gewehr! – Und der andere dachte: Warte nur, alter Freund, einmal krieg' ich dich doch, und wenn du noch so unschuldig daher trottest und – dann gnade dir Gott!

Hede hatte zuweilen durch den alten Knecht des Hauses grausige Geschichten von Wilddiebereien gehört, und als am 207 vergangenen Weihnachtsabend der heimkehrende Oberförster erzählte, daß der »lange Schreiber« wieder wildere und, vom Förster Roberti verfolgt, auf diesen geschossen habe, da hatte ihr das Herz stillgestanden vor Schrecken. »Aber wenn der Schuß nun getroffen hätte?« war ihre bange Frage gewesen. Darauf die Antwort: »Je nun, Fräulein von Kerkow, dann hätte man den armen Kerl seiner Frau zur Weihnachtsbescherung tot oder verwundet ins Haus gebracht, und der erste wär's nicht gewesen, dem es so erging.«

Weiter nichts – aber es war gerade genug. Hede Kerkow hatte seither immer Unruhe gehabt, wenn der Oberförster nicht zur rechten Zeit heimkehrte. Es wäre so schrecklich für die armen Kinder gewesen – damit hatte sie ihr klopfendes Herz entschuldigt vor sich selber. Heute ging sie so gegen fünf Uhr hinunter in die Oberförsterei. Sie wollte ganz rasch unter die Kinder ihre kleinen Gaben austeilen und dann in der Schloßkirche die Weihnachtspredigt anhören.

Heinz hatte seinem armen Jungen bereits um vier Uhr einbeschert. Die Augen des kranken Kindes hingen mit anderem Ausdruck an den Lichtern des Baumes wie sonst wohl Kinderaugen. Und Heinz? Er war wortkarger gewesen als je und hatte im dunklen Erker gestanden und hinausgeblickt in die Ferne, als ob er dort etwas suchen müßte, so daß Hedwig zum erstenmal der Gedanke aufgestiegen war, ob er Toni doch vielleicht geliebt habe.

Heinz hatte der Schwester auch etwas geschenkt – Geld zu einem Kleide oder Mantel oder dergleichen.

»Nimm's nicht übel. Es ist mir schrecklich, Frauenzimmern Geschenke zu kaufen, ich versteh's nicht«, hatte er gesagt. Die Gabe von ihr hatte er kaum angesehen, es war ja auch schließlich weiter nichts – ein Bildchen, Heinis Köpfchen, nach einer Photographie auf Porzellan gemalt. Lieber Gott, eine Künstlerin war sie natürlich nicht, aber sie hatte doch gemeint, er werde sich darüber freuen!

Sie wischte eine Träne von der Wange, als sie jetzt den Drücker an der Haustür der Oberförsterei faßte, und im nächsten Augenblick hatte sie wirklich unter dem Jubel der Kinder das eigene Leid vergessen. Als ob das Christkind in eigener Person erschienen sei, so glücklich waren die Kleinen, so umarmten, umschrien und umtanzten sie die langersehnte, böse, liebe Tante in der alten lieben Wohnstube, in der es gleichwohl nicht die Spur weihnachtlich aussah. Auch Karoline lief herzu und freute sich. »Nee, endlich mal – endlich mal, Fräulein, und wie wird sich man bloß der Herr freuen, wenn er 208 zurückkommt! Und Sie bleiben doch zum Karpfen? Ich hab's immer noch nich 'raus mit die Meerrettichsauce.«

Aber die Kinder erklärten, sie ließen die Tante nicht in die Küche, und die Tante müsse helfen, den Weihnachtsbaum putzen in der guten Stube, Agnes hätte das tun sollen, aber die Lichter purzelten immer wieder herunter. »Gelt, Tante«, scholl es, »du bleibst hier?« und dann umschlangen sie die sechs Ärmchen und die glücklichen Kinderaugen lachten sie an, und was wurde ihr alles versprochen, wenn sie bliebe!

»Das Schönste, was ich bekomme, gebe ich dir«, versicherte der Junge, »zur Hälfte wenigstens«, setzte er geschwind hinzu. Und klein Mariechen erklärte: »Ich nehme Vater das Seifenfleckel wieder fort und schenke es dir, wenn du bleibst« Und ihr? Ihr liefen die dummen Rührungstränen aus den Augen, und sie sagte nur: »Kommt rasch, ich putze den Baum; – dableiben kann ich aber nicht, denkt doch an den armen kleinen Heini!« Im Salon zündete sie die Lampe an, auf welcher der Staub fingerdick lag, und schürte das Feuer, denn noch war es längst nicht warm. Dann machte sie sich mit fieberhafter Eile über den Baum her. Die Kleinen standen mit glühenden Gesichtern und sahen zu, Agnes reichte das Konfekt und die Wachslichter. Als er hergerichtet war, holte Hedwig ein Tuch und wischte den Staub so hastig, als täte sie etwas Verbotenes, bei dem sie sich um Gottes willen nicht abfassen lassen dürfte. In zitternder Hast legte sie dann ihre kleinen Geschenke unter den Baum, nachdem sie vorher die Kinder hinausgesperrt hatte, und wie ein Wirbelwind war sie plötzlich in der Küche und quirlte die Sahne zur Karpfensauce.

»Wann kommt der Herr zurück?« fragte sie dabei.

»Ach, das kann spät werden«, meinte der alte Knecht, »er wollte ins Buchroder Revier und ist hingeritten.«

Hede warf einen Blick auf die Uhr, es war noch nicht halb sechs. »Ich muß um sechs Uhr fort, Karoline. Ich muß noch in die Kirche«, sagte sie. »Merk auf – vor dem Anrichten tust du den geriebenen Meerrettich in die Sauce, das ist alles.«

»Ach Fräulein, warten Sie doch noch einen einzigen Augenblick, ich hab' so 'n nötigen Gang«, bettelte das Mädchen; »nachher sind die Läden alle zu und ich möchte so gern noch einen Schal kaufen für meinen Fritz und kann die Kinder doch nicht allein lassen!«

»Ja, aber liebe Karoline, dann rasch!« Und Hede setzte sich ganz nervös auf den Küchenstuhl. »Bitte, rasch, Karoline!« wiederholte sie.

»Aber wie ein Hase laufe ich«, rief das Mädchen, nahm den 209 flanellgefütterten Kattunmantel und stürzte hinaus, als ob es brennte.

Draußen sagte sie vor sich hin, indem sie ihre Eile mäßigte. »Na, warten Se man een beten, bis der Herr Oberförster nach Hause kommt – ick hab' kein' Il.« Und als sie nach einer längeren Weile zurückkehrte, saß Fräulein von Kerkow noch da und sah mit gefurchter Stirn vor sich hin und hatte gar nicht gemerkt, daß Karoline eine geschlagene halbe Stunde fortgewesen war.

»Es ist noch viel Zeit bis zur Kirche«, sagte das Mädchen, »ich danke auch schön, Fräulein von Kerkow. Ein Paar Strümpfe habe ich auch noch rasch gekauft für den Fritz.«

Hede erhob sich. »Holen Sie mir Hut und Mantel, Karoline, ich will jetzt gehen. Den Kindern sage ich nicht Gute Nacht, sie fangen sonst wieder an zu quälen.«

»Herrjeh! Na, ja«, meinte das Mädchen, »ich wundere mich überhaupt, daß sie so still sind. Sie werden wohl am Fenster stehen und auf den Vater passen. – Fräulein, ich gehe gleich und hole den Mantel, will nur erst mal nach dem Feuer sehen.«

Und sie ergriff einen Armvoll Holz und schob es bedächtig, Stück für Stück, unter den Herd.

Da klingelte es. Hede Kerkow aber verharrte noch regungslos auf dem nämlichen Flecke. Natürlich war er es. Der Knecht hinkte über den Flur ihm entgegen, Karoline aber begann eine vorwurfsvolle Rede: »Und das wäre doch mal 'ne Upmunterung gewesen vor den armen Mann, der sowieso nichts nich auf der Welt hat. Bleiben Sie doch man dies einzige Mal da, Fräulein, es ist ja doch Weihnachten und die Bälger sind doch rein vom Bändel los vor Vergnügen!«

Hede Kerkow stand da, wie wenn man sie beim Stehlen ertappt hätte, und wartete auf den Augenblick, da die Tür zu des Oberförsters Zimmer gehen sollte, um dann unbemerkt zu entwischen. Aber da drangen schon die Stimmen der Kinder aus dem Hausflur herüber, die den Vater mit der Jubelbotschaft empfingen: »Die Tante ist da, Vater! Um fünf Uhr ist sie gekommen! Sie will nicht hierbleiben, aber du läßt sie nicht fort – gelt, Vater?« Und dann lief Karoline zur Küchentür, riß sie auf und schrie: »Hier is die Tante!«

Hede Kerkow sah ein, daß sie gefangen war. Sie wollte wenigstens einen ehrenvollen Rückzug antreten, und deshalb ging sie ruhig dem Oberförster entgegen, der da inmitten seiner Kinder noch in Flausch und Mütze stand, auf denen die Schneeflocken lagen wie auf den Weihnachtsmännern in den Spielwarenläden der Eisflimmer.

210 »Ich will nicht lange stören«, sagte sie freundlich, »ich möchte zur Kirche gehen. Es freut mich, daß ich Ihnen noch ein frohes Fest wünschen kann.«

»Danke, Fräulein von Kerkow! Es tut mir nur leid, daß Sie mir nicht die Freude machen wollen, den Heiligen Abend mit uns zu verleben.« Er nahm die Mütze ab und setzte sie seinem Jungen auf, dann zog er den Flausch aus und warf ihn Agnes über den Arm. »Einen Augenblick aber treten Sie doch wohl ein«, bat er, »sonst muß ich wahrlich denken, daß Sie gehen, weil ich komme.« Und als die Kinder eilfertig die Sachen fortschleppten, wandte er sich der Wohnstube zu.

Da rief Agnes zurück: »Dort darfst du nicht 'rein, Vater, dort liegen ja unsere Geschenke für dich!«

Nun machte er gehorsam kehrt und schritt nach seiner Stube. »Ich bitte, hier vorliebzunehmen«, sagte er.

Einen Augenblick zögerte sie, dann folgte sie ihm.

Er ging zum Schränkchen, auf dem die Lampe stand, zündete sie an, trug sie auf den Tisch und bat Hede, auf dem Sofa Platz zu nehmen.

»Es ist noch ebenso hier, wie Sie sehen«, sagte er und lächelte ein wenig melancholisch. Und dann saß er ihr gegenüber, starrte auf die verblichene Tischdecke, mit deren Fransen er spielte, und schwieg. Und Hede schwieg auch, und beiden klopfte laut das Herz. Von draußen schollen noch einmal die Stimmen der Kinder herein, dann wurde es ganz still.

Karoline hatte sie in die Küche gerufen, »die Bälger«, wie sie sich ausdrückte, und da sagte sie: »Nu hört mal zu! Wir gehen alle in die Kirche – den großen Christbaum am Altar, den müssen wir sehen. Unterdes baut Vater auf und Tante hilft ihm.« Karoline war auf einmal Diplomatin geworden. Jetzt oder nie! dachte sie. Und im Umsehen war sie fertig mit ihrer Schar und zog zur Haustür hinaus, nachdem sie über die »ollen Karpen«, die noch lustig im Faß plätscherten, ein Brett gedeckt hatte. »Und achten Sie aufs Feuer, David«, sagte sie zu dem alten Knecht, »und wenn der Herr uns sucht – wir sind man bloß ein bißchen in die Schloßkirche gegangen.«

Unter dem Geläut der Glocken stiegen sie den Schloßberg hinan und traten in das Gotteshaus, in dem es heute so feierlich war wie nie. Die großen Kronleuchter brannten und die Jungen aus der Realschule sangen:

»O du fröhliche, o du selige,
Gnadenbringende Weihnachtszeit!«

Es hatten sich viele Leute dort versammelt, nur Tante Hedes Platz im Nachbargestühl, der dem Herrn Schloßhauptmann 211 gehörte, gerade unter der herzoglichen Empore, war leer. Karoline verwandte kein Auge von dem kleinen Türchen, das in dieses Betstübchen führte, aber es blieb geschlossen, kein Fräulein von Kerkow kam über die Schwelle, und auch der Herr Schloßhauptmann fehlte.

Der Prediger trat auf die Kanzel. Die drei Blondköpfe vor Karoline lauschten mit großen gläubigen Kinderaugen, und das arme Dienstmädchen hinter ihnen hatte unter ihrem großen Tuchmantel die Arbeitshände gefaltet und hielt einen Gottesdienst für sich. Sie betete: »Lieber Gott, ich will ja nichts für mich, ich bin ja soweit zufrieden, aber mach's doch richtig mit denen da drunten. Gut sind sie sich, das ist sicher, und der Mann wird ja noch ganz quatsch so allein in dem ollen großen Hause. Von die Kinder gar nich zu reden, die verwildern ganz und gar. Ich kann doch nich ewig dableiben, denn Fritze hat nun die Wildhüterstelle und will doch auch 'ne warme Suppe haben abends, wenn er nach Hause kommt, und Ostern will er nu mal partuh heiraten. Wenn er aber nich heiratet, denn wird's nichts. Ich kann ihn doch nich sitzen lassen mit 'n neues Mädchen, die nich aus und nich ein weiß, und Agnes ist doch man in der Wirtschaft 'ne richtige Null! Mach's richtig, lieber Gott, schenk dem Mann die Frau und den Kindern die Mutter zum Heiligen Christ! Amen!«

Der Prediger sprach endlich auch sein »Amen«! Jubelnd erscholl der alte Weihnachtsgesang:

»Lobt Gott, ihr Christen, allzugleich!«

durch die Kirche, und Karoline nahm Mariechen bei der Hand, die Großen gingen voran. So schoben sie sich durch die Menge aus dem Portal auf den Schloßhof hinaus.

Gottlob, das Betstühlchen war leer geblieben!

»Der Vater ist in seiner Stube«, rief Agnes, »siehst du, Karline, der hat 's Weihnachten vergessen!«

»Wart doch ab, du«, brummte das Mädchen, »und lauf mal nicht so! Herr Jesses, du wirst noch fallen, bei die Glätte!« Aber sie selber hatte eine Art Geschwindmarsch eingeschlagen, und jetzt lief sie förmlich um die Wette mit den Kindern dem Hause zu. »Willst du wohl, dummer Bengel! Wir gehen über den Hof«, rief sie, und so kamen sie wieder durch die Hintertür. Der alte Knecht saß am Küchenherd und schlief.

»'n Abend!« schrie Karoline ihm in die Ohren. »Hat der Herr nicht gerufen?«

»Nee, ich hab' nichts gehört.«

»Ist er fortgegangen?«

212 »Is mich nich bewußt.«

»Weil du slapen hast, oller Dööskopp«, erklärte Karoline, »dat Füer is och ut. Nu seid ihr ganz still«, wandte sie sich an die Kinder, »ich denk' mir, der Vater is schon in der guten Stube beim Christkind – ich will mal nachsehen.«

Und damit ging dies drollige, gute, dummdreiste Menschenkind in die Schlafstube des Oberförsters, hob den Vorhang vor dem Türfenster und lugte in ihres Herrn Zimmer. Sie hätte beinahe einen Jauchzer ausgestoßen, aber sie besann sich noch, biß sich auf den Finger und focht mit den Armen wie toll in der Luft herum, vor Wonne über das, was sie sah. Dann schlüpfte sie leise davon – »Gott sei Lob und Dank!«

»Kinders«, sagte sie mit verschmitztem Lachen, »ihr müßt heut noch warten. Vater hat noch keine Zeit, aber dafür kriegt ihr auch ganz was Apartes zum Heiligen Christ.« Die Kinder machten erwartungsvolle Gesichter und fügten sich, vorläufig interessierte sie die Zubereitung der Karpfen. Aber das Wasser brodelte längst auf dem Herde und noch immer war eine Totenstille im Hause. Da riß Karoline die Geduld.

»Nu kommt, Kinders – was zu doll is, is zu doll! Es soll doch einer über so 'n bißchen Liebesglück nich seine leibhaftigen Würmer am heiligen Weihnachtsabend vergessen!«

Und umringt von ihnen, schritt sie zur Tür der Stube des Herrn Oberförsters und klopfte mit hartem Finger, und Hermann donnerte mit den Fäusten dagegen.

»Vater! Vater!« schrien die Mädchen, »es ist beinah' acht!«

»Herein!« scholl es, und da stürmten sie hinein, und mit Ausnahme von Karoline, die ja nicht mehr überrascht werden konnte, blieben sie mit offenem Mund und starren Augen stehen. Da saß der Vater auf dem Sofa und neben ihm, ganz rot, ganz verweint und doch lächelnd, ihre Hand in des Vaters Hand, ihren Kopf an seiner Schulter, die Tante – die Tante Hede. Und Karoline flüsterte dem Mariechen etwas ins Ohr und verschwand dann, die Tür hinter sich zuziehend. Das Kind stand noch einen Augenblick, dann lief es zu Hede, die es lachend und weinend auf den Schoß hob.

»Ist's wahr, daß du meine Mama wirst?«

»Ja! Ja! Kommt her!« rief der Oberförster. »Die Tante will es, sie will bei uns bleiben – das schenke ich euch zu Weihnachten, Kinder, eine neue Mama, eine Mutter!« Und er stand auf und hob seinen Jungen empor und setzte ihn neben Hedwig, und dann zog er seine Älteste heran. »Dir hat sie am meisten gefehlt, Große, freust du dich denn auch?«

213 Das Kind aber barg den Kopf an des Vaters Brust und fing an zu weinen.

»Ich hab' mir's doch schon zum Geburtstag gewünscht«, sagte sie.

»Und nun hört! Heute abend bringt das Christkind euch nichts. Ich will Tante Hede hinaufbegleiten, sie muß ihrem Bruder erzählen, daß sie eure Mutter werden will. Aber morgen, dann zünden wir beide euch den Baum an. Ihr werdet nachher recht vergnügt und artig zu Bette gehen und euch auf morgen freuen.«

In Anbetracht der neuen Mama wurde die hinausgeschobene Christbescherung genehmigt, und nach einigen Minuten gingen Oberförster Günther und Hede Kerkow nebeneinander durch die Dunkelheit der Heiligen Nacht. Droben im Erker brannte das einsame Lichtlein wie immer. Im Doktorhause war alles dunkel, nur über ihnen flammten die Sterne, diese ewigen Weihnachtslichter. Er hatte ihre Hand genommen und atmete hörbar.

»Hede«, sagte er gepreßt, »mir ist, als habest du Schweres zu überstehen heute – dein Bruder –«

»Sei ohne Sorgen – er braucht mich nicht«, antwortete sie. Aber auch ihr klopfte das Herz.

Dann nahmen sie Abschied für heute abend. »Ich danke dir! Ich danke dir«, sagte er leise, »mögest du es nie bereuen!«

»Ich danke dir«, antwortete sie hell und fröhlich. »Du weißt nicht, du weißt ja nicht, wie arm und heimatlos ich war, wie reich ich jetzt bin, wie lieb ich dich habe!«

Er wollte sie an sich ziehen, aber sie hielt ihn zurück. »Mehr als du mich!« setzte sie leise hinzu, »viel mehr!«

»Nein!« sagte er.

»Wirklich?«

»Ja, Hedwig! Ich habe dir ja alles gebeichtet; du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich nach dir gesehnt habe, all die Zeit her.«

»Aber –?« Sie wandte den Kopf und sah bang zu dem dunklen Hause hinunter, in dem sie Änne wußte.

»Das? Das ist ausgekämpft, Hede, und jetzt ist's klar in meiner Seele. Und so ruhig, so tief innerlich froh und friedlich fühle ich mich.«

»Leb wohl«, flüsterte sie gerührt, »auf morgen! Leb wohl!«

Sie sahen sich ein Weilchen in die Augen, dann zog er sie an sich und küßte sie.


214 Heinz, der sonst kaum sah und hörte, ob die Schwester im Zimmer sei oder nicht, vermißte sie heute. Vielleicht waren die Kerzen des Weihnachtsbaumes schuld daran, daß er die Zusammengehörigkeit mit ihr wieder fühlte, die Erinnerung an die süße, gemeinsam verlebte Kinderzeit! Er wartete, zuerst ungeduldig; dann wurde er unruhig. Einigemal pochte er an die Tür ihres Zimmers – vergebens.

Wundern konnte er sich nicht, wenn sie eine wärmere Atmosphäre aufsuchte als die, welche hier herrschte. Indessen heute, heute am Weihnachtsabend? Und wo mochte sie sein? Vielleicht bei Mays? Aber es sah ihr gar nicht ähnlich, sich an solchen Festtagen in intime Familienkreise zu drängen. Möglicherweise hatte sie ein paar Arme, denen sie bescherte. Er erinnerte sich, daß sie immer nähte und strickte in letzter Zeit, wenn er sie sah. Es konnte auch sein, daß sie bei ihren ehemaligen Pfleglingen war. Lieber Gott, warum auch nicht, wenn's nur nicht gerade heute gewesen wäre!

Das alte Schloß war so spukhaft still an diesem Abend. Das Dienstmädchen saß vermutlich beim Punsch in der Dienerstube, die im Souterrain lag.

Eine Viertelstunde lang hatte das mächtige Geläute der Schloßkirche das Zimmer durchtönt, und ihn hatte es unterhalten, die Kirchgänger den Berg hinaufsteigen zu sehen. Heini war schrecklich müde vom Bilderbesehen. Heinz hatte ihm, da anderes Spielzeug dem Kinde nicht zusagte, ein ganzes Dutzend der heißersehnten Bilderbücher geschenkt. Nun sollte er ihm etwas erzählen und konnte doch vor Unruhe kaum stillsitzen. Im Auf- und Abgehen sprach er, wie unter einem inneren Zwange, von den Weihnachten seiner Kinderjahre, wie Otti und Hede ihn, den Kadetten, vom Bahnhof abgeholt hätten nach Hause, wo Berge von Kuchen ihn erwarteten, und wie sie alle drei so gar nicht gewußt hätten, was anfangen bis zu dem heißersehnten Glockenzeichen.

»Warum ist Tante Otti nicht bei uns?« fragte Heini.

»Sie ist krank.«

»Was fehlt ihr denn?«

»Das verstehst du nicht, mein Liebling.«

Der Kleine schwieg, und Heinz dachte weiter an die Zeiten, da er sich so wohl gefühlt hatte unter den Verhätschlungen seiner Schwestern, besonders Hedes. Die war geradezu erfinderisch gewesen in Liebesbeweisen. Wie hatten sie beide miteinander getollt, gelacht. Wie ernsthaft hatte sie davon gesprochen, ihm dereinst die Frau auszusuchen, und mit welch rührender Bereitwilligkeit gab sie ihm die paar Groschen ihres 215 Taschengeldes, wenn Ende des Monats nichts mehr in seinem Portemonnaie war! Und jetzt – jetzt redeten sie kaum miteinander, und am Weihnachtsabend war sie nicht daheim. – –

Es war seine Schuld, das fühlte er deutlich. Er war im Unrecht! Er stößt das Beste, was er, nächst seinem Kinde, noch im Leben hat, mutwillig von sich. – – Wenn sie nachher kommt, dann will er sie umfassen und sie bitten, Geduld mit ihm zu haben, will sie bitten, ihm zu helfen, das Leben weiterzutragen. Er will ihr alles gestehen, wie und warum er gelitten, wie er gearbeitet, wie er den Mut zu weiterem Schaffen verloren hatte. Er will sich an ihr, an dem treuen Schwesterherzen wieder aufrichten. Er ist so weich gestimmt wie einst vor Jahren, als sein Kinderauge in den Glanz des Weihnachtsbaumes schaute.

»Möchtest du, daß Tante Hede bald kommt?« unterbricht Heini des Vaters Gedanken.

»Gern, Heini, und weißt du, dann wollen wir Tante bitten, daß sie abends immer bei uns bleibt.«

»Ja, Papa. Warum tatest du das nicht schon lange?«

Heinz wurde verlegen. »Tante hatte Weihnachtsarbeiten«, sagte er unsicher. »Sieh mal, sie hat dich gemalt und hat dir die hübsche Bluse genäht. Aber nun wollen wir sie bitten, daß sie bei uns bleibt, und dann lesen wir und spielen Halma, und das Pianino schieben wir hier herein und Tante singt uns Lieder vor – möchtest du das?«

»Freilich, Papa«, antwortete der Kleine und seine Augen glänzten. Und dann klopfte es plötzlich und gleich darauf trat Hede ein.

Heinz erwiderte ihren »Guten Abend!« nicht, er sah sie nur groß an, erstaunt, befremdet. So hatte sie ausgesehen vor fünfzehn Jahren, so rosig, so jung, so hübsch. Eine Strähne der dunklen Scheitelhaare hatte sich gelockert und hing ihr über die Stirn. Die Lippen, die sonst einen so herben Zug hatten, ließen nun im halb verlegenen Lächeln die weißen Zähne durchblitzen – wie ein Wunder erschien sie ihm.

»Heinz, bist du böse?« fragte sie und ging zu ihm hinüber und erfaßte seinen Arm.

Er schüttelte den Kopf.

»Hast du auf mich gewartet?«

»Ja«, sagte das Kind anstatt des Vaters, »sehr haben wir gewartet, und wir wollten dich um etwas bitten.«

Sie blickte von einem zum anderen und ihr Lächeln erstarb.

»Wir wollten dich bitten, Tante, daß du jetzt immer abends bei uns bleibst. Es ist nicht schön, wenn du drüben allein 216 sitzest, sagt Papa, und das Klavier schieben wir auch hierher.«

Hede antwortete nicht, sie sah nur fragend auf Heinz. Auch er hatte eine Frage in seinen Augen, und auf einmal färbte ein Purpurrot ihr Gesicht.

»Heinz«, begann sie endlich, zu ihm tretend und die Hand auf seine Schulter legend, »Heinz, ich muß dir eine Mitteilung machen. Sieh, Heinz – ich – du weißt ja, wie arm ich bin an einem bißchen eigenen Glückes – oder, du weißt es nicht, nein – du weißt es ja nicht! Und da hat mich der Zufall, oder die Not – wie du willst – in das Haus getrieben, wo ich nun doch noch – nicht ein bißchen – nein, ein ganzes Übermaß von Glück finden sollte. – – Heinz, ich habe es genommen, als es mir entgegengebracht wurde heute, ich konnte es ja nehmen, ich bin frei, ganz frei, denn du – du brauchst mich nicht – ich hab's gemerkt während des halben Jahres meines Hierseins. Und so bin ich jetzt Günthers Braut.«

Er war sehr blaß geworden, er trat auch unwillkürlich einen Schritt von ihr fort, so daß ihre Hand von seiner Schulter sank. Dann aber, als er in ihre Augen sah, ihre erschreckten, ängstlich erweiterten Augen, faßte er nach ihrer Rechten.

»Du hast recht getan«, sagte er gepreßt, »sehr recht. Ich gratuliere dir, Hede, von ganzem Herzen!«

»Er will morgen bei dir anfragen, um – –«

»Laß doch!« murmelte er, sie unterbrechend. »Du bist doch dein eigener Herr, Kind! Aber – natürlich ist er mir willkommen, sehr willkommen – selbstverständlich! Und wenn ich dir sonst irgendwie nützlich sein kann, Hede, du weißt ja – du hast recht getan, sehr recht!« Er hielt ihr die Hand hin. »Ich bin müde, ich habe ein wenig Kopfweh, schlaf wohl und träume glücklich! Gute Nacht, Hede!«

Sie ging, ohne ein Wort, ganz erschüttert, hinaus.

»Will die Tante nicht hierbleiben, Papa?« fragte Heini nach einer Weile, der nicht verstanden hatte, was die Unterhaltung bedeutete.

»Nein, Heini«, sagte er und die ganze schneidende Bitterkeit seiner Seele brach aus den Worten, »nein, Heini. Sie hat die kleinen Günthers lieber als uns, sie will ihre Mama werden.«

Zum zweitenmal war er zu spät gekommen mit seinen guten Vorsätzen. Und er küßte seinen Jungen – der wenigstens blieb ihm.


Die Nachtigallen sangen wieder im Park von Breitenfels. Sie waren zahlreicher gekommen als je, denn nichts störte sie 217 mehr in diesen verlassenen Fürstengärten. Im Frühjahr hatten die Herrschaften mit dem kranken Erbprinzen herkommen wollen, aber die Ärzte waren dagegen gewesen. Die Luft sei zu herb, die Lage zu hoch für seine kranken Lungen. So hatte man denn eine Villa gemietet in Badenweiler und hoffte dort auf ein Wunder. In Breitenfels blieben die Läden geschlossen und die Möbel verhängt. Die Schloßwache gähnte auf ihrem Posten, die paar Beamten gähnten in den Büros wie die wenigen Bediensteten ebenfalls, und auch die zwei Braunen im Stalle gähnten auf ihre Weise. Dabei standen sie sich die Beine steif, wie der Kutscher versicherte, denn der Herr Schloßhauptmann scheine ganz und gar vergessen zu haben, daß er über die Equipage verfügen könne. Das letztemal waren sie in Geschirr gegangen, als Ostern die Schwester mit dem Herrn Oberförster Hochzeit gemacht hatte.

War auch eine Hochzeit gewesen! Um zehn Uhr früh getraut in der Kirche in Gegenwart des Herrn Schloßhauptmanns und des Rentmeisters, keine Seele sonst. Dann stehenden Fußes droben im Zimmer des Schloßhauptmanns ein Glas Champagner, ein belegtes Brötchen, und das junge Paar stieg in den Wagen, um nach der neuen Heimat zu fahren. Der Oberförster war nämlich zu Neujahr plötzlich nach Wolsrode, einem einsamen Jagdschloß inmitten ausgedehnter Waldungen, versetzt worden, nicht allzuweit von der Residenz. Und drunten in der Oberförsterei saß ein anderer, ein neugebackener, eben verheirateter Oberförster, der sich und sein junges Eheglück förmlich vergrub in dem großen Hause, und den die Breitenfelser ebensowenig zu Gesicht bekamen wie den Schloßhauptmann droben.

Im Doktorhause wohnte der neue Arzt. Er hatte es nicht zu bereuen, dort eingezogen zu sein, der Herr Doktor Lehmann. Nicht nur, daß es auf der ganzen Gotteswelt keine sauberere, freundlichere Wohnung gab mit so ausgezeichnetem Kaffee und stets frischer Butter, mit einer so mütterlich freundlichen Wirtin, die es verstand, die alte Kundschaft ihres verstorbenen Gatten dem jungen Nachfolger zuzuführen – nein, es war da auch noch ein besonderer Anziehungspunkt, ein schönes schlankes Mädchen, dessen große braune Augen mit einem fesselnden Ausdruck von Schwermut und Sehnsucht in die Welt schauten.

Wenn der Herr Doktor von seiner Landpraxis heimkehrte, durch den lenzgrünen Schloßgarten fuhr und das kleine Haus vor sich sah, hinter dessen spiegelnden Scheiben der Mädchenkopf sichtbar wurde, dann wurde es ihm wieder zumute, als sei 218 er noch einmal siebzehn Jahre alt und laufe als schüchterner Primaner einher, und er hatte ebensolches Herzklopfen wie zur Zeit seiner ersten Liebe.

Und er, der ein bißchen sehr flott gewesen war, der sich großgetan hatte auf der Universität im Punkte der Weiberverachtung, er machte die lächerlichsten Manöver, um einen Blick Ännes zu erhaschen. Und da dies immer mißlang, so klammerte er sich mit seinen Wünschen an die Mutter und huldigte ihr in einer so ehrerbietigen Weise, daß es der Frau Medizinalrat als Inbegriff aller männlichen Tugend und Vollkommenheit erscheinen mußte, und daß sie jeden Abend, so ähnlich wie Karoline während der Weihnachtspredigt, betet: »Lieber Gott, laß es doch etwas werden!«

Änne war recht still geworden und recht blaß. Die Untätigkeit drückte sie zu Boden. Sie hatte in der Zeit der tiefen Trauer auch nicht singen dürfen. Nur ein einziges Mal widerstand sie nicht, und da war Frau Rat so fassungslos und erschüttert gewesen von der Pietätlosigkeit der Tochter, daß Änne den Deckel des Instruments nicht wieder geöffnet hatte.

Tante Emilie litt mit ihrem Liebling, ja sie war ein paarmal auf Leben und Tod mit der kurzsichtigen Schwägerin zusammengeraten. Aber, mein Gott, wer kämpft gegen tief eingewurzelte Vorurteile! In der Trauerzeit durfte man nicht singen, was sollten die Leute denken! So behauptete Frau Rat.

Änne klagte nicht, sie machte auch keinerlei Versuche mehr, die Mutter zu überreden. Sie ging im Hause umher, wie wenn sie nie fortgewesen wäre, nie da draußen in der Welt Triumphe erlebt hätte. Aber Tante Emilie sah es und fühlte, wie das Kind seelisch und körperlich litt. Und als es Frühling wurde, da verlor Änne alle Fassung. »Könnt' ich nur wenigstens alle Tage eine Stunde lang singen, so recht all meinen Kummer hinaussingen«, schrieb sie an Fräulein Hochleitner, »es würde mich beruhigen und ermutigen, aber bei Mutter ist Singen identisch mit Jubilieren. Und so lebe ich denn weiter zwischen Nähtisch und Kochherd und mehr oder weniger großen Wäschen, und die Jahre meiner Freiheit kommen mir vor wie ein schöner, schöner Traum, aus dem ich schmerzlich erwacht bin. Das einzige, was mir noch blieb, sind meine Spaziergänge. Mitunter laufe ich stundenlang in den Wald hinein, und wenn ich an ein Lieblingsplätzchen komme, ich habe eins auf einer tannenumstandenen Lichtung, dann singe ich, und der Frühlingswind nimmt mir die Töne von den Lippen fort, und die dummen Tränen, die ich dabei weine, die trocknet er auch.« – –

219 Mitten in eine Gardinenwäsche hinein – die duftigen Schleier flatterten bläulichweiß auf der Leine im Garten der Frau Rat – kam eine Änderung. Tante Emilie kehrte von einem Ausgange heim, und den Kopf zwischen ein paar nassen Vorhängen durchsteckend, winkte sie dem Mädchen. Änne, die, im großen Gartenhut, aufhängen half, ließ das Stück, das sie eben über die Leine schlagen wollte, wieder in den Korb fallen, kam herüber und folgte der Tante in deren eigenes Stübchen. Zu ihrer Verwunderung fühlte sie, wie die alte Frau ihr einen Schlüssel in die Hand drückte, und den Kopf wegwendend, sagte: »Da, mein altes Herze – da – ich konnt's nicht länger mit ansehen.«

»Was ist denn das?« fragte Änne.

»Der Schlüssel zu deinem Musikzimmer«, war die stolze Antwort.

»Aber, Tantchen, sag nur – ich verstehe dich gar nicht –«

»Na, das ist ganz einfach! Ich habe der Förstersfrau auf dem Luisenschlößchen eine Stube abgemietet, sie darf ja vermieten. Ob's nun Sommerfrischler sind oder du es bist, das ist egal. Und aus Brendenburg ist heute früh ein Klavier gekommen. Ich hab's freilich nur geliehen und – na, ich konnt's nicht mehr mit ansehen, Kind, es ist ja schlimmer als hungern und dursten, was du leidest! Die Noten sind auch schon unterwegs von Dresden. Und nun schweig still gegen Mutter, sonst ist's aus mit der Herrlichkeit – die Verantwortung übernehme ich.«

Änne hätte am liebsten aufgeschrien vor Entzücken, aber sie fiel der alten Frau nur stumm um den Hals – »Du Liebste! du Beste, wie soll ich dir danken! Nachher laufe ich hin – o Gott, welch ein wundervoller Gedanke, du Goldtante!«

Wie ein Wind war sie unten und hing ihre Wäsche fertig auf. Dann wieder nach oben – das Hauskleid aus, ein anderes an, den Schlüssel in die Tasche! Und den Hut in der Hand ging's aus der Tür und mit Geschwindschritt über den Schloßplatz, zur Marstallpforte hinein, am Teich vorüber den Berg hinauf! Atemlos klopfte sie oben an die Stube des Försters. Eine schmucke Frau öffnete und lachte: »Ja, ja, Fräulein, hier können Sie singen, soviel Sie wollen, hier hört's keiner und stört Sie keiner, und ich freue mich. Ich hör' zu von weitem!« Sie wies auf eine Tür im Hintergrund des Hausflurs, und als Änne sie öffnete, da fiel ihr Blick zunächst auf ein Klavier, das schräg ins Zimmer hinein stand. In den Leuchtertüllen steckten statt der Kerzen ein paar Fliedersträuße und auf den wenigen Möbeln des försterlichen Putzzimmers prangten 220 auch überall Blumen. Die Wände waren zart gelblich getüncht, die gewölbte Decke ebenfalls und durch die klaren Scheiben der Fenster brach ein grünlichgoldenes gedämpftes Licht, denn dicht vor ihnen wehten Buchenzweige mit hellgrünen köstlichen Blättern, wie sie der Mai bringt.

Eine ganz feierliche, wahrhaft poetische Stimmung überkam das junge Mädchen in diesem einsamen Gemach. Die Förstersfrau war gegangen, aber sie stand außen vor der Tür und lauschte. Und nun zogen Klänge hinaus, süße, wunderbar zu Herzen gehende Klänge, daß sie unwillkürlich die Hände faltete. Ja, das war schön! Das mochte sie leiden, das klang anders, als wenn ihr Mann zur Harmonika brummte. – –

»Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und weben Tag und Nacht,
Sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muß sich alles, alles wenden.«

Dann ihre Lieblinge, Brahms' wunderbar ergreifende Lieder »Feldeinsamkeit«, »Von ewiger Liebe«, und Lied auf Lied, ein paar Stunden lang. Wie ein Verschmachteter nicht enden kann zu trinken, so sang sie bis in die rotgoldene Abenddämmerung hinein, und zum Schluß ihr altes trauriges Lieblingslied:

»O du purpurner Glanz der sinkenden Sonne,
Wie zauberhaft webst du um Flur und Hain,
Wie färbst du mit lodernder Rosenwonne
Das blasse Antlitz der Liebsten mein!«

Nun saß sie, die Hände in den Schoß gelegt, und dachte an ihren traurigen kurzen Liebestraum, an Heinz –

»O Sonne, o Liebe, wie kalt ohne euch!«

Sie hatte ihn nicht wiedergesehen seit dem Begräbnis ihres Vaters, und er hatte ihr nicht die Hand gedrückt wie den anderen allen. Er war plötzlich verschwunden gewesen.

Die Leute sagten, er sei hochmütig. Frau May nannte ihn »verrückt«, er wisse ja kaum, ob er grüßen solle oder nicht, wenn er mal, was selten genug geschah, über den Platz an ihren Fenstern vorbeiging. Ehemals, da wären sie gut genug für ihn gewesen! Gottlob, an den dachte Änne nicht mehr. –

Doktor Lehmann zuckte einfach mit den Schultern, wenn die Rede auf Heinz kam. Er war jetzt Arzt bei dem kleinen Heini, und Frau Rat interessierte sich brennend für die alten Patienten ihres seligen Mannes. Aber so zuvorkommend der Doktor 221 auch sonst war, hierüber schwieg er wie ein Grab. Heinz lebte da oben mit seinem Kinde, weiter wußte Änne nichts.

Sie stand endlich auf, schloß das Fenster und das Klavier und schickte sich zum Heimweg an. Herrgott, drei Stunden hatte sie hier versäumt, und drunten wartete die Mutter und die Wäsche! Sie reichte der Frau Försterin, die ihr vor der Tür entgegenkam, die Hand, rief ein »Auf Wiedersehen!« und lief davon wie gejagt.

Bei Frau Rat war bös Wetter. Heute ist Donnerstag, der Tag, an dem ein für allemal Doktor Lehmann Abendgast ist, und den hatte Änne vergessen können! Die Frau Rat, die aus Ännes Verhalten gegen den Doktor bisher durchaus nichts, weder für noch gegen ihn, hatte herauslesen können, mußte diese Nichtachtung notwendig als schlechtes Zeichen auffassen, und das Barometer ihrer Laune war rapid gefallen.

»Fange mir nur um Gottes willen nicht wieder das Umherstrolchen in den Wäldern an! Du bist kein Backfisch mehr!« So wurde sie empfangen.

Änne erwiderte: »So lange werde ich nicht wieder ausbleiben, aber meine Spaziergänge, die lasse ich mir nicht nehmen! Du weißt, Vater hielt immer so sehr darauf!« Sie wurde sehr rot, als sie das sagte, denn sie schämte sich ihrer Lüge und beeilte sich, durch doppelte Freundlichkeit alles wiedergutzumachen. Sie war sogar heute gesprächig dem Doktor gegenüber, und Frau Rat ward zumute wie einem Fisch, der vom trockenen Ufersand wieder ins klare, kühle Wasser gelangt ist.

Man sprach über allerhand Alltagsdinge, wozu der Geruch der frisch abgenommenen Wäsche, der bis ins Eßzimmer gedrungen war, gut paßte. Es gab für die Damen Tee, den Frau Rat drei- bis viermal aufzubrühen pflegte, und für den Doktor goldklares, schäumendes Bier; ferner Soleier, Radieschen und Mettwurst. Und das stand alles auf blendendweißem Tischtuch, und die beiden alten Damen hatten so blendendweiße Häubchen, und das junge Mädchen heute so rosenrote Wangen und blitzende Augen, daß einem heiratslustigen jungen Doktor, der ja nach der Meinung aller älteren Damen durchaus eine Frau haben muß, da unverheiratete Ärzte zu genierlich sind – daß einem solchen wohl das Herz aufgehen konnte, zumal wenn er so viel Sinn für Gemütlichkeit und häusliches Leben hatte wie Doktor Lehmann. Geld besaß sie freilich nicht, aber sie war herzig, und er durfte ja immerhin mal ein nettes kleines Vermögen erwarten. Er konnte sich den Luxus erlauben, aus Liebe zu heiraten. Der Alte würde brummen – 222 na, schadete nichts, er mußte sich ja aussöhnen, wenn er das Mädchen sah!

»Sie waren doch heute auf dem Schloß?« fragte Frau Rat.

Er zuckte heute nicht mit den Schultern, sondern erwiderte: »Ja, ich war auf dem Schloß.«

»Bei Kerkow?«

»Ja, bei Kerkow.«

»Um den Jungen?«

»Um den Jungen.«

»Steht's schlecht?«

Jetzt hielt er das Achselzucken für angebracht. »Na, prosit, Frau Medizinalrat!« sagte er, sein Glas ergreifend.

»Prosit!« nickte Frau Rat, ihn ein bißchen schief ansehend, und dachte: warte – später will ich dir das Achselzucken schon abgewöhnen! »Ich glaubte nur«, fügte sie hinzu, »weil Sie so eilig geholt wurden.«

Das kleine Dienstmädchen erschien plötzlich und rief Frau Rätin hinaus. Nach einem Weilchen wurde auch Tante Emilie hinaus beordert und dann hörte man draußen etwas wie Schelten und Jammern. Änne saß derweil höflich bei ihrem Gast, der sie mit seinen runden dunklen Augen durch den Kneifer in stiller Bewunderung betrachtete.

»Wollen Sie mir nicht verraten, wie es dem armen Kleinen droben geht?« fragte das junge Mädchen jetzt.

»Ach, Fräulein Änne, das ist ein Trauerspiel«, gab er zur Antwort, »der Junge macht mir schon genug Sorge, aber der Vater noch mehr.«

»Ist Herr von Kerkow krank?« fragte Änne scheinbar obenhin, aber das Herz klopfte ihr mächtig.

»Vollständige Abulie.«

»Was ist das?«

»Das ist eine Seelenkrankheit, Fräulein Änne.«

Sie wechselte plötzlich die Farbe. »Wie äußert sich das Leiden?« fragte sie.

»Das ist Willenlosigkeit in höchster Form, Gleichgültigkeit, Melancholie.«

»Um Gottes willen, so helfen Sie ihm doch, Herr Doktor!« stieß sie hervor.

»Ich?« Er lachte kurz auf. »Wissen Sie, der hört überhaupt nicht zu, wenn ich ihm etwas sage – da müssen andere Einflüsse kommen als der meine. In eine Nervenheilanstalt mit ihm und dort rücksichtslos ihm klarmachen, was er für ein Jammermensch geworden ist, das wäre noch das einzige! Übrigens, ein Wunder ist's nicht! Sieben Jahre und mehr 223 Schloßhauptmann von Breitenfels – der Teufel! Ich wäre schon früher übergeschnappt. Und dann alle die sauberen Geschichten nebenher, die davongelaufene Frau, das krüppelhafte Kind, und immer in den himmelhohen, einsamen Zimmern, um die der Wind heult und von denen man meilenweit in die Welt hinaussieht, in die Welt, in der es Arbeit, Lust und Kampf und, mit einem Wort, Leben gibt! Und hier festgeschmiedet sitzen als Nichtstuer, bewußter Nichtstuer, denn er weiß ja, was diese Stellung bedeutet, und dazu Geist im Kopfe und Blut in den Adern! – – Na, jetzt ist's zu spät, jetzt rappelt er sich nicht mehr allein heraus, und eine Hand, die ihm helfen könnte, hat er nicht. Neulich sagte ich ihm mal: ›Zum Donnerwetter, Herr, werfen Sie doch dem Durchlauchtigsten seinen ›Schloßhauptmann‹ vor die Füße, scheren Sie sich ins Leben hinaus, meinetwegen als Eisenbahnschaffner, und suchen Sie andere Eindrücke, sonst gehen Sie zugrunde!‹ Was meinen Sie, was er antwortete? Nichts antwortete er, sieht nur an mir vorüber auf das Kinderbett, als ob das unglückliche Kerlchen nicht irgendwo in einer Familie untergebracht werden könnte, zum Beispiel bei der verheirateten Schwester. Aber darin ist er so unvernünftig wie eine herzkranke Mutter. Na, mich hat er ja nicht konsultiert für seine Person, und ich trage keine Verantwortung! Und nun lassen wir das Thema, Fräulein Änne, es paßt nicht hinein in diese Gemütlichkeit! – Sehen Sie doch nur, wie der Mond durch die Birnbaumzweige guckt und durchs Fenster glustert, so daß der Storm ein Gedicht darüber machen könnte, wenn er noch lebte! Und dann hier – wir beide am Eßtisch – so haben gewiß Ihr Herr Vater und Ihre Frau Mutter zusammengesessen in dieser Stube, als sie jung verheiratet waren. Es ist einfach rührend, und ich –«

In diesem Augenblick kam Frau Rat mit einer Glasschüssel, in der etwas Hellgelbes bibberte und zitterte, und hinter ihr Tante Emilie mit einem Kännchen voll Himbeersaft zurück, und Frau Rat entschuldigte sich mit riesigem Wortschwall wegen ihrer langen Abwesenheit: das erzdumme Mädchen habe vorwitzigerweise den Flammeri stürzen wollen, und natürlich sei er zusammengefallen. Sie sah dabei verstohlen vom Doktor, dessen Augen glänzten, zu Änne hinüber, die stumm und blaß auf ihrem Stuhle saß. Jedenfalls – die Präliminarien einer Liebeserklärung waren erfolgt. Herrgott, wenn's doch zum Abschluß käme, aber bald – bald!

Nach dem Essen ging man ein wenig im Garten umher. Frau Rat prüfte die kleinen grünen Früchte der 224 Stachelbeersträucher und dachte, daß sie nächstens ein Kompott davon geben könne mit Omelette, und der Doktor hielt sich neben Änne und knüpfte allerlei drollige Betrachtungen an über die verwehten weißen Blütenblättchen der Obstbäume, die wie frischgefallener Schnee auf den Wegen und dem Rasengrund lagen. Änne hörte es kaum, sie sah nur immer Heinz vor sich. Frau Rat machte sich weit entfernt von ihnen im Garten etwas zu schaffen und ärgerte sich wütend über Tante Emilie, die den beiden jungen Leuten nachging und weder das Husten noch das Rufen der Rätin zu hören schien.

»Dummheit ist doch 'ne Gottesgabe«, murmelte sie erbost, »sie stört möglicherweise gerad den Augenblick, wenn das Kind sagen will: ›Sprechen Sie mit meiner Mutter!‹ Sieht's nicht gerade so aus? Er, der wie ein Buch redet, und sie mit gesenktem Kopf! Oh, du lieber Himmel, nun ist sie schon ganz in ihrer Nähe. – Emilie! Emilie!« schrie sie mit voller Kraft, »komm doch mal eben her, ich sitze hier fest – mein Kleid sitzt fest an den Stachelbeeren!«

Aber natürlich, ihr ging heute alles überquer – anstatt der alten Tante Emilie, die ja doch nicht mehr so laufen konnte, kam Änne eilends daher, das Rot des Erschreckens auf dem Gesicht. »Was ist denn, Mütterchen?«

»Bin schon losgekommen«, brummte die schwer enttäuschte Frau, »kannst wieder gehen.«

»Mutter«, sagte das Mädchen und preßte die Hand gegen ihre Schläfe, »unterhalte du deinen Freund ein wenig, ich habe Kopfweh und möchte hinaufgehen.«

Frau Rat wollte schon eine schmetternde Rede loslassen, des Inhalts, daß man sich beherrschen müsse, da sah sie das bleiche, leidende Antlitz der Tochter, das völlig verändert erschien.

»Na ja, das kommt vom Umherrennen draußen. Hast dich wahrscheinlich nach deiner Gewohnheit stundenlang auf den feuchten Boden gesetzt. Geh nur, wenn's schlimmer werden sollte – der Doktor ist ja im Hause!«

Tante Emilie und der Doktor, die eben den Gang heraufkamen, sahen die schlanke, dunkle Gestalt Ännes gerade noch im Hausflur verschwinden. Nun hätte Frau Rat den Doktor gern ein wenig allein gesprochen, und Tante Emilie wegzubringen, war ja so leicht.

»Sieh doch nach, Emilie«, bat sie, »ob sie's etwa im Halse hat.« Und dann fragte sie den jungen Arzt, ob er schon das neue Riesenvergißmeinnicht gesehen habe. – »Nein? Oh, das müssen Sie sehen, bei dem Mondschein ist's hell genug.«

225 Er war bis oben vollgefüllt von Hoffnungen, Wünschen, Zukunftsplänen – ein Funke, und die Bombe mußte platzen. Und da Frau Rat diesen Funken schlug, prasselte das Bekenntnis des kleinen, dicken Doktors mit einer Leidenschaft empor, die selbst Frau Rat überraschte. Seine Beteuerungen, daß er Änne geradezu »wahnsinnig« liebe, seine verschiedenen Versicherungen auf Ehrenwort, daß er die Wahrheit sage, flogen wie Funken vor den Ohren der Frau Rat umher. Nie, nie habe er geahnt, daß ein Mädchen ihn so bezaubern könne, gestand er.

Frau Rat konnte, ohne ihn abzukühlen, die Zurückhaltende spielen. Sie sagte, Änne sei ganz arm.

»Zu Tode will ich mich schinden für sie!« schwur er.

Und sie habe auch so eigene Ideen. Der Herr Doktor wisse ja wohl, daß sie nur der Mutter zuliebe ihre Künstlerlaufbahn aufgegeben habe, die ihr Großes verheißen habe.

Jawohl, das wisse er, und es sei gar nicht seine Absicht, das schöne Geschöpf zu seiner Haushälterin zu machen. Und so ganz arm sei er doch schließlich auch nicht, sein Vater habe ein Gut in der besten Lage der Magdeburger Börde, nichts als Weizenboden – prima! Änne könne allein ihren Neigungen leben, er werde sich nur nach ihr richten.

»Lieber Herr Doktor, Sie wissen, wie ich Sie schätze«, sagte Frau Rat gerührt, »an mir soll's nicht fehlen – versuchen Sie Ihr Glück bei Änne.«

Er stand still und putzte den Kneifer wieder, und die runden, kurzsichtigen Augen sahen wie hilfesuchend umher. »Ja, verehrte Frau Rat, das ist eben eine verfluchte – Pardon – eine schwierige Geschichte«, stotterte er – »Fräulein Änne versteht mich – glaube ich – absichtlich nicht. Ich – Sie können denken, ein Korb ist kein angenehmes Ereignis im Leben eines Mannes, und ich möchte, bevor ich eine Erklärung riskiere, Gewißheit haben, erhört zu werden. Ich hatte zu hoffen gewagt, daß Sie, verehrte Frau Rat, als Mutter doch einigen Einfluß – – Sie kennen den Wunsch, das Streben meines Lebens. In Ihre Hände lege ich mein Geschick – sprechen Sie mit Fräulein Änne, erbarmen Sie sich über einen Menschen, dem, hol's der Kuckuck, die Angst vor einem Abfall den Mut nimmt, selbst eine Entscheidung herbeizuführen, aber bald, tun Sie es bald!«

»Haben Sie vorhin denn nicht von Ihren Wünschen zu Änne gesprochen, Herr Doktor?«

»Massenhaft!« antwortete er. »Aber, ich bemerkte schon: sie will nicht verstehen«

226 »Ich werde mit ihr sprechen«, erklärte Frau Rat.

Als sie in das Schlafzimmer trat, das sie mit Änne teilte – Frau Rat behauptete, vor Angst sterben zu müssen, wenn sie allein schlafe – erhob sich Tante Emilie von dem Stuhl, auf dem sie an Ännes Bett gesessen, und legte den Finger an die Lippen. »Eben ist sie eingeschlafen, wecke sie nicht auf!« Und Frau Rat beugte sich über ihr Kind und erkannte beim Schein des Mondes, daß Änne geweint hatte.

Sie hat ihn doch wohl verstanden, dachte sie und ging so leise schlafen, daß Änne, wenn sie wirklich geschlafen hätte, tatsächlich nicht aufgewacht sein würde. Und dann schlief die alte Dame ein und träumte von Brautschleiern, Myrten und weißem Atlas – ach, wenn's doch May noch miterleben könnte! Einmal in der Nacht aber erwachte sie und sah Änne aufrecht im Bett sitzen. Die Arme um die Knie geschlungen, starrte das Mädchen in das Dämmern des kleinen Gemachs, unbeweglich, als sei sie aus Stein gehauen. Eine Weile beobachtete die Mutter ihr Kind, dann meinte sie, die Stunde sei vielleicht gekommen, wo eine Aussprache möglich sei. Aber bei der leisesten Bewegung, die sie machte, legte Änne sich zurück.

»Änne!« sagte halblaut Frau Rat, aber sie erhielt keine Antwort. Sie kann ihre dumme Singerei nicht aus dem Kopf bringen, dachte die Mutter, man darf nicht zu früh reden.

Frau Rat schlief endlich auch wieder ein, und als sie früh erwachte, schlug es fünf Uhr. Ihr erster Blick ging hinüber zu Ännes Lagerstatt – sie war leer. – »Es ist die Möglichkeit«, seufzte die alte Dame, »sie wird alle Tage wunderlicher, was ist das für ein närrisches Mädchen! Wenn ich's nicht aus der Ähnlichkeit mit der Mayschen Sippe wüßte, ich könnte meinen, Zigeuner hätten mir das Kind vertauscht.«



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