Wilhelmine Heimburg
Trotzige Herzen
Wilhelmine Heimburg

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Frau von Kerkow war in sommerlicher Gesellschaftstoilette, der Wagen stand vor der Tür, sie wartete nur noch auf Frau von Gruber. Das große Konzert des Sängerfestes in der benachbarten preußischen Kreisstadt Brendenburg sollte heute abend stattfinden. Natürlich hatte Heinz ihre Aufforderung, sie zu begleiten, einfach abgelehnt, ohne irgendwelchen Grund anzugeben. Die Familie Arnstein hatte Trauer bekommen – und so war die junge Frau genötigt gewesen, sich nach einer anderen Beschützerin umzusehen, denn es schickte sich natürlich nicht, daß sie allein mit Leutnant Grellert drei Meilen über Land fuhr und mit ihm bei nachtschlafender Zeit zurückkehrte. Es war ja nun einmal so in dieser albernen, verklatschten Welt! Toni von Kerkow hatte also die Tante Gruber mit allen Überredungskünsten bestürmt, die sie für diesen ihren brennendsten Wunsch nur erdenken konnte.

Die alte Dame hegte begründete Bedenken ihrer Gesundheit halber, aber sie wichen endlich dem Schmeicheln der jungen Frau. Toni von Kerkow richtete eigenhändig die Toilette des lieben Tantchens her, drängte ihr einen Spitzensonnenschirm auf, den sie im vorigen Sommer getragen hatte, und sagte zu Ende der Besprechung noch, indem sie die letzten Stiche an dem Hütchen der Tante machte: »Nun, und sieh mal, wenn es dir ja zu anstrengend werden sollte, so fährst du früher wieder heim. Grellert und ich werden schon irgendeine 169 Gelegenheit zur Rückfahrt finden, schlimmstenfalls mit einem Mietswagen. Es ist ja nur, daß diese braven Spießbürgerinnen, diese Klatschtanten – die Frau Oberamtmann, die Medizinalrätin und die Superintendentin – mich nicht solo mit Grellert abfahren sehen. Sie machten sicher einen großartigen Skandal daraus zurecht. Das Nachhausekommen sieht ja keine von ihnen.«

Frau von Gruber hatte ob dieser etwas zweifelhaften Auseinandersetzung eine spitze Nase bekommen und sich scharf geräuspert. Aber die junge Frau war lächelnd und mit einer Kußhand aus dem Zimmer geeilt, und die pensionierte Hofdame hatte ihre Sittenpredigt nicht mehr zu den Ohren der leichtlebigen Nichte bringen können. –

Es war ein heißer Frühsommernachmittag, gegen fünf Uhr. Toni von Kerkow hatte am Fenster gestanden und alle die herrschaftlichen Wagen gezählt, die bereits die Chaussee hinabfuhren, Oberamtmanns und Superintendents im Break zusammen, und die pensionierten Offiziersfamilien im langen Omnibus des Hotels – Mays in einem Landauer. Natürlich fuhr heute die ganze Familie May, da die Tochter die große Solopartie zu singen hatte. – Wo nur Tante blieb, oder vielmehr Tantes Jungfer, die melden sollte, daß die alte Tante bereit sei? Von dem Jungen und ihrem Manne hatte Toni bereits nach Tisch Abschied genommen. Heinz saß nun in seiner Eigenschaft als Bonne wieder irgendwo im Park mit dem Kind. – Nun, wenn es ihm Spaß machte! –

Sie seufzte tief und runzelte die Stirn. Es war zum Verzweifeln, an diesen Mann gekettet zu sein!

Endlich pochte es, die Jungfer der alten Hofdame trat ein. »Gnädige Frau lassen bitten, Frau von Kerkow möchten nicht böse sein, aber es sei ihr unmöglich, mitzufahren. Gnädige Frau haben eben einen Ohnmachtsanfall gehabt, wahrscheinlich infolge der Hitze.«

Toni sah plötzlich ganz blaß aus. »Friedrich soll den Herrn Schloßhauptmann suchen«, befahl sie dann, »und sagen Sie meiner Tante, daß ich sehr bedaure, und ich lasse gute Besserung wünschen. Pflegen Sie Ihre Dame gut, ich kann leider nicht mehr persönlich nachsehen. Es hat doch wohl nichts auf sich?«

»Nur der alte Gesichtsschmerz, aber stärker, gnädige Frau«, antwortete das alte Mädchen mit dem spitzen, ewig griesgrämigen Gesicht.

»Sagen Sie Friedrich nur, er solle sich beeilen. Der Herr wird in der Nähe des kleinen Pavillons sitzen mit Heini.«

170 Heinz trat nach wenigen Minuten wirklich ein. Toni stand in der Mitte des Zimmers neben einem zierlichen Tischchen, auf dem sich eine Glasschale mit weißen Rosen befand. Das Dämmerlicht, das durch die halbgeschlossenen Jalousien fiel, hatte eine grünlich kalte Färbung, und Heinz, der soeben aus dem strahlenden goldenen Sommersonnenschein kam, war wie geblendet, dadurch entging ihm das erregte Gesicht seiner in blaßlila Foulard gekleideten Frau.

»Wünschst du noch etwas?« fragte er in seiner müden Art.

»Ja«, sagte sie. »Du mußt mich begleiten nach Brendenburg. Ich bitte dich, beeile deine Toilette, sonst versäumen wir den Anfang des Konzertes.«

»Ich muß dich begleiten? Warum denn?«

»Weil ich nicht allein fahren kann mit Leutnant Grellert.«

»Hattest du denn beabsichtigt, ihn in deinem Wagen mitzunehmen? Davon wußte ich nichts!«

»Das hast du natürlich wieder vergessen! Du warst ja dabei vor ein paar Tagen, als ich ihn dazu aufforderte. Na, kurz und gut, Tante ist krank geworden, und aus diesem Grunde bitte ich dich, daß du mitkommst, das ist doch schrecklich einfach!«

»Ich fahre nicht mit«, sagte er ruhig. »Wenn es durchaus sein muß, daß du dabei bist, so laß Hedwig bitten, dich zu begleiten. Am richtigsten finde ich aber, du bleibst zu Hause. Heini gefällt mir heute nicht, er fiebert, und da auch Tante krank ist, wie du sagst, so – –«

»So werde ich allein mit Grellert fahren«, unterbrach sie Heinz, nahm ihren Sonnenschirm vom Tisch, sowie ein paar Marschall Nielrosen und trat vor einen in der Ecke angebrachten riesigen Spiegel, als prüfe sie noch einmal ihre Toilette. Heinz sah, wie die seidene Schleife, mit der ihr Hütchen zur Seite des Kinnes geknüpft war, bebte, wie ihre Finger zitterten, als sie die Rosen in den Gürtel zu stecken bemüht war. »Das wirst du nicht!« sagte er ruhig.

Sie fuhr herum wie von einer Schlange gebissen. »Ich würde nicht – nicht tun dürfen, was ich will? Du erlaubst dir, mir zu verbieten – –«

»Ja, ich verbiete dir, in Begleitung des Leutnants Grellert nach Brendenburg zu fahren.«

Sie lachte kurz auf, und ihre Augen funkelten ihn an.

»Solange du noch meine Frau bist, verbiete ich es dir. Ich habe nicht Lust, die lächerliche Rolle eines hintergangenen Ehemanns zu spielen.«

»Solange ich noch deine Frau bin?« stieß sie hervor.

171 Er nickte und drückte den Knopf der elektrischen Klingel neben der Tür.

Sie legte plötzlich den Sonnenschirm wieder auf den Tisch. »Wie interessant! Willst du mir nicht erklären?« sagte sie schrill.

»Gleich! Ich möchte nur Friedrich erst abfertigen.«

Der Genannte stand bereits an der Portiere.

»Suchen Sie den Leutnant Grellert auf und bestellen Sie ihm: ich lasse bitten, der Herr Leutnant möge sich unseres Wagens bedienen. Die gnädige Frau sei verhindert, mitzufahren, wegen Unpäßlichkeit der Frau von Gruber, und weil der Kleine fiebert.«

Toni lehnte mit verschränkten Armen an einem Zierschränkchen und starrte ihren Mann an. Ihr fahles, unbedeutendes Gesicht war jetzt geradezu häßlich. »Nun?« fragte sie, als die Tür sich hinter dem Diener geschlossen hatte.

»Ich habe seit längerer Zeit schon mit dir über den Umgang mit Leutnant Grellert reden wollen, es ist mir nur immer peinlich gewesen, davon anzufangen. Da es sich heute aber gerade so günstig trifft, möchte ich dich bitten, mir zu erklären, was du dir bei diesem Verkehr mit Grellert eigentlich denkst, worauf du hinauswillst – sozusagen?«

»Ich bedaure«, antwortete sie, »du sprichst in Rätseln, du mußt dich deutlicher ausdrücken.«

Er schwieg ein Weilchen. »Du bist nahezu unzertrennlich von diesem Herrn«, sprach er dann. »Des Morgens machst du Waldspaziergänge mit ihm, zur Visitenstunde trifft man ihn in deinem Salon, den Fünfuhrtee geruht er unter meinem Dache einzunehmen, falls ihr euch nicht in irgendeinem Salon deiner Bekannten oder zum Tennis trefft, und seit einiger Zeit scheint genannter Herr auch an meinem Tisch auf das Abendessen abonniert zu haben. Es mag ja dieser Familienanschluß ganz nett für ihn sein in Anbetracht der Langweiligkeit seines hiesigen Kommandos, aber es stört mich. Ich bin nicht immer in der Stimmung, mich mit einem fremden Menschen zu unterhalten und den höflichen Hausherrn zu spielen. Deshalb möchte ich wissen, aus welchen Gründen du besagten Herrn so außergewöhnlich ehrst und beschützst. Sind mir diese Gründe einleuchtend, so sei versichert, daß ich deinen Wünschen gewiß nicht hinderlich sein werde.«

Ihre Augen hatten sich zusammengezogen. Sie blinzelte zu ihm hinüber, als wollte sie sich vergewissern, ob das, was er da sagte, ironisch gemeint sei, aber sie sah nur in ein sehr ernstes und trotzdem gleichgültiges Gesicht. »Was meinst du damit? Was soll ich wünschen? Gründe? Ich habe keine Gründe – 172 welch ein alberner Scherz! Zu deinem ganzen Benehmen paßt es wahrlich schlecht, den Eifersüchtigen zu spielen.«

»Den Eifersüchtigen? Nein, das würde nicht das richtige sein! Nur mit der Ehre meines Namens lasse ich nicht spielen, und deshalb möchte ich bitten, ganz ehrlich gegen mich zu sein! Glaube mir, die Misere unseres Zusammenlebens empfinde ich wahrscheinlich ebenso bitter wie du, aber solange wir dieses Joch tragen, wünsche ich, daß auch nicht der leiseste Tadel dich trifft. – Daß du dich hinaussehnst, nehme ich dir nicht übel, und wenn du mir jetzt sagst: Gib mich frei, ich will den andern heiraten, so – –«

Sie stand plötzlich vor ihm, blaß, bebend, und trotzdem lachte sie mit den farblosen zuckenden Lippen. »So einfach ist das nicht – nein, so einfach ist das nicht, mein Lieber, den Gefallen kann ich dir mit dem besten Willen nicht tun! Leutnant Grellert würde derjenige, der dich von mir befreit, nicht sein können, weil er eine Null ist in jeder Beziehung, weil er mir gar nicht mal gefällt! Ich plaudere mit ihm, um nicht zu sterben in der tödlichen Monotonie meines Lebens. Er ist gerade der nächste dazu, und das werde ich mir nicht verbieten lassen! Ich verbiete dir ja auch nicht, in deinen Erinnerungen zu schwelgen, dich in neue Hoffnungen zu versenken. Oder – glaubst du vielleicht, ich sei so mit Blindheit geschlagen gewesen von jeher, daß ich deine Herzensaffären nicht kenne?«

Er sah an der eifernden Frau vorüber, als wäre sie nicht vorhanden, dann strich er sich über die Stirn, als erwache er aus einem tiefen Schlaf. »Was sollte ich wohl mit meiner Freiheit?« sagte er leise. »Aber dafür will ich sorgen, daß diejenige, die meine Frau ist, die meinen Namen trägt, in Ehren dasteht. Und deshalb« – und erst allmählich erstarkte seine Stimme – »deshalb untersage ich dir das unwürdige Getändel mit dem Herrn Leutnant.«

»Und wenn ich diesen Befehl nicht respektiere? Wenn ich dir sage, daß ich überhaupt gar nichts weiß von einem ›Getändel‹? Wenn ich mir verbitte, wie ein Pensionsmädel von dir behandelt zu werden?«

Er schwieg.

»Nun, dann werde ich wohl eingesperrt? Dann darf ich wohl nicht am Tisch essen? Dann muß ich vielleicht gar hungern?« spottete sie und riß und zerrte an den Schleifen des Hütchens. Und als sich endlich die Bänder lösten, schleuderte sie das zierliche Ding aus Fliederblüten und Spitzen auf den Tisch, warf sich in einen Sessel und schaute ihren Mann wie ein gereiztes Tier an.

173 »Dann«, sagte er, »bleiben mir noch andere Mittel und Wege.«

»Gott, wie romantisch! Wohl gar ein Duell?« rief sie. »Armer Grellert!« – Aber plötzlich hielt sie inne und ein kaltes, prickelndes Gefühl schlich ihr durch den Körper, und sie fühlte, wie die Zunge ihr im Munde schwer wurde. Sie dachte daran, wie vor ein paar Wochen die beiden Herren sich im Park im Pistolenschießen übten und wie ihr Mann nach einer Spielkarte schoß, nachdem er gesagt hatte: »Jetzt das Coeur-Aß heraus«, und wie tatsächlich das winzige rote Herz aus seiner weißen Umrahmung gerissen wurde. Doch wenn auch – würde er je diese Kunst zu einer männlichen Tat gebrauchen?! – Ach, wie sie ihn haßte, wie er ihr zuwider war, der blasse Mensch mit dem stillen Gesicht und den müden, in Leid förmlich versunkenen Augen. Er stand noch immer am Kamin, strich langsam mit der Hand durch den Vollbart, den er jetzt trug und der ihn viel älter erscheinen ließ, und starrte auf dem Teppich umher. – Ein Greis im Anfang der Dreißiger, das Zerrbild eines Mannes ohne Energie, ohne Kraft, sagte sie sich, indem sie ihn verächtlich musterte. Früher brauste er wohl noch einmal auf in einem Wutanfall – jetzt? Blasse Renommage, wenn er von anderen Mitteln und Wegen sprach!

Eine lange Pause entstand. Man hörte das leise Ticken der Uhr auf dem Kamin und das Knistern der seidenen Röcke der jungen Frau. Endlich hielt sie sich nicht länger.

»Nun kannst du auf deinen Lorbeeren ausruhen«, begann sie schneidend, »freue dich, du hast deinen Willen durchgesetzt und mir wieder einmal eine Freude verdorben. An deiner Stelle würde ich jetzt gehen, du schläfst hier sonst ein – du vergißt wohl ganz, daß Heini allein ist –«

»Ich gehe schon«, erwiderte er gelassen, »Heini ist zwar nicht allein, denn Hedwig sitzt bei ihm. Sie kam vorhin und wird auf meine Rückkehr warten. Ich bedaure, daß du um das Konzert gekommen bist, glaube aber, bei näherer Überlegung wirst du einsehen, daß ich recht habe. Du bist nun gewarnt.«

»Natürlich«, bemerkte sie beißend, »recht – wie immer. Und gewarnt bin ich auch –«

Er hörte es nicht mehr, er war schon hinausgegangen. Hedwig Kerkow saß geduldig am Fahrstuhl des Kindes unter den Kastanien, durch deren Laub die Goldstrahlen der Sonne spielten.

»Du siehst so schrecklich blaß aus«, sagte sie, als er ihr 174 wieder gegenübersaß und, die Hand auf den Blondkopf des Kindes gelegt, zerstreut in die Ferne hinausblickte.

»I, das ist deine Einbildung, Hede. Übrigens ist's ja möglich – Tante Gruber ist krank, und das irritiert mich ein wenig. Ich bin so leicht jetzt erschreckt, wie eine nervöse alter Jungfer.« Er lächelte trübe.

Hede sah ihn traurig an. »Du hättest mitfahren sollen, Heinz«, meinte sie, »ich hätte dir den Heini schon gehütet indessen.«

Er wechselte plötzlich die Farbe. »Unsinn!« sagte er kurz und scharf.

»Du hast recht, Heinz, du bist nervös«, erklärte die Schwester aufstehend, »und wenn das so weiter geht –«

»Laß es deine Sorge nicht sein!« lautete die ebenso kurze eigensinnige Antwort.

»Ist denn Toni hinübergefahren?« fragte Hede, die unartige Antwort überhörend.

»Nein!«

»Ist sie bei Tante Gruber?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er ungeduldig.

»Nun, dann leb wohl, Heinz – es ist besser, du bleibst allein«, sagte sie.

Er hielt ihr die Hand hin. »Sei nicht böse, Hede, mich quält so vieles!«

»Wo werd' ich dir böse sein, Heinz! Ich bin auch gar nicht gewöhnt, daß sich um meinetwegen jemand geniert in seinen Launen«, lächelte sie.

Er sprang empor und sah erschreckt in ihr Gesicht, und sie blickte ihn an mit den ruhigen grauen Augen, in denen es nun feucht emporquoll.

»Meine arme Hede«, sagte er und zog sie an sich.

»Mir fehlt gar nichts, Heinz« wehrte sie eifrig, »es geht mir so gut, viel zu gut, Heinz!«

Er nickte. »Ja, ja, nichts als ein bissel Sonne – man hat sich's so anders vorgestellt, aber, es ist nichts darüber zu reden, hast recht! Komm, Heini, wir begleiten die Tante durch den Park nach Hause!«

Er erfaßte den Handgriff des Wägelchens und die Geschwister wanderten langsam nebeneinander her durch den einsamen verlassenen Garten. Am Marstalltor trennten sie sich. Hede ging der Oberförsterei zu, Heinz fuhr seinen kleinen Kranken auf kürzestem Wege zum Schlosse empor.

»Bist du böse, Papa?« fragte das Kind, als er dann stumm am Bettchen saß, nachdem das Mädchen den Kleinen 175 umgezogen, ihm seine Milch gebracht und ihn sein Gebet hatte sprechen lassen.

»Nein, mein Junge – wie kommst du darauf?«

»Du erzählst heute gar nichts.«

»Ich werde gleich anfangen, Heini. Ich dachte mir, du wärest sehr müde.«

»Ja, Papa. Und du auch?«

»Ich auch, Heini.«

»Dann sollst du nicht erzählen, heute nicht, dann morgen abend. Vergiß, bitte, nicht, wo du aufhörtest, Papa – der junge Knappe machte sich gerade auf die Reise, um die schöne Prinzessin zu suchen, und sein Wams war aus blauem Atlas, und seine Rüstung von Silber mit einer goldenen Sonne auf der Brust.«

»Ich vergesse es nicht, Heini.«

»Findet er sie, Papa?«

»Ich hoffe doch, Heini«

»Ich weiß, wie sie aussieht, Papa!«

»Wirklich?«

»Ja, wie die Dame, die mir gestern früh das Glas hielt mit der Milch – sie war so lieb, und die Augen glänzten so schön, und weinen kann sie auch wie die Prinzessin.«

Heinz faßte nach der Hand des Kindes, er dachte, es phantasiere. Aber die Augen des Kleinen sahen ruhig und klar zu ihm empor in dem Dämmerlicht der rotverschleierten Lampe.

Das Mädchen trat noch einmal herein mit einem Glas Zitronenlimonade, die das Kind während der Nacht in kleinen Schlückchen zu trinken liebte.

»Wer war die Dame, die sich gestern im Park mit Heini beschäftigte?« fragte Heinz.

»Ich habe sie zuerst nicht erkannt«, stotterte verlegen die Person, »aber die Förstersfrau, die ich nachher fragte, meinte, es sei des Medizinalrats Fräulein gewesen.«

Er nickte kurz und wandte sich zu dem Kinde. »Schlafe, mein liebes Herz«, sagte er mühsam.

»Sie war so lieb«, versicherte der Kleine nochmals, als das Mädchen sich entfernt hatte, »und sie hat um mich geweint, Papa.« Dann lag er ganz still, schloß nach einem Weilchen die Augen, und endlich schlief er. –

Es hatte neun Uhr geschlagen, als Heinz aus dem Zimmer schlich, um ihn nicht zu wecken. Er beorderte das Mädchen in die Nebenstube und ging hinüber nach dem Salon seiner Frau. Es war dunkel drinnen, die Fenster standen offen und 176 draußen im Fliedergebüsch schlugen die Nachtigallen. »Bist du hier, Toni?« fragte er.

Keine Antwort.

Er klopfte an die Tür ihres Schlafzimmers – keine Antwort. »Sie wird bei Tante Gruber sein«, sagte er sich und pochte eine Treppe tiefer an. Die ältliche Jungfer öffnete mit an die Lippen gelegtem Finger. »Gnä' Frau haben Chloral genommen«, flüsterte sie, »und sind eben eingeschlafen.«

»Pardon«, sagte Heinz, »ich glaubte, meine Frau sei hier.«

»Frau von Kerkow ist wohl im Park, ich sah sie über den Schloßhof gehen«, wisperte das Mädchen.

Heinz stutzte. Sie war sonst so ängstlich abends. Er dankte, schritt die Treppen hinunter und betrat ebenfalls den Schloßgarten durch die Seitenpforte. Vielleicht fand er sie. Es lag ihm daran, sie noch zu sprechen. Er hatte das drückende Gefühl, seit Jahren zu hart gegen sie gewesen zu sein. Er durfte sie nicht weiter reizen durch Strenge und Gleichgültigkeit – er gedachte einzulenken; er mußte – es durfte so nicht weiter gehen! Er wollte dies alles, weil er sich selbst schuldig fühlte, weil er mit seiner Gewissenhaftigkeit, seiner peinlichen Pflichttreue nicht Schuld gegen Schuld setzen wollte, weil er einen Halt, eine Rettung in seiner Pflicht zu finden hoffte, Rettung gegen die alte heiße Liebe, die ihn jählings überfallen hatte, seitdem er Ännes Namen wieder gehört, erfahren hatte, daß sie seiner noch gedachte. Sie hatte geweint über sein krankes Kind – warum mußte er das heute auch noch erfahren!

Und er wollte nicht wieder hinaus in die Stürme, aus denen er sich für immer gerettet glaubte, er wollte in der Wüste zugrunde gehen, die er sich selbst geschaffen hatte, die Toni ihm schuf. Er wollte ihr sagen: wir gehören ja doch nun einmal zusammen, um des Kindes willen laß uns in Gottes Namen Frieden halten nebeneinander! Ich will mich aufraffen aus dem Starrkrampf der letzten Jahre – es geht nicht länger so!

Er stürmte durch die Wege mit großen Schritten. Dunkel und schwül war die Nacht und die Nachtigallen schlugen lauter als je. In der Lindenallee setzte er sich auf eine Bank, vor ihm im Teich hielten die Frösche Konzert, als wollten sie die Nachtigallen überschreien. Über der dunklen Wasserfläche und der schwarzen Masse der Baumwipfel zuckte von Zeit zu Zeit ein fernes Wetterleuchten, die Lindenblüten dufteten stark und süß und der Märchenzauber legte sich wie betäubend um seine Sinne.

Er sagte sich noch ein paarmal, Toni müsse längst wieder 177 droben sein, er wolle hinaufgehen, wolle mit ihr reden, und blieb doch regungslos sitzen. Hinter ihm, durch die Allee fuhr im Schritt ein Wagen vorüber, und er erkannte den Hofwagen, mit dem Leutnant Grellert nach der Kreisstadt gefahren war. Kutscher und Diener schwatzten miteinander, offenbar saß niemand darin. Der Offizier hatte sie heimgeschickt, weil er drüben noch Gesellschaft gefunden hatte – richtig, es fand ja ein Ball statt nach dem Konzert. Das hatte Toni nun alles versäumt! Natürlich, es war ja verrückt von ihm, diese Frau mit den lebenslustigen Sinnen an das Siechbett ihres Kindes zwingen zu wollen. Sie hatte die richtige Lebensauffassung! Zum Teufel, man macht es doch nicht besser mit dem ewigen Trübsalblasen, ändert nicht das geringste und – was schadet's denn, wenn der kleine Bursche dann und wann mit dem Mädchen allein bleibt? Nichts, gar nichts! – Dumme Sentimentalität ist's, wenn man die Sachen nicht nehmen will, wie sie einmal liegen, ja, ja! – –

Und er blieb sitzen und schalt auf sich und rüttelte sein Herz in der Brust zurecht und mühte sich, ihm etwas einzureden, was er selbst nicht glauben wollte. Und in diesem Widerstreit war es ihm, als ob plötzlich die Stimme des Kindes laut und deutlich sagte: »Und sie hat um mich geweint, Papa!«

Er sprang empor und schritt plan- und ziellos in den Park hinein, zuerst rasch dahinstürmend, dann langsam, immer langsamer, und plötzlich hielt er inne. Es herrschte tiefe Stille um ihn, die Nachtigallen waren verstummt und die Frösche auch. Er stand im Dunkel eines Baumganges; dicht vor ihm auf einer kleinen Lichtung erblickte er, kaum erkennbar, das geschweifte Dach des Teepavillons, und daraus scholl halblaut und doch deutlich, furchtbar deutlich, die Stimme Tonis: »Kurz und gut, ich sage es noch einmal, er hat Verdacht – sei vorsichtig!«

Und ebenso deutlich klang die Antwort: »Zum Teufel auch, das ist peinlich!«

Eine Eiseskälte überfiel Heinz, und dabei ein Reiz zum Lachen über sich selbst – den dummen, guten, anständigen Kerl, der er war.

Und was nun? Was nun? Hineinstürzen in dieses unselige Versteck? Den Buben ins Gesicht schlagen, das Weib am Arm packen und jenem vor die Füße schleudern? –

Er hielt sich an dem Stamme der Weißbuche, neben der er stand – ihm schwindelte, er keuchte und ein Stöhnen rang sich von seinen Lippen. Mit Aufbietung aller Kräfte setzte er einen Fuß vor den andern, und am Pavillon angekommen, lehnte 178 er sich, wieder schwankend, an den rohbehauenen Eingangspfosten.

Eine Gestalt trat ihm entgegen. »Grellert!« stieß er hervor.

»Sie hier, Kerkow?« fragte die wohlbekannte näselnde Stimme zurück. »Famoser Abend – wollen Sie nicht Platz nehmen?« Und gleichzeitig strich er ein Zündhölzchen an, das für ein paar Sekunden den kleinen Raum völlig erhellte.

Er war leer, die in der Rückseite befindliche Tür offen.

»Grellert«, sagte Heinz fast heiser, »Sie sind ein Schurke!«

»Herr!«

»Ein Schurke – sage ich!« wiederholte Heinz fast schreiend.

»Sie werden von mir hören, Herr Schloßhauptmann!«

Heinz lachte laut und höhnisch und wandte ihm den Rücken.

Er wußte später nie mehr, wie er sich nach Hause gefunden hatte. Er erinnerte sich nur, daß er gegen Morgengrauen noch immer in seinen Kleidern neben dem Bettchen des Kindes gesessen und immerfort den Gedanken in seinem Kopfe umhergewälzt hatte: was wird aus ihm, wenn es für mich schlecht ausgeht? Hede ist ja da – natürlich! Aber das arme, in abhängiger Stellung befindliche Mädchen noch mit der Sorge für das Krüppelchen belasten zu wollen, das hieße grausam handeln. – Die Mutter würde es einfach vernachlässigen, und als Frau dieses gewissenlosen Bengels? – Es schüttelte ihn – – nur das nicht! Das an Liebe so gewöhnte Kind durfte nicht verkümmern. Hinterlassen konnte er ihm natürlich nichts, gar nichts, und unter solchen Umständen einen Zweikampf ausfechten, einen mit geschärften Bedingungen? Die Ehre will's freilich so, ja, ja – ach diese alberne unverständliche Welt! Das beste wäre, er nähme den Revolver und schösse zuerst das jammervolle kleine Geschöpf da und hinterher sich selbst tot. Aber nein, das wäre feige, und außerdem – es geht nicht, denn er hat kein Recht dazu!

Er erhob sich schwerfällig und ging ins Nebenzimmer an seinen Schreibtisch. Dort warf er ein paar Worte auf eine Karte, steckte sie in ein Kuvert und adressierte es. Er wollte klingeln und sah auf die Uhr – es war noch viel zu früh, die erste graue Morgendämmerung drang eben durch die Fenster. Ihn fröstelte; er trat an den Likörschrank und nahm eine Flasche Kognak und ein Glas heraus, trank und streckte sich dann auf das Ruhebett neben dem Schreibtisch.

Ein paarmal glaubte er im Nebenzimmer leise Tritte zu hören, aber es mußte Täuschung sein, Toni stand nicht vor zehn Uhr auf, auch konnte sie ja noch keine Ahnung haben. Dann kam eine bleierne Müdigkeit über ihn und er schlief ein.

179 Mit heftig schmerzendem Kopfe erwachte er, taumelte empor und blickte ins Nebenzimmer nach dem Bettchen des Kindes. Die großen Augen lugten wach aus dem geduldigen blassen Antlitz verwundert zu ihm herüber. »Papa«, sagte der Kleine, »es ist schon so spät und ich bin hungrig, aber wenn du müde bist, warte ich noch.«

»Nein, mein Herz. Nur das Gesicht mit kaltem Wasser waschen, dann öffne ich die Fenster und klingle um dein Frühstück.«

»Kommst du dann mit mir in den Garten?«

»Ja – das heißt heute nicht, mein Junge, ich habe nämlich – ich erwarte einen Besuch, aber dann, dann werde ich dich sogar in den Wald fahren, und dort wollen wir den ganzen Tag zusammen bleiben.«

Das Kind nickte befriedigt. Als Heinz die Schelle zog, die das Mädchen herbeirufen sollte, fiel sein Blick auf die Uhr. Er erschrak – halb elf Uhr vorüber! Grellerts Kartellträger hätte längst da sein müssen.

»Ist niemand hiergewesen, der nach mir fragte?« forschte er das Mädchen aus.

»Niemand, Herr Schloßhauptmann. Soll ich das Frühstück für Herrn Schloßhauptmann auch hierherbringen?«

»Nein, ich gehe hinüber. Bedienen Sie Heini heute!«

»Gnä' Frau sind aber nicht zu Hause.«

»Meine Frau? Wo –«

»Wir haben gnä' Frau schon überall gesucht und Frau von Gruber schickte schon um acht Uhr nach oben. Sie ist kränker geworden, aber gnä' Frau war nirgends zu finden.«

Er war mit ein paar Schritten durch das Nebenzimmer geeilt und hatte die Türe nach dem Salon aufgerissen. Die ganze Schwüle des gestrigen Tages, gemischt mit dem Geruch, der aus Blumenvasen quillt, die nicht täglich mit frischem Wasser gefüllt wurden, schlug ihm entgegen. Er durchmaß auch dieses Zimmer, gelangte von dort in die Eßstube und musterte den unberührten Frühstückstisch, und dann trat er in Tonis Schlafzimmer. Das Bett war unberührt. In der roten Ampel unter dem Plafond brannte trübe ein Öllämpchen, dem Verlöschen nahe. Vor dem Toilettentisch lagen einzelne zusammengeknüllte Papierballen, die Schübe waren aufgezogen, und in demjenigen, welchem die junge Frau ihren Schmuck anzuvertrauen pflegte, steckte der Sicherheitsschlüssel. Er trat näher und öffnete. Die roten Juchtenetuis mit dem Namenszug der Besitzerin und der siebenzackigen Krone darüber waren verschwunden, statt dessen lag ein Brief da, an ihn adressiert. Mit 180 der flüchtigen charakterlosen Schrift Tonis war geschrieben:

»Du wirst zugeben, daß es ein Blödsinn wäre, wenn Ihr Euch duelliertet. Ich habe daher Grellert gebeten, mit mir heute bereits abzureisen. In einigen Wochen wäre es ohnehin geschehen, denn so konnte ich nicht weiterleben! Grellerts Onkel ist ein sehr reicher Mann, wir gehen zu ihm nach New York. Er hat keine Kinder und seinen Neffen schon seit längerer Zeit inständig gebeten, herüberzukommen. – Für uns ist gesorgt, und Dir ist auch geholfen, Du bist frei. Ich scheide mit dem beruhigenden Bewußtsein, daß weder Du noch Heini mich vermissen werden. Nach gewisser Zeit werden wir geschieden sein, und dann wirst Du vielleicht auch noch glücklich – ich gönne es Dir.

So leb wohl, der Vorhang ist gefallen, das Trauerspiel unserer Ehe zu Ende. Daß es ein wenig plötzlich schloß, ist Schuld des Zufalls, der Dich gestern in den Park führte. Mache keine Torheiten und versuche nicht, den Vorhang wieder aufzuziehen, dies ist meine letzte Bitte. Toni.«

Mit dem Briefe in der Hand trat er eine Stunde später an das Bett der alten pensionierten Hofdame. Sie lag mit starren Augen und hochroten Wangen und wand das spitzenbesetzte Tüchlein in den mageren Händen.

»Ach Heinz, Heinz«, stotterte sie, »ich hätte dich früher warnen sollen! Ich hab's ja schon längere Zeit gemerkt, aber man will doch so ungern zwischen Eheleuten reden.«

»Beruhige dich nur, Tante«, sagte er beschwichtigend.

»Ich bitte dich, Heinz – was hast du unternommen? Hast du telegraphiert? Sie muß doch wiederkommen, und du mußt dich mit ihm schlagen!«

»Ein fahnenflüchtiger Offizier ist nicht mehr satisfaktionsfähig«, sagte er hart, »und ein davongelaufenes Weib nehme ich nicht wieder.«

»Du bist verrückt, Heinz – so urteilt der Spießbürger, aber kein Edelmann! Du mußt ihn fordern.«

»Nein – er mich! Ich nannte ihn einen Schurken, als solcher geht er nun hinüber. – Es fällt mir nicht ein, einen trojanischen Krieg anzufangen um diese Frau. Ich wünsche glückliche Fahrt!«

»Man wird alle Schuld auf dich wälzen!« schrie sie, »man wird sagen –«

»Mögen sie! Was geht übrigens die Menschen an, ob dem Kerkow die Frau davonläuft?« fuhr er bitter fort. »Es wird schließlich ein jeder begreiflich finden – der Kerl ist ja halb verdreht, nächstens reif für das Irrenhaus! Ein Teil menschenscheuer 181 noch, ein Teil empfindlicher und mutloser wird er wohl noch werden, und wenn das Kind die Augen zutut – dann – er hatte sehr leise gesprochen – »na, aber bis dahin hält man es aus, muß es aushalten. Guten Morgen, Tante!«

Sie sah ihm nach mit großen angstvollen Augen, wie er in der Tür verschwand, ein Mann, ohne einen Funken Energie, zu nichts mehr fähig!

»Meine Frau ist auf mehrere Wochen verreist«, sagte Heinz Kerkow zu den Dienstleuten.

Um Mittag kam eine Depesche vom Regiment an Leutnant Grellert, mit dreitägiger Urlaubsbewilligung nach Bremen. Der Unteroffizier meldete es dem Herrn Schloßhauptmann, und auch, daß er vorläufig das Kommando übernommen habe. Heinz nickte stumm. Was ging ihn die Reise des Leutnants Grellert an, was das düpierte Regiment!

Als Heini nach Tische schlief, verschloß er selbst die Läden und die Türen der Zimmer, die Toni bewohnt hatte, und legte die Schlüssel in seinen Schreibtisch. Dann saß er am Fenster und schaute über die kleine Stadt hinweg, die noch nichts ahnte von dem neuen prächtigen Klatschstoff. Welche Lust! Er sah sie bereits zusammensitzen, die Bierphilister am Stammtisch, sah das Stubenmädchen der Frau Oberamtmann in wehender, weißgestärkter Schürze mit Kaffee-Einladungen von Haus zu Haus eilen – so was mußte ja ausführlich besprochen, mußte gefeiert werden! Etwas Interessanteres hatte es seit Menschengedenken nicht gegeben in Breitenfels: dem Schloßhauptmann von Kerkow war die Frau durchgebrannt mit dem Leutnant der Schloßwache! – Geschieht ihm recht! Geschieht ihm recht!

Er lächelte vor sich hin. Was war aus ihm geworden? Und plötzlich, ohne daß er es selbst wollte, flogen seine Blicke zu dem kleinen Hause hinunter, in dem Änne May jetzt wohnte, und das Lächeln verschwand. Würde auch sie lachen? Er schüttelte den Kopf. Ach, und wenn auch – er brauchte es ja nicht zu sehen, nur den Frieden sollten sie ihm lassen!

Mochten sie alle lachen, mochte die eine weinen über ihn, ihm war es recht. Nur den müden Frieden sollten sie ihm lassen, der ihn in seiner einsamen Stube in dem leeren Schlosse so wohlig überkam angesichts des schlummernden Kindes – den müden Frieden, der sich wie ein linder Balsam über seine wunde Seele senkte.

Hede Kerkow pochte den folgenden Morgen an das Zimmer des Oberförsters. Auf sein »Herein« kam sie über die Schwelle mit blassem verstörten Gesicht. »Herr Oberförster, ich habe 182 eine Bitte«, begann sie»sie ist eigentlich unbescheiden, aber verzeihen Sie mir angesichts der großen Verlegenheit, die mich zwingt, sie auszusprechen!«

Der große Mann hatte sich vom Schreibtisch erhoben und schaute betroffen seine Hausdame an, deren seines Gesicht weiß wie eine Kalkwand war und deren Augen tief eingesunken schienen. »Sie haben doch nicht eine Trauernachricht bekommen?« fragte er, an die Schwester im Irrenhause denkend. »Aber, bitte, setzen Sie sich doch, Fräulein Hedwig!«

»Danke!« sagte sie. »Eine Trauernachricht, ja! Sie wissen, Herr Oberförster, wie gern ich in Ihrem Hause gewesen bin und daß es mir sehr schwer wird, die Kinder verlassen zu müssen, aber ich muß Sie bitten, mir zu erlauben, daß ich sobald wie möglich meine Stellung hier aufgebe – ich muß zu Heinz.«

Der Oberförster, der am vorhergehenden Tage in aller Herrgottsfrühe fortgewandert und erst nach zehn Uhr abends zurückgekehrt war, hatte tatsächlich keine Ahnung von irgendwelcher Katastrophe, von der erst im Laufe des gestrigen Abends unbestimmte Gerüchte die Luft zu durchschwirren begannen, und die wahrscheinlich erst beim heutigen Frühschoppen den erregten Gemütern in Breitenfels genauer bekannt werden würde. »Fräulein Hedwig, Sie sehen mich unfähig, etwas zu erwidern«, stotterte er, »was ist denn geschehen?«

Über Hede Kerkows Gesicht flackerte die dunkle Röte verletzten Stolzes. Sie setzte ein paarmal zum Sprechen an, dann schwieg sie, und endlich brachte sie kaum hörbar die Worte hervor: »Tante Gruber schreibt mir soeben, daß meinen Bruder ein neues Unglück betroffen hat – seine Frau hat ihn verlassen.«

Er antwortete nicht. Nach einem Weilchen sagte er ruhig: »Die Pflicht gegen den Bruder und sein krankes Kind geht allem vor. Bitte, verfügen Sie ganz frei über sich, Fräulein von Kerkow!«

Sie hob den Blick und sah ihn an. Es lag etwas Wunderliches in ihren Augen, aus denen sich Tropfen um Tropfen drängte, etwas Vorwurfsvolles, als täte ihr die rasche Gewährung der Bitte weh. Er sah es nicht. Er hatte den Kopf halb abgewendet und blickte durch die Scheiben auf die Straße.

»Ich danke Ihnen«, stammelte sie.

»Machen Sie sich keine Sorgen um uns«, sprach er weiter, »Karoline hat viel gelernt von Ihnen, Agnes ist fast erwachsen, und –«

»Sie werden ja leicht einen Ersatz finden«, ergänzte sie.

183 Er antwortete wieder nicht.

»Ich will dem Mädchen die nötigen Anweisungen geben«, fügte sie mit fester Stimme hinzu, »dann mache ich von Ihrer Erlaubnis Gebrauch und gehe hinauf zu meinem Bruder.«

Sie neigte ernsthaft den Kopf, und schon nach wenigen Minuten stieg sie den Schloßberg empor. Ohne sich bei Frau von Gruber des näheren zu erkundigen, ging sie stracks in die Wohnung ihres Bruders.

Es war Regenwetter hereingebrochen, und er befand sich infolgedessen mit Heini in seinem Erkerzimmer. Das Kind lag auf dem Ruhebett, in Decken und Tücher gewickelt. Es war nervös und ungeduldig. Es hatte erfahren, daß die Mutter nie wiederkomme und daß der Vater darum traurig sei. Das genügte, das Gleichgewicht des armen kleinen Kopfes völlig zu zerstören. Das kranke Kerlchen weinte bald plötzlich laut heraus, bald war es unartig, um gleich hinterher mit rührender Stimme um Verzeihung zu bitten, und das trübe Wetter fiel ihm vollends auf die zarten Nerven.

Hedes Anklopfen war überhört worden; Heini schluchzte gerade so laut. Heinz kniete vor dem Lager seines Kindes und redete ihm zu, als plötzlich Hede vor ihnen stand.

»Da bin ich, Heinz«, sagte sie einfach, »und wenn du mich brauchen kannst, bleibe ich gleich hier.« Sie hielt ihm die Hand hin, er legte die seine hinein, und Heini hörte auf zu weinen. Sprechen taten die Geschwister kein Wort. Nach einer langen Pause, während welcher sie dem Kleinen immer wieder die herunterfallenden Bausteine aufhob und Heinz im Zimmer auf und ab schritt, fragte er stehenbleibend: »Kannst du denn gleich so ohne weiteres fort, Hede?«

»Ja«, sagte sie dumpf.

»Aber es wird dir gewiß schwer?«

»Du bist doch mein Bruder, mein Einziger auf der Welt!« Sie sah ihn nicht an dabei, erhob sich nach einem Weilchen und ging in die Küche, um Anordnungen zu treffen, und von da zu der kranken Tante Gruber zu gehen, die sie seit langer Zeit nicht besucht hatte.

Die alte Dame empfing sie seufzend und stöhnend. »Du bleibst jetzt natürlich bei ihm, Hede?« endete ihr langer Klagenerguß.

»Ja, Tante.«

»Kannst du denn gleich? Du bist doch in einer Art Mietsverhältnis, und solche Leute nützen ihre Macht gern aus –«

»Solche Leute? Welche Leute?«

»Der Oberförster, der Parvenü! Wenn sie weiter nichts 184 Gutes hat, diese fatale Durchbrenngeschichte, das wenigstens hat sie, daß du aus dieser untergeordneten Stellung kommst. Also – er erlaubt in Gnaden, daß du sofort zu Heinz gehst? Alles mögliche!«

In Hedes Augen erstarrte der feuchte Schimmer, aber sie erwiderte kein Wort. »Hast du noch irgendwelche Wünsche, Tante?« fragte sie kühl.

»Nein«, jammerte die alte Frau aus den weißen Kissen heraus, »nur Heinz sollte vernünftig sein, sollte wenigstens so tun, als ob er rasend wäre über diesen Menschen, diesen Grellert, sollte so tun, als ob seine Forderung ihn nicht mehr erreicht hätte, oder von ihm ignoriert würde. Er blamiert sich ja mit seinem resignierten Stillhalten.«

»Weil er sich nicht geschossen hat mit dem ehrlosen Menschen – dieser Frau wegen?« fragte das Mädchen mit zuckenden Lippen. »Na, gottlob, Tante, dazu ist er zu vernünftig – er denkt an seinen hilflosen Sohn.«

»Sie hätten ja in die Luft schießen können!« rief die alte Dame.

Hedwig zuckte die Achseln. »Was kann Heinz dafür, wenn Grellert durchbrennt, ehe noch die Forderung gestellt werden konnte? Mein Bruder hätte sicher das seinige getan, um dieser leider noch immer festgehaltenen Sitte zu genügen, die ich für ein Verbrechen, für ein Gottversuchen ansehe.«

Frau von Gruber warf ihr einen bösen Blick zu. »Das kommt davon, wenn man jahrelang mit Plebejern verkehrt«, sagte sie, den Kopf zur Seite wendend.

Hedwig ging. Ihr war das Herz sehr schwer, und während sie Anordnungen für ihre Übersiedlung traf, weinte sie eine stille Träne um die andere. Sie fand nicht den Mut, noch einmal in die Augen der Kinder zu sehen, um Abschied von ihnen zu nehmen, die sie so eilig verließ und die sie so liebgewonnen hatte. Daß ihr auf so ruhige, sachgemäße Weise das Scheiden erlaubt werden würde, hatte sie nicht gedacht. Sie hatte gemeint, wenigstens ein Wort des Bedauerns zu hören. Hinterließ denn ihr Gehen keine Lücke? Galt denn ihr treues Walten als so wesenlos? Sie warf plötzlich den Kopf empor. Ein harter, stolzer Zug erschien um ihren Mund – sie hatte wieder einmal die bitterste Erfahrung gemacht, hatte an ein wenig Dankbarkeit geglaubt und – – –

»Gib mir mein altes Zimmer, in dem ich damals wohnte«, bat sie Heinz, der eben eintrat. »Und das Kind nehme ich selbstverständlich mit herüber zu mir. Dich stört es, du mußt Schlaf haben, Heinz.«

185 »Das Kind? Nein«, sagte er ruhig, »Heini bleibt bei mir.«

Sie sah ihn groß an, schluchzte ein paarmal, aber sie schwieg.

»Hede, nimm's nicht übel«, bat er.

»Ich bin traurig, daß ich dir nichts nützen kann, Heinz!«

»Du kannst's, und du sollst jedenfalls hier bleiben, Hede. Du hättest schon immer hierbleiben müssen, es war ja aber leider so – na, du weißt es.«

»Hier sein müssen? Als Müßiggängerin! Das sehe ich nicht ein«, antwortete sie bitter. Sie kämpfte noch mit sich. Heinz sah, sie wollte etwas sagen, aber dann wandte sie sich rasch ab und ging hinaus.

Am liebsten wäre sie sofort wieder in die Oberförsterei geflüchtet, allein das litt ihr Stolz nicht. Man würde sie ja gar nicht vermissen! – Die Karoline habe viel von ihr gelernt – die Älteste sei fast erwachsen – so sagte er ja, der große gelassene Mann. Sie war am Ende schon seit langer Zeit ein überflüssiges Ding gewesen, man hatte sie nur aus Gewohnheit behalten?

Sie ging in die leere, schlecht gelüftete Stube, in der noch nichts daran gemahnte, daß sie wieder hier wohnen sollte, schloß die Tür hinter sich ab und grübelte über ihr armes, inhaltsleeres Dasein, das in seiner ganzen Nacktheit und Öde wieder vor ihr stand, nachdem es ihr ein paar Jahre lang ganz freundlich erschienen war. Alles erborgter Schimmer, den sie für echt genommen hatte! Sie konnte sich nicht erinnern, daß ihr je bitterer zumute gewesen war. – –

Und während die Beteiligten still in dem alten Schlosse ihrem Kummer nachhingen, war ganz Breitenfels in Aufregung über das Geschehnis. Die widersprechendsten Gerüchte tauchten auf. Die einen sagten, der Schloßhauptmann habe seine Frau schon seit Jahren schlecht behandelt; die anderen, sie sei mit seiner Erlaubnis davongegangen; nur wenige entschuldigten ihn und klagten die Entflohene an, aber sie drangen nicht durch. Die Wohnstube der Frau Medizinalrat war vielleicht die einzige, in der nicht davon gesprochen wurde, obgleich dort auch mehrere Damen beim Nachmittagskaffee saßen. Änne sah bleich aus und war sehr still, trotz ihres vorgestrigen neuen Triumphes, den sie im Rathaussaal zu Brendenburg errungen hatte. Dafür war Papa May aber noch ganz selig über seinen Liebling. Auch hatte Mama May ihr Herz höher schlagen gefühlt, als sie die schöne Tochter auf dem Podium stehen sah, von nicht endenwollendem Beifall umrauscht. Beinahe so, hatte sie sich vorgestellt, müsse ihr zumute sein, wenn Änne in der bis auf den letzten Platz besetzten Schloßkirche im Atlaskleid und 186 Schleier vor dem Altar stehe. Und heute, ach, da war Mama Mays augenblickliche Begeisterung schon bedeutend herabgestimmt. Es war alles so ganz anders gekommen, und nur eine ganz leise Hoffnung blieb noch immer – vielleicht fand sich doch einer, der, leichtsinnig genug, eine Sängerin zur Frau nahm!

Sehr schwach war diese Hoffnung allerdings, denn wenn einer ihrer Söhne mit einer Künstlerin käme – oh, sie würde ihn jagen, sie würde ihm den Standpunkt klarmachen! Lieber gleich hängen! Ein Glück würde es ja doch nie. Ach, es ist eine elende Welt! Und die alte Frau sah, während sie in ihrer Kaffeetasse rührte, zu einer üppigen hübschen Dame hinüber, die neben Änne saß, sehr elegant in marineblauen Foulard mit weißen Tüpfelchen gekleidet, und die so beglückt lächelte, als sei Ännes herrliches Talent ihr eigenes Verdienst.

»So kommt doch alles einmal an die Sonne«, sagte Frau May noch zwischen Scherz und Ernst. »Ich hatte bis vorgestern keine Ahnung davon, daß Sie, Fräulein Hochleitner, mit Änne hinter unserem Rücken verkehrt haben, und ich dachte, ich sähe nicht recht, als Sie beide nach dem Konzert auf einmal sich in den Armen lagen. Was wird man nur noch alles erfahren!« klagte sie seufzend.

Und Fräulein Hochleitner lachte die ganze Tonleiter hinauf und herab. »Ach, meine beste Frau Rat, es hat mir ja kan' Ruh 'lassen, bis i das Kinderl auf dem Podium g'sehn hab'. Der Direktor von unserm Theater hat 'flucht und g'wettert, schon nit mehr schön, aber i hab' halt auf dem Urlaub b'standen. – Gelt, Annerl, 's is halt ein altes Versprechen? Ach, und meine beste Frau Rat«, fuhr sie fort, als die alte Dame nicht aufhörte, sauer dreinzuschauen, »und jetzt, wann i nur dürft', i erzählet Ihnen gern noch 'was, damit Sie an anders G'sicht kriegeten, zum Beispiel, wie i amal so heiser 'word'n bin, so ganz plötzli, daß i kan' anzigen Ton rausbracht hab'. Dös war a Remasuri, heilige Mutter Gottes – grad am Hochzeitstag vom Kerkow is's g'wesen.«

Änne nickte ihr zu und lächelte wieder.

»Und wo's jetzt so gut 'gangen is, kann i's ja eing'steh'n, daß i's war, die Ihr Töchterl g'hetzt und g'stoß'n hat auf die Kunstkarrier'! No, i denk', da hab i do 'was Ordentlich's z' stand 'bracht!«

»Ich sollt's meinen«, gab Tante Emilie stolz zu, »denken Sie nur, in acht Tagen singen wir in Leipzig im Gewandhaus.«

Fräulein Hochleitner lachte, daß ihre prächtigen Zahnreihen blitzten. »Singen wir im Gewandhaus! I könnt' mi totlachen 187 – gelt, das Tanterl meint, wenn sie net dabei is, geht's nimmer – grad wie mein Mutterl!«

»Ohne Tante könnte sie freilich nicht reisen«, brummte Frau Rat, »das Umhervagabundieren gefällt mir überhaupt am wenigsten dabei. Eigentlich kann's dir doch auch nicht behagen«, wandte sie sich an ihre Tochter, »bist gar nicht so auferzogen, hast doch wahrhaftig kein Zigeunerblut in dir.«

Änne stand plötzlich auf und breitete die Arme aus, als wollte sie davonfliegen. Aber sie sagte nichts, sie sah nur mit langem Blick über den völlig leeren Schloßplatz, auf den endlos öde der Regen niederprasselte.

»Ja, zu sehen ist hier freilich nichts«, seufzte die Rätin, »aber wenn man sein Hauswesen hat und seine Familie, dann ist's doch schön, überall schön. Und wer das mißachtet – na, ich sag' nur, ich hoffe, sie kriegt noch ihre Strafe.«

Änne sah betroffen die Mutter an.

»Sie meint die Toni Kerkow«, erklärte Tante Emilie.

»Ah so!« sagte Fräulein Hochleitner, »dös soll man wiss'n! Na, meine Meinung is, wenn sich zwei schon nimmer vertrag'n, dann is's besser, das Weltmeer wimmert zwischen ihnen – frei nach Schiller –«

»Es kommt von der Unzufriedenheit«, redete Frau Rat weiter, »keiner will mehr die Schranken anerkennen, die ihm gezogen worden sind, und das ist der Geist der heutigen Jugend. Ihr zwei seid auch nicht besser, Sie nicht und meine Änne nicht – das ist meine Meinung!«

»Na, dös lass' i m'r g'fallen«, lachte Fräulein Hochleitner. »Was fallt Ihnen denn ein, Frau Rat, daß S' mit so scharfe Fidschipfeil' auf uns schießen? Wenn i Ihnen auf die verehrten Zecherln 'tret'n sein sollt', tut's mir leid, mich können S' bald loswerden. Das Annerl aber hat Ihnen doch kein Steinderl in den Weg g'worfen, soll' i denken – im Gegenteil –«

»Nehmen Sie's nicht für ungut«, murmelte Frau Rat, »Sie haben recht.« Dann setzte sie die Tassen ineinander und ging hinaus.

»Was hat denn die Mutter nur?« fragte Änne.

»Ach, die alte Geschichte«, antwortete die Tante. »Vorhin ist die kleine Agnes von Oberförsters dagewesen, heulend und schreiend. Fräulein von Kerkow ist natürlich stehenden Fußes zum Bruder hinaufgeeilt, und die Kinder drüben sitzen wie die Vögel im Nest, denen die Alte weggefangen ist. Der Papa habe seine Büchse genommen und sei trotz des bösen Wetters in den Wald gegangen, gleich nachdem das Fräulein fort war, und der Junge klage über Halsschmerzen – der Herr Rat 188 soll kommen!«

»Lieber Gott«, sagte Änne, »das ist alles sehr traurig, aber dafür kann ich doch nicht!«

»Freilich können S' dafür«, bemerkte Fräulein Hochleitner ärgerlich. »Wenn S' den Wittiber damals g'nommen hätt'n, alsdann wär' ihm jetzt die Seinige net davong'laufen. Jessas, kann denn die Frau Rat dös noch net vergess'n? Sieht s' denn immer noch net ein, daß dös Kind zu 'was Höherem b'stimmt ist?«

»Seien Sie nur gut, Liebste«, beschwichtigte Änne die Erzürnte. »Die Trennung von mir liegt meiner alten Mutter schon wieder im Sinn und macht sie unwirsch. Ich werd' einmal mit ihr reden!« Sie ging die alte Frau suchen und fand sie endlich weinend am Fenster sitzen.

»Mama«, bat das Mädchen, »sei doch gut, laß doch die alten Geschichten. Ich möchte so gern noch ein paar friedliche Stunden zu Hause verleben! Sieh mal, ich kann gar nicht so froh herdenken von draußen, wenn ich dich hier so hab' weinen sehen.«

»Ja, ja,« sagte die Mutter, »es hilft ja auch nichts – hast recht. Aber –« und wieder schüttelte sie der Schmerz, »ich verwind's nicht, ich kann mich nicht hineinfinden in die neumodischen Ansichten, mir ist's, als müßte sich 's Herz umdrehen, wenn dich tausend Augen so angaffen. Du bist mir zu gut dazu. Ich schäme mich für dich und bin froh, daß ich's nicht mit anzusehen brauche, das Bänkelsängerleben.«

»Du bist ungerecht«, sagte Änne verletzt.

»Nein, nein – ich habe dich nur lieb, ich möchte dich vor allen Enttäuschungen behüten und bewahren. Und ich sag', daß es ein Unglück ist, daß du damals den Günther nicht nahmst, für dich und für ihn! Da sitzen nun die Würmer allein, und er läuft aus Verzweiflung im Wald umher.«

»Sei mal vernünftig, Mutter«, bat Änne, vor ihr niederkniend. »Ich gebe dir das Versprechen, wenn ich einmal einen Mann liebhaben werde, dann nehme ich ihn – aber nur dann. Und den Günther habe ich nicht lieb, verstehst du?«

»Doch! Doch! Hast's nur selbst nicht gewußt. Und die Schlange im Paradiese ist die Hochleitner gewesen, die hat dir dummes Zeug eingeblasen – wahrhaftig, ich könnte ihr dafür etwas antun!«

»Du armes, kleines, rabiates Mutterl«, sagte Änne und streichelte sie. »Ach du! Ich möchte dich so gern beruhigen, aber wie soll ich's denn beginnen? Ich kann's nicht, mir ist das Herz selbst so schwer. Komm, sei gut; wir können auf dieser Welt nicht alle desselben Glückes teilhaftig werden, und wir wollen 189 recht dankbar sein, daß ich solch ein großes, ungewöhnliches habe. Siehst du, ich freue mich so, daß Papa nun wieder ein Glas Wein wird trinken können, seinen geliebten griechischen Wein, den er bisher immer von der Frau Herzogin zu Weihnachten bekam, wie heißt er doch gleich? Richtig – Mavrodaphne! Daß du nicht mehr so zu rechnen brauchst mit der Wirtschaftskasse, daß ich den Brüdern ein wenig helfen kann, das alles wäre mir unmöglich, wenn ich als Frau Günther da nebenan säße, Mutter – nicht wahr?«

»Ja, an andere denkst du!«

»Das ist auch ein Glück«

»Aber nicht deines!« rief die alte Frau, von neuem aufschluchzend, und preßte den Kopf des Mädchens in ihren Schoß. »Nicht deines! Und du wirst immer Sehnsucht haben und – und – –« ihre Stimme erstickte in Tränen.

Ach, Änne verstand die Mutter so gut! »Macht mir's doch nicht so schwer!« murmelte sie und drückte sich fester an die Weinende.


Nun war der Sommer vorübergezogen und der Herbst gekommen, ein öder, regennasser, früher Herbst. Verlassener denn je schaute Schloß Breitenfels auf das stille Städtchen herab. Wäre nicht das einsame Licht hoch droben im Erkerzimmer so regelmäßig aufgesprüht jeden Abend, nichts hätte mehr daran erinnert, daß es bewohnt sei. Der Herzog hatte in diesem Jahre auch die Jagden abbestellt. Er weilte in Cannes mit seinem brustkranken Sohn, und die Patrioten des Herzogtums Breitenfels saßen abends an ihrem Stammtisch und redeten von der Zeit, wo sie preußisch werden würden. Sonst war alles beim alten, nur die bejahrte Hofdame war gestorben, an einem der letzten heißen Augusttage hatte sie der Tod ereilt. Nach der üblichen Frist war sie mit allem von ihr gewünschten Pomp begraben worden drunten auf dem Kirchhof. Aber nicht da, wo alle bunt durcheinander lagen, wie sie gerade starben, nein, Frau von Gruber hatte ihre letzten Sparpfennige dazu bestimmt, an der Mauer beerdigt zu werden, in welche eine wappengeschmückte Sandsteintafel über dem Hügel eingelassen wurde. Ganz »deplaciert« wollte sie auch im Tode nicht sein, wenn ihr auch einst die Familiengruft verkauft worden war mitsamt dem Stammschloß!

Bei dem Begräbnis hatten die Breitenfelser den Schloßhauptmann zum letztenmal gesehen; daß er überhaupt noch lebte, das merkte man nur noch daran, daß seine Lampe dort oben 190 über ihnen brannte. – Auch der Oberförster sah Abend für Abend das Licht. Er saß länger denn je in seiner Stube und ging nicht mehr in der Dämmerung zu seinen Kindern, um sie singen zu hören. Sie sangen auch nicht mehr, es war ja niemand da, der ihnen dazu spielte! Mitunter überkam den großen starken Mann eine wahnsinnige Angst und Unruhe, eine Ungeduld, ein Zorn, der ihn ungerecht machte gegen seine Umgebung, gegen sich selbst, so daß er die Mütze von der Wand riß und hinauslief, stundenlang wie sonst auch, nur daß er nicht mit Frieden im Herzen heimkehrte. Der Wald hatte seine beruhigende Sprache für ihn verloren.

Mitten aus dem Rauschen, aus dem feierlichen Flüstern glaubte er dann plötzlich eine ruhige, klare Frauenstimme zu hören, wie er sie tausendmal gehört hatte während der letzten Jahre. Und er stierte auf die Wege, als könnte er dort den Abdruck eines schmalen Frauenfußes entdecken, wie er ihn vor seiner Haustür gefunden hatte an jenem Abend, da sie zu ihm kam, um sein verwaistes Hauswesen zu übernehmen. Und wenn er heimkehrte, müde und abgespannt, dann öffnete er rein mechanisch die Tür der Wohnstube und schaute nach dem Fenstertritt, auf dem eine feine Gestalt sonst gesessen, die Jüngste neben sich – da aber stand der leere Stuhl. Und die Uhr an der Wand tickte auch nicht, und die Blumen am Fenster hingen die Köpfe. In den Ecken oder am Tisch lümmelten müßig die Kinder umher oder balgten sich im Garten, und die Hunde hatten es sich wieder bequem gemacht auf dem Sofa und fuhren scheu mit eingezogener Rute an ihm vorüber, obgleich er nicht daran dachte, sie zu strafen.

Er seufzte nur und nahm der Ältesten das Buch fort, an dem sie sich einen roten Kopf geschmökert hatte, und hieß sie mit barschen Worten sich um die Geschwister kümmern. Dann ging er in seine Stube, wo er sich vor seinen Arbeitstisch setzte, aber nichts arbeitete. Er hatte hier so gern geweilt, namentlich zu der Zeit, als er sein Hauswesen in Zucht und Ordnung wußte, und nie hatte er daran gedacht, daß es anders werden könnte, so ein törichter alter Patron war er gewesen!

Nun war es anders geworden, und der Doktor May hatte zu ihm gesagt, er müsse wieder eine Dame haben. Ob seine Frau ihm eine engagieren solle? Die Kinder verkämen ja reinweg!

Nein, nein, er wollte es nicht, er könnte keine andere da sitzen sehen auf dem Platz am Fenster! Es müßte so gehen, es müßte! Ostern würde die Agnes konfirmiert, dann komme ihr auch wohl der Verstand mit dem Amte. –

191 Merkwürdig, daß Hede Kerkow nie wieder heruntergekommen war! Die Kinder ließ sie sich zwar zuweilen hinaufholen, und dann kamen sie ordentlich gekämmt und ausgeflickt wieder. Er selbst hätte es nicht gemerkt, aber die Karoline sagte es, und die Karoline schickte dann auch höchst ungeniert die zerrissenen Höschen, Röckchen und Strümpfe der wilden Rangen durch Agnes zu Fräulein Kerkow, denn dazu habe sie keine Zeit, behauptete sie: und seit ein paar Tagen stieg das Jüngste jeden Morgen um zehn Uhr hinauf und wurde von Tante Kerkow in der Kunst des Lesens und Rechnens weiter unterrichtet, das heißt, es machte seine Schulaufgaben droben unter ihrer Aufsicht, wie bisher in der Kinderstube unten, nur besser.

Heute war des Oberförsters Geburtstag. Er selbst hatte nicht daran gedacht, aber der Strauß Astern und bunter Waldblätter, der auf dem Kaffeetisch stand, erinnerte ihn daran, und ebenso die feierlichen erwartungsvollen Gesichter der Kinder, deren jedes sein Verschen sagte; Tante Kerkow hatte sie ihnen eingeübt.

Es ward ihm sonderbar zumute, und der Dank wollte nicht recht aus der Kehle. Er mußte an die Geschichte mit Änne denken. – – Einmal in seinem Leben war ein Sturmwind über ihn gebraust, hatte ihn in heißer Leidenschaft geschüttelt und gebeugt, und da – – nein, das würde er nie verwinden, das würde ein wunder Fleck bleiben zeitlebens! Und neben diesen Erinnerungen her lief ein anderes Gefühl, etwa als kühle ein linder Hauch diesen wunden Fleck, daß er ihn zuweilen doch vergessen konnte, und der Hauch ging aus von dem Walten, dem bescheidenen, fast unsichtbaren Walten eines gebildeten, verständnisvollen Wesens, das ein Zufall ihm ins Haus geführt hatte, das wie der gute Geist selber in seinen vier Pfählen geherrscht hatte!

Es war ihm nie der Gedanke gekommen, sie zu fesseln für immer, er kam ihm auch heute nicht, er hätte nicht den Mut gehabt, die Hand nach der Edeldame auszustrecken – er verehrte sie andächtig, aus der Ferne, als guten Engel seines Hauses. Und nun, seit sie ihn verlassen hatte, wuchs ihm ein sonderbares, starkes Verlangen in die Seele hinein, daß er nichts denken konnte als das eine: ohne sie geht es gar nicht, ist es kein Leben! Und er sah sie beständig da drüben wieder sitzen am Fenster, die Kinder um sich – es war zum Verzweifeln, rein zum Verzweifeln!

Er lachte über sich und schüttelte den Kopf, daß die Kinder verwundert aufhorchten und sich mit den Ellenbogen stießen ob des Vaters sonderbaren Wesens. Und dann fuhr er aus 192 seinem Brüten empor und strich dem stämmigen Buben über den Kopf. »Nun, was kann ich euch denn heute Gutes tun, damit ihr merkt, daß mich eure Gedichte erfreut haben?«

Sie sahen sich untereinander an und schwiegen.

»Wollt ihr Schokolade und Brezeln? Die Karoline soll sie euch nachmittags bringen.«

Sie schüttelten die Köpfe, und die beiden Jüngsten drängten sich an die Älteste und der Junge wisperte ihr etwas zu.

»Tante Hede soll wiederkommen, wir haben solche Sehnsucht nach ihr!« platzte der langaufgeschossene Backfisch endlich los, und die Tränen schossen ihm in die blauen Augen. »Wir haben Sehnsucht!« echoten die beiden anderen, und der Junge erklärte altklug: »'s ist ja gar kein Leben mehr, das hat Karoline auch gesagt!«

Der Oberförster stand auf und trat von seinem Häuflein fort, er mochte sie nicht sehen in ihrem kindlichen Jammer. »Tante Hede muß den kleinen Heini jetzt pflegen, der hat keine Mutter mehr«, sagte er gepreßt.

»Wir haben auch keine Mama«, rief die Jüngste schmollend.

»Aber ihr seid nicht die Verwandten der ›Tante‹; der Heini ist ihr Neffe und ist krank, das müßt ihr bedenken.«

»Wenn sie nicht wiederkommt, werde ich aber auch krank!« trotzte der Junge.

»Vielleicht schenkt uns die Tante einen Nachmittag und trinkt Kaffee mit uns! Geht alle drei hinauf und bittet sie darum«, schlug er vor. Und die Eile, mit der sein Vorschlag ausgeführt wurde, ließ ihn trübe lächeln. Er verfolgte die Kinder, am Fenster stehend, mit seinen Blicken. Sie sprangen den Schloßberg hinauf, wie losgelassene Füllen, und er stand da noch, als sie wiederkamen mit hängenden Köpfen. Und er, der Vierzigjährige, hatte Herzklopfen wie ein Gymnasiast.

Sie fingen alle drei zugleich an zu reden: »Sie kommt nicht, Vater, Tante kann nicht – hier ist ein Brief, Vater!«

Sie will nicht! dachte er niedergeschlagen – aber warum? Er nahm das Schreiben und ging hinüber in seine Stube. Ihre Visitenkarte fiel ihm entgegen, unter zierlich gestochenem Wappen der Name: Hedwig von Kerkow, und dazu geschrieben: »wünscht herzlich Glück zum heutigen Tage!«

Hätte sie doch lieber gar nicht gratuliert! dachte er und das Blut schoß ihm in die Stirn. Er legte das Blättchen auf die Spiegelkonsole und rückte näher zu seinen Büchern und Papieren, um sich in die Arbeit zu vertiefen. Die Älteste trat nach einer ganzen Weile herein und schlich zu ihm. »Tante Hede sagt, sie wäre selbst gekommen, aber sie kann leider nicht 193 fort. Sie hat gerad den Diener schicken wollen mit der Karte.«

»So, so!« nickte er. »Ich kann euch nun nicht helfen, ihr müßt eure Schokolade ohne Tante trinken.«

»Vater, ich glaube, Heini muß sterben«, begann das Kind von neuem, »Tante Hede sah so bleich aus und war so traurig!«

»Erzählte sie euch das?«

»Nein – ich denke nur so. Und sie hat uns alle geküßt und gesagt, wir sollten sehr artig sein heute.«

»Dann seid es nur auch«, mahnte der Oberförster. »Zur Schokolade komme ich hinüber, heute nachmittag.«

Das Kind ging. Der Vater warf die Feder fort und starrte vor sich hin. Hatte er ihr eigentlich etwas zuleide getan? Er grübelte und grübelte, aber er fand nichts. – Sie hatte fort gewollt, und er hatte als ehrlicher bescheidener Mensch seine Wünsche den ihrigen nachgesetzt. Nicht einmal zu sagen hatte er gewagt: »Das geschieht mir zu großem Leid!« Er hatte einfach gesprochen: »Wenn das so liegt, darf ich Sie nicht zurückhalten.« Er kam gar nicht darauf, der gute einfache Mensch, daß seine Bescheidenheit mißverstanden werden konnte.

Also er fand nichts, er glaubte nur, sie habe ihren alten Stolz hervorgesucht, nun, da es ihr möglich war, wieder standesgemäß zu leben, und – – na ja, die Pflege des kranken Würmchens. – Den Nachmittag vergaß er die festliche Schokolade und mußte erst geholt werden. Und die Kinder mochten das Getränk nicht, denn Karoline hatte es anbrennen lassen. Mariechen warf ihre Tasse um und begoß sich von allen Seiten. Es war kalt und ungemütlich im Zimmer und der Junge heulte über Zahnschmerzen. Der Oberförster verlangte Karoline zum Heizen. Die Älteste ging in die Küche, um diesen Wunsch des Vaters zu melden. Die vielgeplagte Karoline aber war schlechter Laune und schimpfte entsetzlich, daß sie vom Aufwaschfaß fort sollte, es sei eine heillose Wirtschaft jetzt im Hause, und sie könne das bald nicht mehr aushalten, und wenn einer Witwer sei und habe Gelegenheit zum Heiraten und er tue es dann nicht, so sei das – »dumm!« Und der droben könne ja eine Pflegerin halten für sein krankes Kind. Wenn seine Schwester die Frau Oberförsterin nun schon gewesen wäre, dann hätte er sie ja auch nicht können so ganz einfach hier wegholen und hätte sich eine andere suchen müssen. So 'ne Wirtschaft, wie die Wirtschaft jetzt hier sei, das wär' ja, um auf die Bäume zu klettern!

Der Backfisch kam ganz blaß wieder ins Wohnzimmer. Sie stand zuerst hüstelnd umher, setzte sich dann auf den verlassenen Fensterplatz und betrachtete ihren Vater, der, die eine Hand 194 auf dem Rücken, mit der andern den leise weinenden Jungen führend, auf und ab schritt, als sähe sie ihn in ihrem Leben zum erstenmal.

»Vater«, sagte sie endlich, »Karoline ist böse auf dich.«

»So? Warum denn?«

»Sie sagt, du hättest Tante Kerkow man heiraten sollen, dann wäre die ganze Ravage nicht.«

Er stand plötzlich still und starrte das Kind an. Eine jähe Röte war in sein Gesicht geschossen, und er hatte eine heftige Antwort auf der Zunge. Aber er beherrschte sich, ließ den Jungen los und ging mit wuchtigen Schritten aus dem Zimmer.


»Einer nach dem andern«, sagten die Leute in Breitenfels; »von der alten Garde oben im Schloß ist nächstens keiner mehr da!«

Nun war auch der alte Medizinalrat an die Reihe gekommen.

In der Adventszeit hatte er die müden Augen geschlossen. »Ein schöner Tod!« sagten die Leute. Der alte Herr war vormittags noch auf dem Schloß gewesen bei dem kleinen Kerkow, hatte sich nach dem Mittagessen auf das Sofa gelegt, und als er gar so lange geschlafen hatte, war die Frau Medizinalrätin hinübergekommen, um ihn zu wecken. Aber er schlief so fest, der wackere Mann, daß ihn weder der tränenlose Schrei der Frau, noch der Jammer der jungen Magd aufzuwecken vermochte.

Ein Kollege hatte an die Kinder telegraphiert, und Hede Kerkow war heruntergekommen vom Schloß und die Nacht über bei der ganz gebrochenen alten Frau geblieben. Ob sie denn abkommen könne, hatte der Oberförster sie gefragt, der am andern Morgen erschien, um sich zu erkundigen, ob er irgend etwas tun könne für die alte Frau, und um sich zu entschuldigen, daß er nicht gestern bereits gekommen sei; er habe jedoch erst heute die Trauerkunde erfahren, da er gestern nicht daheim gewesen sei.

»O ja!« hatte Hede geantwortet, gleichgültig und kurz.

Sie sahen sich seit langer Zeit zum erstenmal wieder. Es war in der Eßstube der Frau Rat, die wie ein Steinbild im Lehnstuhl saß und nur von Zeit zu Zeit fragte: »Wie spät ist es denn? Änne sollte um zwei Uhr auf der Station eintreffen.«

Der Oberförster sah Hede Kerkow scheu von der Seite an. Das trübe Licht des Dezembertages zeigte ihm ein ganz 195 verändertes, vergrämtes Gesicht, die heitere wohltuende Ruhe war verschwunden, es lag etwas Gespanntes darin. Auch die Bewegung der Hand – sie strich wie gedankenlos die Rechte der alten Frau, die schlaff über die Lehne des Stuhles hing – war nervös.

In diesem Augenblick erschien das Mädchen und meldete, es könne keinen Wagen auftreiben, um das Fräulein abzuholen, alles sei zur Holzauktion und die feinen Kaleschen hätten Ballfuhren auf den Abend.

»Ich werde es Heinz sagen, Frau Rätin, sein Wagen kann fahren«, erklärte Hede Kerkow.

»Ach Gott«, jammerte die alte Frau, »gibt es denn keinen, der sich erbarmt und sie darauf vorbereitet, daß ihr Vater schon tot ist? Sie weiß ja nur, daß er schwer erkrankte!«

»Doch, Frau Rätin, ich will mitfahren.« Hede nahm ihren Mantel wieder um und ging. –

Heinz lehnte im Sofa und las ein Aktenstück, das Erkenntnis des Gerichtes – seine Ehe war geschieden! Heini, der einen größeren Fahrstuhl bekommen hatte, saß, von Polstern unterstützt, aufrecht und malte mit der linken Hand Buchstaben auf eine Schreibtafel, die rechte konnte der kleine Kerl nicht gebrauchen. Hede trug kurz ihre Bitte vor, und der Bruder bestellte sofort das Anspannen.

»Möchtest du das arme Mädchen nicht abholen?« fragte Hede, nachdem der Diener gegangen war, »ich fühle mich so abgespannt«, setzte sie zögernd hinzu. In Wahrheit wollte sie ihn aufrütteln aus seiner Lethargie.

»Fräulein May abholen? Ich? – Nein! eine Frau versteht es besser, derartige Mitteilungen zu machen. – Ich – ich bitte dich, verlange das nicht!« antwortete er.

Er starrte sein Aktenstück wieder an, verschloß es dann in seinen Schreibtisch, ergriff eine Zeitung und begann zu lesen. So tat er immer, wenn er allein zu sein wünschte.

»Verzeih mir!« murmelte sie, strich noch einmal über Heinis Blondhaar und verließ das Zimmer.

Heinz sah sie abfahren vom Fenster aus, aber er dachte kaum noch an den traurigen Zweck dieser Fahrt. Er war ein ganz gebrochener, fast stumpfsinniger Mensch geworden – und das wußte er selbst am besten, er – für den es nur noch ein Lebenswertes auf der Welt gab, das Kind. Von heute an war er ein freier Mann, aber er wußte nichts mehr anzufangen mit dieser Freiheit. Und wenn er auch die Energie noch gehabt hätte – das Kind durfte er doch nicht mit 196 hinaus nehmen in das ungewisse Leben, in die weite Welt, wo er einen Platz sich erst suchen mußte, der seinen Neigungen entsprach, aber auch seinen Kräften, seinem Können. Es ist heutzutage wahrhaftig nicht leicht, etwas zu finden, und er hatte ja auch in diesem erzwungenen Müßiggang die Kräfte erlahmen lassen.

Das Kind würde nie gesunden, aber Doktor May hatte noch bei seinem letzten Besuche gestern gesagt, er habe eine Rassekonstitution, der Kleine, er werde leben bleiben, und vielleicht, wenn die chronische Entzündung vorüber sei, könne man es versuchen, ihn das Gehen an Krücken zu lehren. Und dann hatte er Heinz auf die Schulter geklopft und hinzugefügt: »Er kann Ihnen auch so Freude und Ehre machen, er hat Kopf, er denkt. – Man muß immer auf Überraschungen gefaßt sein im Leben; hätt' 's auch nicht geglaubt von meiner Änne, daß sie mal – na – – guten Morgen, Herr von Kerkow!«

Heute lag der gute alte Mann dort unten starr und kalt! –

Und Änne kam nach Hause, an sein Totenbett, Änne, die es zu etwas gebracht hatte im Leben. Heinz aber las, seitdem ihr Name in den Blättern genannt wurde, nie mehr die Rubrik »Kunst und Wissenschaft« in der Zeitung. Dies junge zarte Mädchen hatte ihn beschämt. Aus eigener Kraft hatte sie sich losgerissen von einem Mann, den sie nicht liebte, hatte sich trotzig auf ihre kleinen Füße gestellt mit einer Sicherheit, die staunenswert war. Ebenso arm und aussichtslos wie er, hatte sie es gewagt, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen und – hatte gesiegt. Er war tot, lebendig tot! Und dazu bemächtigte sich seiner in dieser Einsamkeit zu zweien – er und das kranke Kind – eine unheimliche Angst. Er dachte beständig an die Schwester im Irrenhause, und dann kamen Stunden – furchtbare Stunden – die er mit sich allein durchkämpfte, denn Hedwig mochte er nicht ängstigen durch den Gedanken, daß auch er –

Das Mädchen tat ihm so leid, aber er verstand sie nicht mehr und sie nicht ihn. Sie war womöglich noch niedergedrückter als er. Im Anfang hatte sie noch versucht, ihn zu ermuntern, hatte ihm dies und jenes vorgeschlagen. Ohne es zu wissen, bereitete sie ihm damit nur eine unerträgliche Pein. So knüpfte sie einmal ihre Ratschläge an seine dichterischen Neigungen, denen er sich bereits als Kadett hingegeben hatte. Ob er die Verse noch habe, die er zuweilen heimgeschickt, fragte sie ihn. Sie bewahre mehreres davon auf – ob sie es einmal an ein literarisches Blatt senden dürfe? Sie sei überzeugt, es werde reüssieren.

Er hatte darauf gelacht wie toll, so toll, daß ihm die 197 Tränen in die Augen getreten waren, hatte sie auf die Schulter geklopft und gesagt: »Guter Kerl, gib dir keine Mühe!«

»Wenn du die Verse gleich illustriertest«, war ihre schüchterne Einwendung gewesen.

»Weiter nichts? Na, laß nur gut sein, mir tut der Kopf weh vom Lachen!«

Und er sah sie an mit einem Blick, in dem so viel Schmerz und Pein lagen, daß sie erschrocken schwieg.

Ach, diese Öde! Diese Wüste, die vor ihm lag, vor ihm, dem Schloßhauptmann von Kerkow! Wenn endlich die Zeit um sein würde und seine Kräfte verbraucht, dann pensionierte man ihn wahrscheinlich mit dreihundert Talern. Das einzige, was ihn noch retten könnte, war ein Krieg, aber trotz all dem Revanchegeschrei von drüben und aller sonstigen drohenden Anzeichen – es blieb Friede.

Gott sei Dank, mochte er bleiben! Um einer verpfuschten Existenz aufzuhelfen, dazu waren doch schließlich die Kriege nicht da! Und dann das Kind, und wieder das Kind! Hede besaß solch komische Art, mit dem kleinen Menschen umzugehen, der die ganze verbitterte, gleichgültig ironische Art des Vaters angenommen hatte. Sie wollte ihn behandeln wie die pausbackigen Oberförsterskinder, die noch an Märchen glaubten. Heini liebte die Märchen nicht, »denn ich weiß besser, daß es keine Zauberer gibt, es geht alles natürlich zu«, erklärte das fünfjährige Kind. »Es gibt auch keine guten Feen, denn wenn's solche gäbe, hätte Papa eine zu mir geschickt, die mich gesund machen könnte.« Er wollte von Tante Hede »wirkliche Geschichten«, und die Qualen, die der Dauphin von Frankreich erlitten, konnte er immer wieder hören. »Seinen Papa hat man geköpft«, sagte er, »ich habe meinen Papa. Der kleine Ludwig war viel schlimmer dran als ich, Tante Hede, und war doch ein Prinz!«

Die Tante, die aus der gesunden Kinderstube des Oberförsters kam, fror es in dieser Atmosphäre von Krankheit, Resignation und Altklugheit. Und doch, das Kind hatte so rührende Züge! Um seinen Vater nicht zu stören, konnte es stundenlang Schmerzen erleiden, ohne zu klagen, konnte ein Übelbefinden geradezu verheimlichen. Seitdem Heinz Kerkow von seiner Frau verlassen war und sich gewöhnt hatte, stundenlang in dumpfem Brüten zu verharren, eine Zigarre nach der andern dabei rauchend, hatte das Kind eine zärtliche Rücksicht für ihn, so, als sei der große Mann der Kranke, der gepflegt und geschont werden müßte.

»Warum hast du die Dame nicht abgeholt, Papa?« fragte 198 er jetzt plötzlich, »und was ist denn das für eine traurige Mitteilung, die du ihr nicht machen willst?«

Heinz kam zu seinem Sohn herüber und faßte seine Hand. »Mein Junge, du mußt es ja auch wissen«, sagte er, »dein guter Onkel Doktor ist gestorben. Er war alt und müde und ruht nun aus – das ist der Lauf der Dinge.«

»Der Lauf der Dinge«, sprach Heini nach. »Als Großtante Gruber starb, sagtest du das auch.«

»Ja, Heini, das Leben macht müde. Das Alter ist der Abend, und wenn die Nacht kommt, schlafen wir.«

Heini nickte. »Ich bin sehr traurig, Papa; ich hatte ihn lieb.«

»Ich auch, Heini, sehr lieb. Und nun kommt seine Tochter, und Tante Hede sagt's ihr, daß ihr alter Papa schläft.«

»Kennst du die Tochter, Papa?«

»Heinz streichelte das Blondköpfchen. »Ja, mein Junge, und du kennst sie auch.«

»Nein, Papa.«

»Doch, Heini. Sie hielt im Sommer das Glas Milch, damit du trinken solltest – erinnerst du dich?«

»Ja. Nun wird sie wieder weinen. Du hättest hinfahren sollen, Papa.«

»Nein, Heini, ich mag nicht sehen, wenn sie weint.«

»Kannst du sie denn nicht leiden?«

Heinz blieb die Antwort schuldig. – Nach Tisch, als der Kleine schlief, stand er wieder am Fenster und wartete auf die Rückkehr des Wagens. Er hatte auch den Schloßgärtner holen lassen und ein paar Palmenzweige bestellt, die schönsten, die da waren. Dann fiel ihm ein, daß er zum Begräbnis gehen müsse – Begräbnisse boten jetzt die einzige Abwechslung in seinem Leben – und da würde er Änne sehen. Vielleicht schloß er sich auch erst auf dem Kirchhof an, vielleicht auch vermißte man ihn gar nicht!

Endlich sah er den Wagen heraufkommen längs der Parkmauer, sah ihn über den Schloßplatz rollen und vor dem Hause des Medizinalrats halten. Eine Gestalt stieg aus und verschwand in der Haustür, der Wagen wandte um und fuhr langsam den letzten steilen Weg hinan.

Änne war heimgekommen! Arme Änne, sie hatte den alten Mann so kindlich geliebt und verehrt!

Hede trat bald darauf in das Zimmer, sie hatte verweinte Augen und gab ihm stumm die Hand.

»Sie läßt dir danken für den Wagen«, sagte sie endlich. »Wie ist es euch ergangen unterdes? War der Tisch ordentlich besorgt?«

199 »Ich glaube – ja – es war alles in Ordnung.«

»Dann auf Wiedersehen beim Tee, ich will ein wenig ruhen.« Sie ging in ihr Zimmer.

Sie war Änne zum erstenmal begegnet, und die Erscheinung des jungen Mädchens, der Zauber ihres Wesens hatte sie gleich gefangengenommen wie die angstvolle Frage in den großen feuchten Augen, als sie ihr entgegentrat, wie die schlichte, gefaßte Art, mit der sie die bittere Nachricht aufnahm.

»Meine arme Mutter«, hatte sie gesagt mit einem Aufschluchzen, und dann mit ihrer halb heiseren Stimme zum Kutscher: »Nicht wahr, Sie fahren recht schnell?« Und während des ganzen Weges nur noch einmal: »Haben Sie meine Mutter gesehen? Bekümmert sich denn jemand um sie? Ach, wäre ich erst daheim!«

»Günther befand sich bei ihr, als ich sie verließ«, hatte Hede erwidert, aber sehr gepreßt.

»Ach, das ist gut, das ist gut!« war die Antwort gewesen, und erst dann kamen die Tränen geflossen.

Ja, was war sie neben diesem Mädchen, sie, die arme Hede Kerkow mit ihren fünfunddreißig Jahren? Er hatte jene geliebt, er liebte sie noch, und sie wunderte sich, daß er andre nicht bemerkte!

Es war etwas wie Ruhe über sie gekommen, die Ruhe, die man einer unabänderlichen Tatsache gegenüber empfindet, ein Strich unter alle ihre törichten Wünsche und Hoffnungen, die sie sich selbst kaum eingestehen mochte. Nur eines sollte die Vorsehung ihr gewähren – daß sie Heinz dem Leben wiedergewinnen könne.



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